Jenny Shepard schlug den Telefonhörer wütend auf das Gerät, ballte die Hände zu Fäusten und verfluchte Gibbs' Namen. Wer zur Hölle glaubte er eigentlich, wer er ist? In einem Fall wie diesem zu handeln, ohne sie vorher wenigstens zu informieren war nicht nur respektlos, sondern, wie sich soeben erwiesen hatte, auch äußerst dumm.

Jenny atmete tief ein und drehte sich mit verschränkten Armen zu dem großen Fenster hinter ihrem Schreibtisch um. Sie ließ den Blick über den dunklen Fluss und die dahinter liegende Landschaft schweifen. In gewisser Weise trug jeder eine Mitschuld an dem Desaster. Gibbs vorne weg, mit seiner starrköpfigen Art, dicht gefolgt von ihr selbst, die ihn und sein Team im Dunklen darüber gelassen hatte, was wirklich passierte. Nicht zu vergessen die Leute im Hintergrund, die ihr absolutes Redeverbot über ‚die Sache' erteilt hatten und sie nur mit den Informationen versorgten, die sie es für nötig hielten.

Mit einem Seufzer schloss Jenny die Augen und erinnerte sich an den Tag, der ihr Leben auf mehr als nur eine Art verändert hatte. Der Tag, an dem sie Direktorin des NCIS und somit in einige der best gehüteten Staatsgeheimnisse eingeweiht wurde – eines davon war eine Spezialeinheit, die auf der ganzen Welt unterwegs war, um Dämonen- und Vampirnester auszulöschen.

Als Direktor Morrow ihr von dem kleinen Geheimnis erzählt hatte, hatte sie lauthals gelacht, in dem Glauben, ihr Vorgänger hätte sich einen Scherz mit ihr erlaubt. Doch wie sich rausstellte, hatte er es todernst gemeint.

Also, nur damit ich sie richtig verstehe. Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass da draußen… Vampire und Dämonen herumlaufen?"

Machen sie sich nicht zu viele Gedanken, Jenny. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie oder die Behörde jemals in Kontakt mit einem GST kommen werden."

GST?"

Gegnerischer Subterraner. Sie, als künftige Leiterin dieser Behörde, müssen jedoch über die Existenz dieser Kreaturen informiert sein, um im unerwarteten Falle eines Kontaktes entsprechende Maßnahmen einleiten zu können."

Die so genannten entsprechenden Maßnahmen bestanden darin, irgendwelche namenlose, mechanische Stimmen über einen eventuellen GST-Kontak zu informieren, das ermittelnde Team seine Arbeit fortführen zu lassen und abzuwarten, bis besagte Spezialeinheit sich um das Problem gekümmert hatte. Der Fall würde ungelöst zu den Akten wandern, niemand würde je die Wahrheit erfahren.

Wie sich jetzt erwiesen hatten, ein netter Plan in der Theorie, das reinste Chaos in der Praxis. Vielleicht wäre irgendwie noch alles gut gegangen, hätten Gibbs und sein Team nie von der Existenz der GST erfahren. Doch wie in aller Welt sollte sie, Jenny Shepard, einen Mann wie Gibbs davon abhalten selber weiter zu ermitteln, ohne ihm einen triftigen Grund dafür geben zu können? Selbst, wenn sie ihm die Wahrheit hätte erzählen können, Gibbs war nicht die Art von Agent, der einen Fall auf sich beruhen ließ und darauf wartete, dass sich andere um ihn kümmerten, solange der Täter – ob nun lebend oder untot – noch auf freiem Fuß befand.

Mit dem, was Gibbs und sein Team über die ganze Sache wussten, war es dumm gewesen, ihn auch noch mit den Ermittlungen an dem zweiten Mordfall zu betrauen, nur um die Existenz der Spezialeinheit, die sich an Stelle der Agenten nun um das Problem kümmern würde, zu vertuschen.

Erschöpft von dem bloßen Gedanken an das, was ihr in dieser Nacht noch bevorstand, vergrub Jenny das Gesicht in den Händen und begann langsam ihre Schläfen zu massieren.

