Kurz bevor Tony die Straßenecke erreichte, hörte er ein lautes Scheppern, dann einen gedämpften Schrei. Er sah rüber zu Ziva, die dicht hinter ihm stand. Sie nickte kurz. Mit gezogener, auf den Boden gerichteter Waffe liefen die beiden Agenten auf die Quelle der beunruhigenden Geräusche zu.
In etwa 20 Meter Entfernung erkannte Tony Wright, der die junge Frau in eine Ecke zerrte. Er richtete seine Waffe auf ihn, sah aus dem Augenwinkel, dass Ziva es ihm gleich tat und lief auf die beiden Personen zu.
"NCIS, lassen sie die Frau los!", rief er mit ruhigem aber bestimmtem Ton.
In diesem Moment verfluchte er die Stadtverwaltung, oder wer auch immer dafür verantwortlich war, dass Nebenstraßen wie diese nicht anständig ausgeleuchtet wurden. In der dunklen Ecke war es unmöglich zu erkennen, was Wright tat, wie er auf die Anwesenheit der beiden Bundesagenten reagierte.
"Tun sie, was er sagt." Ziva stand jetzt links von ihm. Wright hatte keine Chance zu entkommen. Langsam, um einer panische Reaktion des Verdächtigen vorzubeugen, traten beide einen Schritt auf Wright zu.
"Hey!", rief Tony, als sich Wright nach mehreren langen Sekunden noch immer nicht bewegt hatte. Ruckartig sah der Mann zu ihm auf. Gelbe Augen stachen Tony entgegen und jagten ihm einen Schauer über den Rücken. Das Gesicht des Mannes erschien, auch wenn es in der Dunkelheit kaum zu erkennen war, seltsam entstellt. Der Ausdruck war erschreckend finster, fast schon dämonisch.
Mit einem animalischen Fauchen schleuderte Wright sein Opfer zur Seite. Die junge Frau schlug mit einem lauten Scheppern hart in eine metallene Mülltonne. Langsam kam er jetzt auf die beiden Agenten zu.
"Bleiben sie stehen", forderte Ziva ihn auf. Die Anspannung war deutlich in ihrer Stimme zu hören.
Mit jedem Schritt den Wright tat, wurde sein Gesicht von den schwachen Straßenlaternen heller beleuchtet. Die Stirn war hervorgetreten, verlieh den Augen eine bedrohliche Form. Der Mann sah dem Bayle Wright, den Tony von diversen Fotos kannte, nur noch entfernt ähnlich.
Plötzlich zerriss ein lauter Schuss die beklemmende Stille. Wright taumelte leicht zur Seite, Ziva hatte ihn am Arm erwischt. Er betrachtete kurz die Wunde und ließ dann erneut ein aufgebrachtes, löwenähnliches Brüllen hören.
Bevor Tony reagieren konnte, hatte sich Wright mit einem übermenschlichen Sprung auf seine Kollegin gestürzt. Alles was er sah, war der erschrockene Ausdruck in Zivas Gesicht, dann wurde sie gegen eine meterweit entfernte Wand geschleudert und fielt zu Boden.
Reflexartig gab Tony zwei Schüsse aus seiner Waffe ab, einer traf Wright am Bein.
Noch während der Mann runter auf die zweite Schussverletzung sah, wurde er zu Boden gerissen. Tony hatte die andere Person nicht kommen sehen und beobachtete jetzt, wie erstarrt, den brutalen Kampf, der sich vor seinen Augen abspielte.
Die zweite Person, eine Frau, die für die kraftvollen Schläge und Tritte, die sie gegen Wright anwendete viel zu zierlich erschien, schaffte es schließlich, den Mann gegen eine Hauswand zu drücken. Sie verpasste ihm noch einen harten Schlag gegen das Kinn, bevor sie eine spitze Waffe aus dem Gürtel zog.
Schlagartig kehrten Tonys Reflexe zurück und er richtete blitzschnell seine Waffe auf die Frau. "Fallen lassen!"
Die Dunkelhaarige sah ihn kurz an. Der Ausdruck in ihrem Gesicht kam ihm eigenartig bekannt vor. Es war der gleiche erregte Blick, mit dem ihn Ziva vor wenigen Minuten angesehen hatte. Diese Frau hatte offenbar Spaß an der gewalttätigen Auseinandersetzung und freute sich darauf, ihrem Kontrahenten den Gnadenstoß zu versetzen.
Sie holte kurz aus und stach dann den spitzen Pflock in Wrights Brust. Tony wusste nicht, wie er reagieren sollte, als der Mann sich plötzlich vor seinen Augen aufzulösen schien. Mit einem hölzernen Geräusch viel der Pflock zu Boden. Die junge Frau betrachtete zufrieden das Ergebnis und rieb sich die Hände, als wolle sie sie vom Schmutz befreien.
Immer noch nicht sicher, ob er gerade wirklich gesehen hatte, wie sich Wright in einen Haufen Staub verwandelt, oder ob Ziva ihm irgendetwas in den Kaffee getan hatte, richtete Tony seine Waffe auf die Frau. Sie sah in nur auffordernd an.
"Stehen bleiben und die Hände über den Kopf, da wo ich sie sehen kann", befahl er.
Als Antwort zog sie unbeeindruckt eine Augenbraue hoch. Mit einem fast schon gelangweilten Gesichtsausdruck blieb sie stehen und verschränkte die Hände auf dem Kopf.
Vorsichtig näherte sich Tony der Frau. Sie war einen guten Kopf kleiner als er und sah eigentlich harmlos aus. Doch der Kampf, den er vor wenigen Sekunden beobachtet hatte, hatte ihm ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie war gefährlich und unberechenbar.
Trotz aller Vorsicht hatte er den Tritt nicht kommen sehen. Als er nur noch etwa einen Meter von ihr entfernt gewesen war, hatte die Frau, ohne auszuholen, ihm seine Waffe gekonnt aus der Hand geschlagen. Was in den darauf folgenden Sekunden geschah, begriff Tony nicht. Er spürte nur einen viel zu kräftigen Tritt gegen sein linkes Bein, fiel auf die Knie. Dann wurde seine Hand fest gepackt und in schmerzhaftem Winkel hinter seinen Rücken gedreht.
"Ich würd' ja gerne noch bleiben", hörte er sie sagen, ihr Mund dicht an seinem Ohr, "aber ich hab' heut' Nacht noch was vor."
Dann, schlagartig, wurde alles dunkel.
