1. Ein neuer Fall

Es war einer jener typisch grauen, farblosen, nebelverhangenen Londoner Oktobertage. Aus dem Fenster des ersten Stockes der Baker Street 221b sah ich herunter auf die Strasse. Nur schemenhaft konnte man das dortige Geschehen erkennen. Vereinzelt rumpelte eine Kutsche über das unebene Kopfsteinpflaster; ab und an sah man eine Gestalt mit hochgeklapptem Mantelkragen über die nur spärlich beleuchtete Strasse huschen. Es war kalt und ungemütlich und doch stand im Hauseingang gegenüber eine Person. Offenkundig abwartend und unschlüssig.

„Holmes" ?

Die nur im Umriss zu erkennende Gestalt hatte mich neugierig gemacht. Gerade wollte ich zu einer Frage ansetzen, als Sherlock Holmes mir antwortete

„Mein lieber Watson, nein, ich erwarte in der Tat keinen Besuch"

Wieder einmal hatte Holmes durch seine vorzügliche Beobachtungsgabe vorweggenommen, was ich zu fragen beabsichtigte. Es war ein Spiel, das er gerne mit mir spielte. Doch ich hatte aufgehört mich über die besonderen Fähigkeiten meines Freundes zu wundern. Durch Blickrichtung, Blicklänge Mimik und Körpersprache konnte er je nach Situation das innere Geschehen seines Gegenübers abschätzen. Eine faszinierende Gabe, die manchesmal bereits als übersinnlich fehlinterpretiert wurde und in jedem Fall IMMER für eine Überraschung gut war.

Mithin hatte er erkannt, dass ich gegenüber unserem Hause irgendwen beobachtete und hatte durch meine ansetzende Frage das Richtige rückgeschlossen.

„Vielleicht interessiert sich ja ein Kunstkritiker für Deine neu entdeckte Leidenschaft und möchte einen Blick auf die mühevoll zusammengetragenen Gemälde werfen, die nun so unkonventionell unseren Wohnraum verzieren!"

Mein Tonfall war spöttisch. In Ermangelung einer angemessenen kriminalistischen Herausforderung hatte sich mein detektivischer Freund nämlich neuerdings einem Hobby verschrieben, welches den Komfort unserer Behausung nun doch ein wenig einzuschränken begann. Seit 2 Wochen wanderte im Wochenturnus ein Ölgemälde nach dem anderen in die Bakerstreet. Ob der Lethargie meines Freundes Sherlock Holmes in Sachen Ordnungsliebe stapelten sich die mit schweren Rahmen verzierten Bilder nun übereinander.

„Spar Dir Deinen Sarkassmus, Watson. Liefere mir lieber eine Beschreibung der Person, der Dein offenkundiges Interesse gilt"

„Zu spät"

Der Mann hatte sich während meines kleinen Disputs mit Holmes bereits in Bewegung gesetzt und stand nun direkt vor der Eingangstüre unseres Hauses. Im gleichen Moment ertönte die Hausglocke. Kurz Zeit drauf klopfte unsere Vermieterin Mrs. Hudson an die Tür unseres Wohnraums um uns den Unbekannten anzukündigen

„Mr. Holmes, Dr. Watson, ein Herr, der leider nicht bereit ist mir seinen Namen zu nennen, möchte Mr. Holmes sprechen. Es sei eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit, die keinen Aufschub dulde, da es um Leben und Tod gehe. Der Herr besteht darauf, Sie umgehend sehen zu dürfen."

Mrs. Hudson merkte man die Verlegenheit an den Detektiv und mich in unserer gepflegten Zurückgezogenheit stören zu müssen.

„Danke Mrs. Hudson. Wenn der Herr sich denn nun gar nicht abwimmeln lässt, so bitten Sie ihn herein"

Holmes machte keine Anstalten, sich vom Canape zu erheben. Seine Pfeife schmauchend lag er, die Beine ausgestreckt, den Oberkörper aufgerichtet völlig entspannt da und harrte der Dinge, die nun geschehen würden.

Der Mann trat ein. Er war hoch gewachsen. Sein scharf gezeichnetes Gesicht mit dem leicht nach vorn fliehenden Kinn verriet einen energischen Charakter. Seine Kleidung sowie der aristokratische Habitus identifizierten den Besuch als Mitglied eines hohen Standes.

Ohne sich seine Verwunderung über den ungehörigen Empfang durch Sherlock Holmes anmerken zu lassen, ging er auf diesen zu und überreichte ihm seine Visitenkarte. Mich bedachte er eines eindeutig abschätzenden Blickes.

Holmes nahm flüchtig Notiz von der ihm gereichten Karte und bekundete dem Besucher Platz zu nehmen.

„Ich bin gespannt, welche Entschuldigung Sie vorzubringen gedenken, angesichts der Tatsache hier so ungestüm aufzutreten", sagte Holmes nicht ohne seiner Stimme eine ausdrückliche Missbilligung zu verleihen. „Es steht außerhalb jeder vertretbaren Gepflogenheit, mich ohne Vorankündigung aufzusuchen. Ihr Verhalten gegenüber meiner Haushälterin tut ein Weiteres dazu, Sie als ausgesuchten Rüpel auszuweisen. Ich bitte um eine Erklärung".