Im Nebenzimmer hörte sie die Tür mit einem lauten Knall auffliegen und war froh, dass Cynthia schon lange nach Hause gegangen war. Sie hatte keine Ahnung wie sie ihrer Assistentin irgendetwas von dem Folgenden hätte erklären sollen.

Sich wie immer nicht an unnötigen Förmlichkeiten aufhaltend, stieß Gibbs auch die Tür zu ihrem Büro übermäßig kraftvoll auf und fegte in den Raum wie ein Tornado. Mit wütender Mine starrte er ihr entgegen. Ihm folgten Tony, eine etwas mitgenommen aussehende Ziva, zwei Männer in schwarzer Militärkleidung und Faith, die die komplette Situation irgendwie kalt zu lassen schien.

"Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, Jen?", fuhr Gibbs sie ohne Umschweife an. Sein Gesicht war rot vor Wut. Unter dem linken Auge konnte Jenny deutliche eine Schwellung erkennen, als er sich bedrohlich nahe vor ihr aufbaute.

Sie erwiderte seinen durchdringenden Blick standhaft und stemmte entschlossen die Hände in die Hüften. "Wobei?", fragte sie, ohne sich zu bemühen unschuldig zu klingen. Er hatte es ebenso versaut wie sie und somit kein Recht ihr großartig Vorwürfe zu machen.

"Fang' nicht an, Spielchen mit mir zu spielen, Jen." Gibbs brachte sein Gesicht noch dichter vor ihres, so wie er es immer tat, wenn er versuchte andere einzuschüchtern. "Einer meiner Agenten wird vermisst. Ich hab' verdammt noch mal keine Zeit für den Schwachsinn."

"Director Shepard", unterbrach eine starre männliche Stimme, bevor Jenny kontern konnte. Sie drehte sich um. Einer der Soldaten stand vor ihrem Schreibtisch und sah sie mit ernster Mine an.

"Agent Riley Finn", stellte er sich knapp vor und streckte ihr eine Hand entgegen. Jenny beugte sich über ihren Tisch und drückte sie kurz, während sie dem Mann mit einem gequälten Lächeln ansah. "Das ist Agent Graham Miller, Ma'am", fügte er, auf den zweiten Soldaten hinter sich deutend, hinzu. Jenny begrüßte ihn mit einem kurzen Kopfnicken.

"Mit allen gebührenden Respekt Ma'am", fuhr Finn fort, "wir sind hier um mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass wir auf jegliche weitere Interventionen ihrer Leute keine Rücksicht nehmen können." Er sah kurz rüber zu Gibbs, der noch immer neben ihr stand. Offenbar durch dessen Blick verunsichert, räusperte sich der Soldat, bevor er weiter redete. "Des Weiteren müssen wir darauf bestehen, dass sie die Jägerin den zuständigen Behörden übergeben, da sie –"

"Hey!" Faith, die es sich zuvor auf einem der Sofas im hinteren Teil des Büros gemütlich gemacht hatte, war aufgesprungen und ging auf Riley zu. "Kümmert euch um eure Angelegenheiten, okay?"

Finns Hand wanderte in sekundenschnelle zur Waffe, die er in einem Halfter am Oberschenkel trug. "Ich habe die Berechtigung sie zu erschießen, also bleiben sie da, wo sie stehen, Miss Lehane", warnte er. "Halten sie sich zurück."

"Versuch's doch." Faith lächelte ihn an und hob herausfordernd das Kinn.

Mit einer schnellen Bewegung zog Finn die Waffe und richtete sie auf den Kopf der Jägerin. "Ich sagte, halten sie sich zurück."

Damit war er definitiv einen Schritt zu weit gegangen. "Hey!" Jenny ließ Gibbs hinter ihrem Schreibtisch stehen und ging mit entschlossenen Schritten auf Finn zu. "In meinem Büro wird niemand erschossen, verstanden?"

"Warum so verspannt, Riley?" Faith schien Jenny zu ignorieren und sah ihn mit unschuldigen Augen an. "Bei unserem letzten Treffen warst du sehr viel relaxter", fügte sie in gespielt verführerischem Ton hinzu.

