Ein Gefallen, dachte Faith, als sie sich mit einem kleinen Hüpfer auf einen der metallenen Tische setzte. Sie schüttelte den Kopf, wütend auf sich selbst, da sie hätte wissen müssen, dass es Ärger bedeutete, wenn Rupert Giles sie um einen Gefallen bat.
Aufmerksam ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Es war nicht das erste Mal, dass sie in einer Pathologie war. Sie hatte in den letzten Jahren oft Nächte lang in ähnlichen klinisch sterilen Räumen gesessen, hatte darauf gewartet, dass die Toten endlich aufwachten, nur um sie dann ein für alle Mal ins Jenseits zu befördern.
Einen Augenblick lang blieb ihr Blick an den beiden Männern hängen, die in einigen Metern Entfernung anscheinend in ein ernstes Gespräch vertieft waren.
Faith spürte, wie ihr Herz ein bisschen schneller als normal schlug und begann unruhig auf der kalten Oberfläche hin und her zu rutschen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, waren ihr die Leichen, die sich in dem Raum befanden egal. Grund für ihre Nervosität war viel mehr die Tatsache, dass sie sich mitten im Hauptquartier einer Bundesbehörde befand – ausgerechnet im Hauptquartier des NCIS.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wofür die Abkürzung stand. Im Grunde war das auch vollkommen egal. FBI, CIA, NCIS, wo zur Hölle war der Unterschied. Eine verurteilte Mörderin sah bestimmt keiner von denen gerne frei herumlaufen.
Vor wenigen Minuten, als Faith mit Giles vor dem Gebäude aus einem Taxi gestiegen war, hatte sie kurz mit dem Gedanken gespielt, dem ehemaligen Wächter zu erzählen, was in der Nacht passiert war. Dass sie mit zwei Agenten eben jener Behörde 'unsanft' aneinander geraten war und er lieber alleine da rein gehen sollte. Doch wie groß war die Chance, dass sie eben jene beiden Agenten hier wieder treffen würde. Nach ein paar Sekunden hatte sie entschieden, dass sie das überschaubare Risiko auf sich nehmen würde, anstatt sich irgendwelche Vorwürfe – und schlimmsten Falls nervige Vergleiche mit Buffy – anzuhören.
Ihre Augen fielen auf die Uhr an der Wand. Kurz vor acht. Normalerweise würde sie um diese Uhrzeit im Bett liegen, schlafen und sich von den Strapazen der nächtlichen Jagd erholen. Faith fluchte leise. Warum hatte sie auch den dämlichen Telefonhörer abgenommen? Warum hatte sie Giles überhaupt ihre Telefonnummer gegeben?
Nach dem Kampf, oder viel mehr der Schlacht im Höllenschlund hatte er sie gebeten in Kontakt zu bleiben. Bei dem Gedanken daran huschte ein Lächeln über Faith' Lippen. Hätte man Giles nur ein paar Monate zuvor die Gelegenheit geben sie zu töten, er hätte sie sicherlich genutzt. Die drohende Apokalypse hatte sie einander irgendwie näher gebracht – dennoch, Freunde würden sie wohl nie werden.
Freunde. Faith hatte früh gelernt, alleine zu Recht zu kommen und unabhängig zu sein. Sie brauchte niemand. Das versuchte sie zumindest, sich immer wieder einzureden. Freunde, andere Menschen überhaupt, brachten einen ständig in Schwierigkeiten – die gegenwärtige Situation diente als perfektes Beispiel. Im Leben einer Jägerin konnte es fatal sein, Menschen um sich zu haben, die einem etwas bedeuteten. Und trotzdem, seit ein paar Jahren gab es einen Menschen in ihrem Leben, dem sie, wenn auch nur langsam, gelernt hatte zu vertrauen.
Das Geräusch der sich automatisch öffnenden Tür riss Faith aus ihren Gedanken. Als sie aufsah und die drei hineinkommenden Agenten sah sprang sie von ihrem Platz auf und wich ein paar Schritte zurück, um den Abstand von ihnen zu wahren.
"Na toll", sagte sie leise zu sich selbst. Zwei der Agenten waren ausgerechnet die beiden, die ihr nur wenige Stunden zuvor in die Quere gekommen waren. Das Gesicht des Dritten, eines etwas älteren, grauhaarigen Mannes, nahm bedrohliche Züge an, als er sie erblickte. In diesem Moment wäre Faith lieber wieder im Höllenschlund gewesen und hätte gegen die Armee von Über-Vampiren gekämpft.
"Gibbs." Der Mann, den sie in der Nacht niedergeschlagen hatte griff nach seinem Gürtel, nur um festzustellen, dass seine Waffe sich nicht im Halfter befand.
"Tony, ruf den Sicherheitsdienst", befahl Gibbs mit ruhiger Stimme. Die Augen starr auf Faith gerichtet. "Ziva."
Die dunkelhaarige Frau neben ihm verstand, ohne ihn auch nur anzusehen. Sie ging ein paar Schritte zu Seite, so dass die beiden Agenten die Tür, den einzigen Ausgang, blockierten.
"Warte, Tony", meldete sich der Pathologe, der sich Faith als Ducky vorgestellt hatte zu Wort. Eilig ging er rüber zu Gibbs.
"Was zur Hölle geht hier vor, Duck?" Der durchdringende Blick des Mannes verließ Faith endlich und richtete sich nun auf den älteren Mann.
"Jethro, bitte. Ich kann dir alles erklären."
Gibbs baute sich vor dem kleinen Mann auf und brachte sein Gesicht dicht vor das seines Gegenübers. "Das ist eine verurteilte Mörderin." Er deutete mit dem Finger in Faith Richtung, ohne sie anzusehen. "Sie hat Tony und Ziva heute Nacht angegriffen. Kannst du mir verdammt noch mal verraten, was sie hier macht?"
