Ducky seufzte, als er seinen Bericht ein letztes Mal durchsah. Schließlich legte er das Klemmbrett zur Seite und nahm die Brille von seiner Nase. Müde fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, rieb sich die matten Augen und stand von seinem Schreibtischstuhl auf. Langsam ging er rüber zum mittleren der drei Obduktionstische. Auf ihm lag der leblose Körper von Lance Corporal Lydia Simmons, verdeckt von einem weißen Laken.
Die letzten Stunden hatte Ducky damit verbracht, ihre Leiche zu untersuchen, so gründlich wie es nur möglich war. Doch er hatte nichts finden können. Nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass die junge Frau nicht an dem Offensichtlichen, sondern an irgendetwas anderem gestorben war. Irgendetwas, was er zunächst übersehen hatte. Das Offensichtliche, der zu hohe Blutverlust, war was Ducky Angst machte.
Langsam zog er das Laken ein Stück zur Seite. Ein paar Sekunden lang betrachtete er das blasse Gesicht, dann die Wunden am Hals. Er wusste, wie die arme Frau verstorben war. Niemand hatte einen derart bestialischen Tod verdient.
Obwohl Ducky mit Leib und Seele Mediziner war und sich sein Inneres gegen die eben getroffene Schlussfolgerung mit aller Kraft wehrte, wusste er, dass es Dinge auf dieser Welt gab, die wissenschaftlich nicht zu erklären waren. Der Beweis dafür lag vor ihm. Und wenn er Recht hatte, waren seine Kollegen in diesem Moment wahrscheinlich in großer Gefahr.
Ohne noch länger zu zögern, ging er zurück zu seinem Schreibtisch, nahm den Telefonhörer von der Gabel und begann zu wählen. Doch bevor er damit fertig war, öffnete sich die automatische Tür zur Pathologie. Das Geräusch ließ Ducky zusammenzucken. Zu dieser späten Stunde hatte er keinen Besuch mehr erwartet. Er drehte sch um und sah Gibbs den Raum betreten.
"Jethro", begrüßte er seinen Freund mit gezwungen freudigem Ton. "Ich..." Er zögerte kurz und legte dann den Telefonhörer wieder auf. "Ich wollte dich gerade anrufen, ich –"
"Was machst du so spät noch hier, Duck?", unterbrach ihn Gibbs. "Es ist drei Uhr morgens."
Ducky lächelte ihn an, wohl in dem Wissen, dass sein Gesichtsausdruck gequält wirkte.
"Ich wollte die Autopsie beenden." Er deutete auf Lydia Simmones Leiche in der Mitte des Raums. "Das arme Ding hat es nicht verdient, warten gelassen zu werden."
Gibbs sah ihn misstrauisch an. Zu Recht. Es war nicht leicht, einen Leroy Jethro Gibbs zu täuschen und Ducky wusste, dass er kläglich versagen würde. Die beiden Männer kannten sich zu lange, um sich gegenseitig etwas vormachen zu können.
"Alles in Ordnung?", fragte Gibbs mit argwöhnischem Ton.
"Es ist spät Jethro", versuchte er sein Verhalten zu entschuldigen. Er wusste, dass früher oder später kein Weg daran vorbei führen würde, seinen Kollegen in das dunkle Geheimnis einzuweihen, doch für den Moment war das nicht seine Hauptsorge.
"Was führt dich zu so später Stunde hier her?"
"Jemand von Nachtpersonal hat erwähnt, dass du noch da bist."
"Gibt es was Neues von Tony und Ziva." Er war bemüht, die Frage so beiläufig wie möglich zu stellen.
Gibbs antwortete mit einem Kopfschütteln. "Bis jetzt hat sich Wright noch nicht wieder Blicken lassen", fügte er erklärend hinzu. "Warum wolltest du mich sprechen?"
"Ich..." Er zögert, unsicher, wie er dem Ermittler seine Sorge erklären sollte. "Jethro, ich –" begann er erneut, diesmal wurde er jedoch von dem Klingeln eines Handys unterbrochen.
Gibbs griff in seine Hosentasche, holte das Handy heraus und brummte seinen Namen in das Gerät. Ducky sah ihm zu, wie sein guter Freund anscheinend schlechten Nachrichten bekam.
"Ich bin unterwegs", war das Einzige, das er noch sagte, bevor er das Handy zuklappte.
"Was ist los?" fragte Ducky, besorgt, dass seine Warnung vielleicht zu spät kommen würde.