"Genug!" Jenny warf Faith einen warnenden Blick zu und stellte sich in die Schusslinie vor sie. Was auch immer in der Vergangenheit zwischen den Beiden passiert war, jetzt war nicht die Zeit für so was. "Nehmen sie die Waffe runter, Finn. Sofort." Es war ein Befehl, wahrscheinlich die einzige Sprache, die der Soldat verstand. Sie sah ihm direkt in die Augen. Schließlich gab Finn nach und senkte die Waffe.

"Gut." Mit verschränkten Armen ließ Jenny ihren Blick durch den Raum schweifen. "Hätte jetzt irgendjemand die Güte mir zu erzählen, was genau heute Abend passiert ist?"

"Was passiert ist, Jen?" Mit großen Schritten kam jetzt auch Gibbs hinter den Tisch hervor und baute sich ein weiteres Mal bedrohlich vor ihr auf. "Du müsstest doch am besten wissen, was hier los ist."

"Ach ja?" Jenny sah Gibbs herausfordernd an. "Und woher genau sollte ich wissen was los ist. Du scheinst es ja nicht für nötig zu halten, mich darüber zu informieren, was du tust."

"Wir hatten keine Zeit."

"Ich bitte dich." Sie ließ ein ironisches Lachen hören. Eine dermaßen erbärmliche Lüge hätte sie Jethro nie zugetraut. "Du wusstest genau, dass ich einer derart dämlichen Aktion niemals zustimmen würde."

"Nein." Gibbs' Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. "Du würdest dein Monsterspezialkommando rufen." Er wand den Blick kurz von ihr ab. "Gott, Jen. Du hast die ganze Zeit davon gewusst", stellte er mit einem Kopfschütteln fest. "Und du hältst es nicht mal für nötig, mich zu informieren. Nein, du wolltest die Sache auf die elegante Weise lösen."

Jenny schluckte. Gibbs lag mit seiner Vermutung goldrichtig. Er wusste, wie gewisse Leute mit dieser Art von Problemen umgingen. "Ich hatte meine Befehle."

"Du hast uns blind in die Sache rein laufen lassen."

Sie schüttelte den Kopf. "Ich hätte es gar nicht so weit kommen lassen, wenn du mich über dein Vorhaben informiert hättest, Jethro."

Beide sahen sich ein paar Sekunden schweigend an. Gibbs' Blick verriet Jenny, dass er ihr Recht geben musste. "Also, was ist passiert?", fragte sie schließlich.

"Wir haben Kingsleigh beobachtet", begann Gibbs knapp. Seine Stimme war kalt wie Eis. Offenbar war er fest entschlossen, dass Jenny in dieser Angelegenheit nicht auf seiner Seite stand. Sie konnte es ihm nicht verübeln. "Ziva hat versucht ihn aus der Reserve zu locken, dann haben die uns plötzlich angegriffen."

"Wie viele?", fragte sie nach.

"Mindestens zehn", antwortete Finn, bevor Gibbs sprechen konnte. Der kalte Blick des Marine traf ihn umgehend.

Jenny wendete sich von Gibbs ab und trat einen Schritt auf Riley zu. "Sie haben alles beobachtet und nichts unternommen?" Sie sah ihn fordernd an, während sie die Arme vor der Brust verschränkte.

"Zu dem Zeitpunkt war das Gebäude noch voller Zivilisten, Ma'am", verteidigte sich der Soldat. "Zu riskant."

"Es waren zwölf." Gibbs Stimme war voller Hass.

"Sicher?", fragte Jenny mit hochgezogenen Augenbrauen. Gibbs schaffte es immer wieder, sie zu überraschen.

Er beantwortete die Frage mit einem herausfordernden Blick. Natürlich war es sich sicher.

"Und dann?"

"Frag' deine Monsterjäger, Jen." Gibbs warf erneut einen wütenden Blick in Finns und Millers Richtung. "Alles woran ich mich erinnere ist irgendwie nebelig."

Riley zögerte, offenbar durch den kalten Blick des Marines verunsichert. "Wir... wir sind rein gegangen, nachdem der Großteil der Zivilisten das Gebäude verlassen hatte. Die Verwendung von Rauchgranaten ist Standard, allerdings..." Er zögerte erneut.