Unser Besucher, der sich auf Holmes Wink bereits in den großen Ohrensessel niedergelassen hatte, sprang auf. Nur mit Mühe, dies konnte man erkennen, war er im Stande seinen aufkommenden Zorn zu beherrschen.

„Werter Mr. Holmes", die Stimme des Mannes bebete „ich suche Sie in einer sehr delikaten Angelegenheit auf, deren Behandlung eines äußerst diskreten Umganges bedarf". Sie mögen dies bitte als Entschuldigung anerkennen".

„Bevor ich mich erkläre, möchte ich Sie bitten alles hier Besprochene unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu behandeln".

Der Mann warf einen skeptischen Blick in meine Richtung.

Holmes hatte sich bei den Worten des Mannes aufgesetzt. Nur wer ihn wirklich gut kannte, konnte erkennen, dass das zum Ausdruck gebrachte Desinteresse rein gespielter Natur war. Im inneren brannte der Detektiv darauf, die Geschichte unseres Besuchers zu hören.

„Mein Freund Dr. Watson wird wie auch ich selbst solange es Ehre und Gewissen zulassen die Angelegenheit mit einem Höchstmaß an Diskretion behandeln. Dafür verbürge ich mich"

Nach Holmes Einlassung setzte sich der Mann zurück in den Ohrensessel und begann damit uns seine mysteriöse Geschichte vorzutragen:

„Mein Name ist Sir William Edwin Shalton. Ich habe mich auf Empfehlung des Lords Backwater eingefunden, der Sie mir, Mr. Holmes, als Kriminalisten mit ausgeprägtem Scharfsinn und loyaler Verschwiegenheit empfahl".

„ Ich bekleide den Rang eines Legationsrates und bin in dieser Funktion für das auswärtige Amt des britischen Empires tätig ."

„Meine Geschichte beginnt am Freitag in der letzen Woche.

Um 7 Uhr dreißig verließ ich am Morgen mein Landhaus in Windleshore in der Grafschaft Burkshire. Eine Depesche hatte mich am Vortag erreicht und für den 7. Oktober 1887 um 10 Uhr nach London in das Ministerium des Auswärtigen verpflichtet. Der Vorgang als solcher ist mir nicht ungewöhnlich., denn ich werde angelegentlich zu besonderen Missionen bestellt. Also mietete ich mir eine Droschke, die sich am Morgen auch pünktlich vor meinem Hause einfand. Mit knappen Worten teilte ich dem Kutscher das Ziel meiner Reise mit. Dies ohne besonders Notiz von Gestalt oder Auftreten des Kutschers zu nehmen. Dafür gab es keinen Anlass.

Die Fahrt nach London verlief ungestört. Am Ziel angekommen, entstieg ich der Kutsche und wandte mich zwecks Bezahlung dem Fahrer zu. Sie können sich meine Verwunderung vorstellen, als der Mann mich nicht zum Bezahlen meiner Schuld kommen ließ. Statt dessen machte er eine abwehrende Handbewegung und flüsterte mir mit verschwörerischer Miene folgende Worte zu:"

„Seien Sie auf der Hut, Sir Edward. Etwas Fürchterliches wird Ihnen widerfahren".

„Ich war so perplex, dass ich zu keiner vernünftigen Reaktion fähig war. Ich hätte den Mann packen und ihn zur Polizei bringen oder ihn selbst ob seiner mysteriösen Andeutung mit einer Handgreiflichkeit zur Abgabe einer Erklärung veranlassen sollen. - Nichts davon tat ich."

„Nachdem der Mann mir diese Worte zugeraunt hatte, peitschte er die Pferde an und fuhr wie ein Verrückter des Weges davon. Ich muss zugestehen, dass mich dieses Ereignis nun zunächst doch weniger beunruhigte als es vielleicht ratsam gewesen wäre. Schließlich hatte ich gleich dem Minister Rede und Antwort zu stehen. Ich tat den Vorfall also als eine blöde Spinnerei ab und begab mich ins Ministerium".

„Mit der eigentlichen Vorsprache beim Minister waren die Gedanken an den seltsamen Vorfall dann auch bereits wieder verblasst."

„Ich erhielt meinen Auftrag und machte mich – erneut per Droschke – auf den Weg zurück nach Hause. Sie dürfen versichert sein, Mr. Holmes, dass ich mir diesmal den Kutscher ganz genau ansah.

Natürlich war es NICHT derselbe, der mich nach London hin gefahren hatte. Damit wurde ich weder während der Fahrt noch an deren Ende erneut mit einer düsteren Prophezeiung behelligt. „

„Auch die nächsten Tage verliefen in dieser Hinsicht ereignislos.

Es war Mittwoch der 12. Oktober als ich erneut mit der mir entgegengebrachten Drohung konfrontiert wurde. Dies auf eine Art, die mir die Ernsthaftigkeit der Lage höchst eindrücklich vor Augen führte.

Gegen 11 Uhr abends klopfte ein Bote am Lieferanteneingang meines Hauses und überbrachte einen an mich adressierten Brief. Unser Hausdiener brachte das Schreiben unverzüglich zu mir ins Studierzimmer.