"Was?" Giles sah mit einem teils verwirrten, teils verärgerten Blick zu Faith.
Sie verdrehte die Augen, atmete tief ein und bereute erneut ihre Entscheidung, ihm nicht gleich von dem Zwischenfall erzählt zu haben. "Ich hab' sie nicht angegriffen", begann sie sich zu verteidigen. "Ich –"
"Ach nein?", unterbrach Tony sie. "Und wie würden sie das nennen?"
"Haben sie 'n Problem damit von 'nem Mädchen geschlagen zu werden?"
"Ich habe ein Problem damit, wenn jemand meine Leute angreift." Gibbs' durchbohrende Augen trafen ihre erneut.
"Jethro, bitte", bat Ducky erneut. Diesmal griff er nach dem Ellbogen des Agenten, um dem beruhigenden Ton in seiner Stimme Nachdruck zu verleihen. "Ich bin mir sicher, dass alles nur ein Missverständnis war."
Gibbs' Blick war – zu Faith' Erleichterung – ein weiteres Mal auf Ducky gerichtet. In den Augen des grauhaarigen Agenten lag etwas, das sie nicht genau definieren konnte, doch jedes Mal, wenn sie sie trafen, hatte sie das ungute Gefühl, in der Gesellschaft ein paar blutrünstiger Dämonen besser aufgehoben zu sein. Das und die fehlende Einsicht des Mannes, Ducky wenigstens zuzuhören, ließ Faith eine Entscheidung treffen: Sie musste abhauen, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatte.
Die Zähne zusammenbeißend ging sie wie selbstverständlich auf die Tür zu. "Ich verschwinde", sagte sie knapp.
Gibbs benötigte lediglich einen Schritt, um sich ihr in den Weg zu stellen. "Glauben sie, ich werde sie hier so einfach rausspazieren lassen?"
"Faith", hörte sie Giles' warnende Stimme hinter sich sagen.
Sie drehte sich zu dem ehemaligen Wächter um. "Halten sie sich da raus."
"Faith", warnte er erneut. Seine Stimme hatte den gleichen autoritären Ton angenommen, mit dem er Buffy und sie vor fast sieben Jahren herumkommandiert hatte.
"Sie haben mich doch erst in diese dämliche Situation gebracht", warf sie ihm lauthals vor. "Haben sie vielleicht mal drüber nachgedacht, dass die Cops hier nicht zu meinen aller größten Fans gehören könnten?"
Giles seufzte. Anscheinend fühlte er sich ebenso in vergangene Zeiten zurückversetzt. "Und woran hast du gedacht, als du zwei Bundesagenten angegriffen hast?" entgegnete er streng.
"Zurück ins Gefängnis zu gehen steht nicht gerade sehr weit oben auf der Liste der Dinge, die ich in den nächsten zehn Jahren vorhabe. Streng genommen war es also Notwehr." Ihrer Stimme war nicht anzumerken, dass Faith wusste, dass ihr Argument nicht unbedingt das Beste war.
Gibbs ließ ein überlegenes Lachen hören. "Vertrauen sie mir, sie landen schneller wieder im Gefängnis, als es ihnen lieb ist."
"Sie können dankbar seinen, dass ich letzte Nacht nicht im Knast gesessen habe."
Faith tat ihr Möglichstes dem eindringlichen Blick des Agenten stand zu halten. Die Wut auf die offensichtliche Ungerechtigkeit der Gesamtsituation half ihr. "Ich hab' ihren Leuten die jämmerlichen Ärsche gerettet. Ansonsten hätten sie jetzt ein paar Leichen mehr hier rum liegen. Sie haben ja nicht mal den blassesten Schimmer, womit sie es zu tun haben, geschweige denn –"
"Genug!"
Alle Augen im Raum richteten sich schlagartig auf Ducky. Er selbst sah mit ernster, verärgerter Mine von Faith zu Gibbs, dann rüber zu Giles. "Ich habe euch nicht hier her gebeten, um zu streiten." Er drehte sich erneut zu Gibbs um. "Keinen von euch", fügte er in seine Richtung hinzu. "Wir befinden uns in einer Situation, die es erfordert, dass wir zusammenarbeiten. Alle."
Gibbs beugte sich zu Ducky runter. Die anfängliche Verwunderung über den bestimmenden Ton des Pathologen war aus seinem Gesicht verschwunden. "Was für ein Problem, Duck?", fragte er mit ruhiger Stimme.
"Das arme Mädchen", begann er, auf die zugedeckte Form einer Leiche, die auf dem Obduktionstisch am anderen Ende des Raums lag deutend, "wurde von einem Vampir getötet. Dem gleichen, der heute Nacht um ein Haar Ziva und Tony erwischt hätte."
Es folgte eine unangenehme Stille. Gibbs, da war sich Faith fast sicher, hätte gelacht, wären die Mimik und der Tonfall des Pathologen nicht erschreckend ernsthaft gewesen.
Ducky wendete sich erneut Giles zu. "Rupert, wärest du so freundlich meinen Freunden zu erzählen, was du mir damals erzählt hast?"
Giles nickte, nahm sich mit einem tiefen Atemzug die Brille von der Nase und begann die Geschichte zu erzählen, die Faith schon so oft gehört hatte. Die Geschichte, die sie schon lange nicht mehr hören konnte. Die Geschichte, die ihr Schicksal war und ihr Leben zur Hölle gemacht hatte.
In jeder Generation wird eine Auserwählte geboren. Sie muss sich alleine gegen Vampire, Dämonen und die Mächte des Bösen stellen. Sie ist die Jägerin.