"Allerdings, was, Agent Finn?", forderte Jenny.

"Schwer zu sagen, Ma'am. Irgendwas scheint die Vampire gewarnt zu haben. Sie konnten entkommen."

Jenny seufzte kurz und ließ den Blick auf den Boden fallen. "Also laufen da draußen immer noch mindestens zwölf Vampire rum."

"Ähm..." Alle Augen im Raum richteten sich umgehend auf Faith. "Sagen wir neun" sagte sie mit einem eigenartigen Lächeln.

"Okay, neun." Jenny begann sich mit zwei Fingern die linke Schläfe zu massieren, während sie sich wieder an Gibbs wand. "Was ist mit Agent McGee?"

Er seufzte und sah sie mit seltsam leeren Augen an. Seine Gesichtszüge waren noch immer angespannt. Wut und Sorge waren zwei Emotionen, die bei Gibbs dicht beieinander lagen. "Ich weiß es nicht, Jen."

Sie drehte sich zu Tony um, der zusammen mit Ziva noch immer in Nähe der Tür stand. "Agent DiNozzo, sie sind zusammen mit McGee in das Gebäude gegangen?"

"Ja, Ma'am", bestätigte er.

"Wann haben sie ihn das letzte Mal gesehen?"

Tony schüttelte langsam den Kopf. "Kann ich nicht genau sagen. Es ging alles ziemlich schnell."

"Ma'am", meldete sich Finn wieder zu Wort. "Wir vermuten, dass die GST ihn vielleicht entführt haben."

Jenny sah verwundert zu ihm auf. "Wie kommen sie darauf?"

"Nun ja..." Riley räusperte sich. "In der... Kultur der Vampire und Dämonen gibt es die verschiedensten Zeremonien oder Rituale, die menschliche Opfer verlangen."

Jenny war sich nicht sicher, ob sie den letzten Satz richtig verstanden hatte. "Mit... mit menschlichen Opfern... meinen sie –"

"Ja, Ma'am", unterbrach Finn und nickte knapp.

Jenny seufzte schwer und ließ die Informationen ein paar Sekunden sacken. Dann sah sie den Soldaten erneut an. "In Ordnung, wie sieht ihre weitere Vorgehensweise aus, Agent Finn?"

"Wir haben einen Hinweis auf das Nest der GST und werden noch heute Nacht zuschlagen."

"Wo ist es?", fragte Jenny, mit einem berechnenden Blick in Gibbs' Richtung.

Riley schluckte nervös. "Ich habe den ausdrücklichen Befehl, diese Information aus Sicherheitsgründen nicht an sie weiterzuleiten, Ma'am." In seinem Blick lag fast etwas Entschuldigendes.

"Warum?"

"Ihre Leute haben unsere Arbeit bereits einmal behindert. Das Risiko können wir kein zweites Mal eingehen", erklärte er in bemüht sachlichem Ton.

Jenny nickte langsam. Es war mehr als nachvollziehbar, das sie nach dem Desaster des Abends vorsichtig geworden waren. "Ich danke ihnen, Agent Finn", sagte sie schließlich. "Ich denke, sie haben zu tun." Alles war gesagt.

"Ja, Ma'am." Finn verabschiedete sich mit einem knappen nicken und verschwand dann, gefolgt von Graham Miller, aus ihrem Büro.

Jenny wartete ein paar Sekunden. Dann wendete sie sich an Gibbs, Tony und Ziva. "Damit ist der Fall für den NCIS beendet", verkündete sie.

In Gibbs Augen flammte erneut Wut auf. "Was ist mit McGee?"

"Ich denke, dass die Agents Finn und Miller alles in ihrer Macht stehende tun werden, um ihn gesund zurück zu bringen." Jenny sah ihn mit ernstem Blick an. "Geh' nach Hause, Jethro. Schreib den Bericht, hol' dir einen Kaffee, oder bau an deinem Boot, aber tu' nichts, dass Agent McGee unnötig in Gefahr bringen könnte." Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, dass es ein Befehl und keine Bitte war.

Gibbs warf ihr erneut einen finsteren Blick zu und folgte dann Finn und Miller mit großen Schritten aus dem Büro.