Gibbs fuhr sich langsam mit einer Hand durch das graue Haar und ließ seinen Blick noch einmal über den Tatort schweifen, der jetzt von den ersten, sanften Sonnenstrahlen in ein warmes Licht getaucht wurde. Was noch vor wenigen Minuten die dunkle Ecke einer Seitengasse gewesen war, in der bestimmt nicht zum ersten Mal ein Verbrechen geschehen war, sah jetzt aus wie ein friedlicher Hinterhof.
Die Arbeiten am Tatort hatten ungewöhnlich lange gedauert. Zum einen lag es daran, dass er mit McGee alleine war. Der junge Agent hatte in seiner Zeit in Gibbs' Team zweifellos viel gelernt, doch ihm mangelte es noch an der Selbstsicherheit, die Tony und Ziva mitbrachten. McGee fragte lieber zweimal, bevor er etwas tat, was Gibbs verärgern könnte. Wahrscheinlich ohne zu wissen, dass es ihm ab und zu lieber wäre, er wurde Fehler machen und aus ihnen lernen, als ihn ständig mit seinen Fragen zu tyrannisieren.
Der andere Grund war Gibbs' logischer Menschenverstand, der sich beharrlich an den Gedanken klammerte, dass seine beiden Kollegen den Vorfall nicht ganz so unbeschadet überstanden hatten, wie die Notärztin es ihm versichert hatte. Was Tony und Ziva ihm berichtet hatten, konnte nur die Folge eines schweren Traumas, oder ein sehr schlechter und unangebrachter Scherz sein.
Doch Gibbs war noch nie ein Mann gewesen, der nur nach dem Kopf und seinem Verstand ging. Früh hatte er gelernt, auf sein Bauchgefühl zu hören und ihm blind zu vertrauen. Damals, als er noch im Corps gedient hatte, hatte es ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Und heute, beim NCIS, war er für sein untrügliches Gespür bekannt. Manch ein Fall wäre wahrscheinlich ungeklärt zu den Akten gelegt worden, wäre er nicht dem Gefühl in seinem Bauch gefolgt.
Und jetzt, da er Stunden lang mit McGee den Tatort Zentimeter für Zentimeter abgesucht hatte, in der Hoffung irgendetwas zu finden, das die Geschichte seiner beiden Kollegen widerlegen würde, meldete sich sein Bauch ein weiteres Mal. Es war nur eine leise Ahnung, die sich weit entfernt anfühlte. Doch sie reichte aus, um ihn zweifeln zu lassen. Was wenn es stimmte, was die Beiden glaubten gesehen zu haben? Was wenn Wright wirklich – so seltsam es auch klang – ein Vampir gewesen war? Bevor er sich dessen bewusst war, zweifelte Gibbs an allem, was ihm vertraut war, an der Welt wie er sie kannte. Das Gefühl war in seiner Art beängstigend und er entschied sich, es zu verdrängen.
Gibbs schüttelte den Kopf, fuhr sich über das müde Gesicht und versuchte verzweifelt die sich ihm aufdrängenden Bilder aus dem Kopf zu verbannen. Was er jetzt brauchte war ein starker Kaffee.
"Ähm... Boss?"
Er schüttelte die unwillkommenen Gedanken endgültig ab und drehte sich McGee zu, der am Truck stand.
"Ich bin dann soweit."
Gibbs nickte kurz, warf einen letzten Blick auf den Tatort um sich zu versichern, dass seine Arbeit hier erledigt war und er nichts übersehen hatte und ging dann mit großen Schritten auf den Truck zu.
Auf dem Weg ins Hauptquartier legten die beiden Agents eine Pause bei 'Hot and Fresh Coffee' ein. McGee sah so müde aus, wie Gibbs sich fühlte und freute sich offensichtlich über den kleinen Energiekick.
Beim NCIS angekommen schickte Gibbs McGee mit dem Beweismaterial, welches sie am Tatort gefunden hatten runter zu Abby, die er während der Fahrt ins Hauptquartier angerufen hatte. Er selbst machte sich auf den Weg ins Büro, in der Hoffnung Tony und Ziva seien zur Vernunft gekommen – oder hätten wenigstens einen Namen für die geheimnisvolle Frau gefunden.
Bereits als sich der Fahrstuhl mit dem vertrauten 'Pling' öffnete, sah Gibbs, dass seine beiden Agents fest am Schlafen waren. Beide hatten die Köpfe tief in den Armen vergraben und schnarchten leise vor sich hin. Dies ließ ein Lächeln über seine Lippen huschen, bevor er sie mit einem lauten Pfiff weckte.
Tony schreckte hektisch hoch, Ziva hob den Kopf nur langsam und begann sich zu strecken. Gibbs nahm sich einen Moment Zeit sie zu beobachten und fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, die Beiden nach Hause zu schicken.
"Ich hoffe ihr habt einen Namen für mich." Er ging rüber zu seinem Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Der Kaffee in seiner Hand schien schwächer zu sein als üblich, oder wurde er alt?
"Faith Lehane", entgegnete Tony ihm mit einem breiten Grinsen.