"Es gab Probleme bei Wrights Festnahme", erklärte Gibbs knapp und ging dann mit großen Schritten auf die Tür zu.
"Tony und Ziva?", rief Ducky ihm hinterher.
"Anscheinend hat sich DiNozzo mal wieder den Kopf angeschlagen", war die sarkastisch klingende Antwort. Dann war Gibbs verschwunden.
Mit einem Seufzer ließ sich Ducky wieder auf seinem Schreibtischstuhl nieder. Gibbs war ein verdammt guter Agent, genau wie seine Leute, doch mit diesem Fall waren sie überfordert. Sie wussten ja nicht einmal, womit sie es wirklich zu tun hatten.
Erneut griff er nach dem Telefonhörer und wählte. Angespannt wartete er darauf, dass abgenommen wurde.
"Hallo?", hörte er eine vertraute, jedoch müde Stimme am anderen Ende der Leitung fragen.
"Rupert, mein alter Freud", grüßte er.
"Bist du das, Ducky?"
"Entschuldige bitte die späte Störung, Rupert, aber ich fürchte, ich muss dich um einen Gefallen bitten."
Er hörte ein leises Lachen am anderen Ende der Leitung. "Ich wusste, dass dieser Tag kommen würde."
Der verspannte Ausdruck in Duckys Gesicht wich ebenfalls einem Lächeln, als er sich an eine seiner letzten Begegnungen mit Rupert Giles erinnerte. Damals hatte Ducky seinem Freund das Leben gerettet, nachdem der einer Auseinandersetzung nur schwer verletzt entkommen konnte. Als er darauf bestanden hatte, dass Giles seinen Angreifer bei der Polizei anzeigt, hatte der seinem jahrelangen Freund schließlich doch die Wahrheit über sich, sein Leben und wie siech herausstellte, die ganze Welt erzählt.
"Ja, es ist lange her", sagte Ducky sanft, noch immer seinen Gedanken nachhängend. Bevor Rupert Giles damals nach Sunnydale aufgebrochen war, um seiner Aufgabe als Wächter der neuen Jägerin nachzukommen, hatte er sich von Ducky mit dem Versprechen verabschiedet, für ihn da zu sein, sollte er einmal auf seine Hilfe angewiesen sein. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, den Gefallen einzufordern.
Die Stimme seines Freundes riss Ducky aus seinen Gedanken. "Was ist los?"
"Ich habe hier eine junge Frau liegen, die offenbar das Opfer eines Vampirs geworden ist."
Jeder andere Gesprächpartner hätte über seine Antwort gelacht. Doch nicht Rupert Giles, der die Jagd nach Vampiren und Dämonen zum Inhalt seines Lebens gemacht hatte.
Ducky atmete tief ein, bevor er weiter sprach. "Unsere Leute sind hinter ihm her, doch ich befürchte, dass sie mit der Aufgabe überfordert sind."
"Du
machst dir Sorgen um sie", stellte Giles mit ruhigem Ton
fest.
Erneut huschte ein sanftes Lächeln über Duckys
Gesicht. Rupert kannte ihn viel zu gut. "Habe ich denn nicht
allen Grund dazu?", fragte er schließlich ernst.
Ein
paar Sekunden herrschte Stille. Worte waren zwischen den alten
Freunden nicht nötig, um zu zeigen, dass sie einander
verstanden.
"Ich komme mit der nächsten Maschine",
sagte Giles entschlossen. "Eine Jägerin hält sich,
soweit ich weiß, zurzeit in DC auf. Ich werde mich mit ihr
–"
"Eine Jägerin?", unterbrach Ducky. Soweit er wusste, gab es nur die eine Jägerin. In jeder Generation. Starb sie, so wurde eine andere zur Jägerin. "Es gibt mehr als eine?"
Ducky hörte seinen Freund am anderen Ende der Leitung laut seufzen. "Das ist eine längere Geschichte. Ich erzähle sie dir gerne bei einem Gläschen von deinem Scotch."
Ducky nickte ungesehen. Dann teilte er Giles die Adresse den NCIS Hauptquartiers mit und verabschiedete sich von ihm.
Mit einem weiteren tiefen Seufzer stellte er fest, dass er morgen Gibbs irgendwie erklären musste, dass Vampire und Dämonen nicht nur Kreaturen aus Horrorgeschichten und Tonys Filmen waren, sondern sehr wohl auch in der Realität existierten.
