4.
Es war Samstagmorgen. Früh morgens. Tatsächlich war es so früh, dass außer mir und den Hauselfen wahrscheinlich noch niemand wach war in diesen geschichtsträchtigen Mauern.
„Niemand Lebendiges" korrigierte ich mich selbst, als der blutige Baron böse kichernd am offenen Tor der großen Halle vorbeischwebte.
Ich wollte gar nicht wissen, warum er so bösartig kicherte.
…
Doch, ich wollte es wissen, aber ich hatte eigentlich vorgehabt mir in Ruhe den Sonnenaufgang bei einer Tasse Tee anzusehen.
Betont langsam und entschlossen, mich nicht von meiner Neugier und meinem Pflichtgefühl ablenken zu lassen, den Blick auf meine Präfektenplakette vermeidend, nahm ich einen Keks und tunkte ihn in den dampfenden Tee, während ich zum Fenster herausstarrte. Schon seit einiger Zeit war der Horizont, den ich durch die Scheiben, die vom Boden fast bis an die Decke der hohen Halle reichten, sehen konnte, hell. In der letzten halben Stunde hatten sich zu Hellgrau und –blau auch ein paar rosa und rote Streifen gemischt.
Es musste etwa fünf Uhr morgens sein. Und es war Wochenende.
Gab es einen besseren Zeitpunkt ungestört die Schönheit des majestätischen Gebäudes und seiner Umgebung zu bewundern als diesen? Wohl kaum.
Zufrieden biss ich in meinen mit Tee getränkten Keks und ließ ihn auf der Zunge zergehen.
Für die Nachtaktiven Bewohner des Schlosses war es zu spät, für die Tagaktiven war es zu früh. Für mich war es genau richtig. Ich hatte mindestens eine Stunde totaler Ruhe vor mir.
Eine Stunde, in der ich mich für gewöhnlich einmal nicht in die immer recht ruhige Bibliothek zurückzog um meinen freizeitlichen Studien nachzuhängen, sondern in der ich zur Abwechslung meine Bücher an andere Orte mitnahm.
In die große Halle unter einen der Weihnachtsbäume im Winter, im Sommer, so wie heute auch, ans Ufer des Sees, um die Kühle des Morgens und die Stille zu genießen, bevor, etwa gegen die Mittagszeit, auch Ron und Harry kommen würden, mit ihren jeweiligen weiblichen Anhängseln, um mir das Lernen unmöglich zu machen.
Aber so waren sie nun einmal, und da sie meine Freunde waren hatte ich mich angepasst.
Wenn sie Nächtelang im Gemeinschaftsraum vor dem Kamin mit ihren Freundinnen Flüssigkeiten austauschten zog ich mich in der Regel mehr oder weniger unauffällig zurück. Um dem mitunter widerwärtigen Spektakel und den mit ihm einhergehenden Sauggeräuschen zu entgehen, aber auch um den Schlaf zu bekommen den ich brauchte, um mich früh morgens als Erste aus dem Gryffindorturm zu schleichen.
Eine Bewegung am Eingang riss mich aus meiner stummen Betrachtung des frühmorgendlichen Panoramas.
Als ich aufsah stockte mein Atem. Draco Malfoy, mit unübersehbaren dunklen Ringen unter den Augen, trat zögerlich in die große Halle, sorgfältig darauf bedacht einen Blickkontakt zu vermeiden.
Sehr untypisches Verhalten für einen Slytherin – nein, für DEN Slytherin… flüsterte mir eine kleine Stimme in meinem Inneren zu.
Ich gab ihr schweigend Recht, war aber auch nicht erpicht darauf, den Eisprinzen durch unüberlegtes Verhalten dazu zu bewegen, sein Verhalten mir gegenüber zu korrigieren.
Ich war allein hier, eine Gryffindor und damit automatisch seine Erzfeindin; abgesehen davon war allgemein bekannt, wie die Slytherins sich jungen Damen gegenüber benahmen.
Nicht, das ich nicht mit ihm hätte fertig werden können, natürlich könnte ich das, ich war recht patent in der Kunst des Duellierens, aber ich war mir auch mehr als deutlich der Tatsache bewusst, dass er immerhin der Sohn von Lucius Malfoy, einem bekannten Todesser war, und dass die Erziehung die er zu Hause genossen hatte mit größter Sicherheit dunkle Magie beinhaltete.
Und das war mehr Harrys Metier als meines.
Es war besser wenn ich mein Frühstück schnell beendete und mich aus der großen Halle zurückzog.
Aber da waren trotz aller Vernunft noch immer sein für einen Slytherin beinahe höfliches und höchst ungewöhnliches Verhalten – er hatte mich noch nicht angegriffen sondern war stumm zu dem grün gedeckten Tisch am anderen Ende der Hale geschlurft - und die dunklen Ringe unter seinen Augen, welche ein deutlicher Hinweis auf Schlafmangel waren.
Aus welchem anderen Grund auch sollte Draco Malfoy, der, wie Harry und Ron auch, für gewöhnlich an Wochenenden erst gegen Mittag sein Frühstück aß, so früh im Schloss umherlaufen, wenn nicht, weil er nicht schlafen konnte?
Nicht dass ich ihn beobachtete. Nein, wenn dem so wäre müsste ich mir einer derart unangebrachten Tatsache ja auch bewusst sein.
Haha… nein.