Die Antwort verwunderte Gibbs ein wenig. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass es seinen Kollegen in der Kürze der Zeit gelingen würde die Frau ohne einen wirklichen Anhaltspunkt zu identifizieren.
"Wir hätten wahrscheinlich Tage suchen können, wäre sie nicht 'ne verurteilte Mörderin." Ziva stand von ihrem Stuhl auf, drückte ein paar Knöpfe auf der Fernbedienung und ließ das Bild einer jungen, dunkelhaarigen Frau auf dem Plasmabildschirm erscheinen.
"Faith Lehane, 24 Jahre alt", begann Ziva. "2000 hat sie gegenüber der Polizei von Los Angeles zwei Morde gestanden. Dem zufolge hat sie 1998 den stellvertretenden Bürgermeister von Sunnydale, Kalifornien, Allan Finch und '99 Professor Lester Worth, Dozent an der U.C. Sunnydale getötet."
"Nett", kommentierte Gibbs das eben Gehörte. '98 war Lehane gerade mal 17 oder 18 Jahre alt gewesen. Das Mädchen musste eine schreckliche Kindheit gehabt haben, um in dem Alter schon zur brutalen Killerin zu werden.
"Und das sind nur die Highlights", fuhr Tony fort. "2003 ist sie ausgebrochen, seither fehlt so gut wie jede Spur von ihr. Sie soll wenig später in Sunnydale gesehen worden sein, kurz bevor die Stadt von einer unterirdischen Gasexplosion zerstört wurde."
"Zwischen '99 und 2000, kurz nach dem zweiten Mord, lag sie für mehrere Monate im Koma." Während sie sprach ging Ziva rüber zu dem Bildschirm neben Gibbs' Schreibtisch und rief weitere Details aus Faith Lehanes Leben auf. "Eines Tages ist sie plötzlich aufgewacht, hat eine Frau brutal zusammengeschlagen und ist verschwunden. Sie konnte allerdings nur wenig später von der Polizei geschnappt werden, nachdem sie versucht haben soll eine Joyce Summers umzubringen."
"Aber, wie sollte es anderes sein", fuhr Tony sich am Kopf kratzend fort, "sie konnte der Polizei entkommen und ist anscheinend nach L.A. geflohen, wo sie ebenfalls mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten ist. Tja, und kurz darauf kam der Sinneswandel. Sie hat sich der Polizei gestellt und wurde wegen zweifachen Mordes verurteilt. 'Ne ganz schon bewegte Vergangenheit."
"Ja", stimmte Gibbs grummelnd zu. "Die Frage ist nur, was macht sie hier in D.C.?"
Es folgte eine unangenehme Stille. Bis jetzt war es Gibbs ganz gut gelungen der Frage nach Wrights mysteriösem Verschwinden auszuweichen, doch früher oder später musste er sich entscheiden.
Entweder glaubte er an das, was seine Kollegen ihm erzählt hatten, oder an das, was sein Kopf ihm sagte.
Leroy Jethro Gibbs war ein Mann der an das glaubte, was er selber sehen und begreifen konnte. Religion hatte nie eine große Rolle in seinem Leben gespielt und wenn er ehrlich war, wehrte sich alles in seinem Inneren nach Kräften, auch dem Gedanken daran, dass etwas Übernatürliches in dieser Welt existieren konnte, nur den Hauch einer Chance zu lassen. Doch dann war da immer noch sein Bauchgefühl. Es war wie der Finger eines kleinen Kindes, der ihn, so sehr er sich auch bemühte ihn zu ignorieren, immer wieder an die Schulter tippte und um Beachtung bettelte.
Ohne es zu merken seufzte Gibbs laut und fasste dann erneut den Entschluss logisch an den Fall heran zu gehen.
"Tony, gib eine Fahndung nach Lehane raus."
"Mit welcher Begründung?"
Gibbs warf ihm einen finsteren Blick zu. "Sie wird verdächtigt einem mutmaßlichen Mörder bei der Flucht geholfen zu haben."
"Gibbs..." begann Ziva aufgebracht, sie wusste jedoch offensichtlich nicht, was sie sagen sollte.
"So lange ich keinen Beweis für eure Version habe, ist das die Offizielle."
"Wir haben die Tatwaffe und..."
"Und was, DiNozzo?"
"Was ist mit unseren Aussagen", argumentierte Ziva. "Wir haben Beide gesehen wie –"
"Was würdet ihr an meiner Stelle tun?" Gibbs sah mit ernster Mine von Tony zu Ziva. Anscheinend wusste keiner der Beiden, ob und wenn, was sie sagen sollten. Erneut machte sich diese unerträgliche Stille zwischen den Schreibtischen breit.
Das Klingeln von Gibbs' Handy beendete den unangenehmen Moment schließlich.
"Gibbs", sagte er, fast erleichtert klingend in die Leitung.
Am anderen Ende hörte er Duckys Stimme. "Jethro", begrüßte er ihn.
"Was gibt es, Duck?"
"Hier ist jemand, den ich euch vorstellen möchte." Die Stimme des Pathologen klang immer noch seltsam nervös.
"Wir sind unterwegs."