Man könnte in einem solchen Fall ja fast annehmen, dass mich der silberblonde Slytherin interessierte.
Er, der fast sicher ein Todesser war oder es noch werden würde. Ein schlimmer Finger; jemand, dem ich sicher noch auf dem Schlachtfeld begegnen würde….
Das war natürlich ausgeschlossen.
Vollkommen ausgeschlossen.
Niemals!
Ich wurde mir der Tatsache bewusst, dass ich weit davon entfernt war den Sonnenaufgang zu beobachten und stattdessen Draco Malfoys mir Merlin-sei-Dank abgewandten silbernen Haarschopf anstarrte.
Natürlich hatte das Böse eine gewisse Faszination….
Ich fragte mich, ob Draco irgendwann genau so aussehen würde wie sein Vater, und als ich mich bei diesem Gedanken ertappte spürte ich, wie meine Ohren hochrot anliefen. Manchmal war ich dankbar für den dichten Haarbusch auf meinem Kopf….
Ich ließ den Rest meines Frühstücks stehen und eilte hastig und stolpernd aus der Halle. Ich konnte seinen Blick wie zwei glühende Punkte auf meinem Rücken spüren und war froh, als ich endlich durch das offene Tor der Halle in einen der vielen Korridore abbiegen konnte. Auf diese Weise konnte ich Draco Malfoy entgehen, aber leider nicht meinen eigenen verwirrenden Gedanken.
Ich wanderte ziellos und ich Gedanken versunken durch die verlassenen Gänge des Schlosses.
Ganz offensichtlich war ich in einem unachtsamen Moment zufällig auf eine seltsame Tatsache gestoßen, die wahrscheinlich im Normalfall tief in meinem Unterbewusstsein vergraben war.
Es schien beinahe so, als sei ich fasziniert vom Bösen.
Ich brauchte sofort psychologische Hilfe und Unterstützung, denn ich als Gryffindor konnte und durfte nicht in diesen Abgrund stürzen.
Ich war ein Vorbild.
Ich war eine Gryffindor!
Natürlich, als wahre Gryffindor hätte ich mich dem Problem mutig und vor allem allein stellen sollen, aber gelegentlich musste auch ein Gryffindor um Hilfe bitten, und dies war einer dieser seltenen Augenblicke.
Nur, wen konnte ich fragen?
Harry, Professor Dumbledore, Ron und Professor MacGonnagal fielen automatisch aus. All diese Personen waren Gryffindors durch und durch und würden meine prekäre Situation nicht verstehen. Statt das Übel im Keim zu ersticken würden sie ihm möglicherweise durch ihr Nicht-Verstehen noch Nährboden geben.
Ich hielt auf meiner verwirrten Flucht durch Korridore und über Treppen vor einem noch schlafenden Portrait einer alten Hexe an und sank seufzend gegen die kühle Steinwand.
Mein Instinkt war meinem Intellekt voraus gewesen und hatte mich sofort in die richtige Richtung geführt. Wie außergewöhnlich. Aber die Antwort auf meine Frage lag genau hier.
Wen Anderes konnte ich fragen, wenn nicht jemanden, der einmal in der gleichen Situation wie ich gewesen war, fasziniert und angezogen vom Bösen, und der sich im rechten Moment abzuwenden gewusst hatte?
Wen außer Severus Snape konnte ich fragen? Wer außer ihm würde mich verstehen und mir mit Rat und Tat zur Seite stehen können?
Sicher, er hasste mich. Das war klar, schon seit meiner ersten Stunde bei ihm, und es zeigte sich immer wieder erneut in jeder weiteren Zaubertränkestunde. Unzählige Bemerkungen und Spitznamen die gegen meine Person gerichtet waren kamen mir in den Sinn. Miss Know-it-all, unerträgliche Besserwisserin, dann Bemerkungen über mein Haar, meine Zähne und all dies….
Und ich durfte letztendlich auch nicht vergessen, dass auch er immerhin ein Slytherin war. Sicherlich würde er etwas für seine Hilfe verlangen.
Entschlossen stieß ich mich wieder von der Kerkerwand ab.
Es war zumindest einen Versuch wert. Fragen kostet nichts.
Und ich konnte nicht zulassen, dass meine Gedanken derart verwirrt und unkontrolliert blieben und mir ständig Visionen von silberblondem Haar erschienen.
Dies war das Newt-Jahr, ich brauchte all meine geistigen Fähigkeiten, wenn ich auch nur halbwegs mittelmäßig abschneiden wollte!
Nein, ich durfte mich durch nichts von meinen Studien ablenken lassen, und vor allem nicht von derartigen Gelüsten….
Gelüsten!
Ich spürte erneut die enorme Hitze die von meinen Ohren ausging, als sie hochrot anliefen.
Meine Lage war prekärer als ich angenommen hatte.
Ein weiterer Seufzer entrang sich mir, und ich war froh, dass es so früh am Morgen war, und Harry und Ron sich nicht in diese Sache würden einmischen können.
Mit etwas Glück würden sie nie etwas davon erfahren; mit etwas Glück würde alles geregelt sein, wenn sie zur Mittagszeit aufstanden.
Ich versuchte verzweifelt mir nicht vorzustellen, in was für einer Laune Professor Snape sein würde, wenn ich ihn zu einer derart frühen Stunde aus dem Bett klopfte, und ging tapfer weiter.
Mutig bis zum Schluss.
Eine echte Gryffindor eben.
