6.

Nachdem ich mir irgendwann der Tatsache bewusst wurde, dass auf der anderen Seite der Tür niemand mehr war, der meinen Ausführungen zuhörte, war ich leicht verletzt und nicht wenig beunruhigt gegangen.

Natürlich hätte ich nichts Anderes von Professor Snape erwarten sollen, er war schliesslich Kopf des Slytherin-Hauses – oder, wenn ich es mir recht überlegte, um fünf Uhr morgens war von einem Professor Snape sehr wohl Anderes zu erwarten gewesen, aber sicher nichts in meinem Sinne Konstruktives.

Meine Hoffnung war es daraufhin gewesen, ihn beim Mittagessen doch noch abzufangen, um den Abend nicht abwarten zu müssen, und ich hatte vor lauter Verwirrung den Rest des Morgens über nicht mehr als ein oder zwei Sätze aus Philibert Pinkbuttoms „Animagi – Ein Einblick in die Quantenmagikuläre Dynamik während der Transformation (für Fortgeschrittene)" einprägen können.

Unglücklicherweise tauchte der Zaubertränkelehrer niemals zum Mittagessen auf, anders als Ron und Harry und ihre weiblichen Anhängsel, die nichts Besseres zu tun hatten als mich während der Nahrungsaufnahme - und in Rons Fall war das wörtlich gemeint - immer wieder zu fragen, ob ich vielleicht meinen Kopf angestoßen hatte, weil ich nicht aß und noch keinen von ihnen zu Lernen aufgefordert hatte – als ob eine Aufforderung von meiner Seite zu sinn- und verantwortungsvollem Verhalten irgendetwas an ihrer Einstellung des Laisser-faire ändern würde.

Wenigstens war ich nicht die einzige Anwesende mit mangelndem Appetit, die besorgt den Lehrertisch im Auge behielt: dasselbe traf auch auf Draco Malfoy zu.

Warum, das hätte ich nur hypothetisch ausarbeiten können, aber schon die Tatsache, dass es mir aufgefallen war stürzte mich in einen Teufelskreis von verunsichernden Gedanken der Art:

Möglicherweise ist es dir nur aufgefallen, weil du dir Sorgen über die Ereignisse von heute morgen machst? Aber andererseits könnten diese Sorgen durchaus berechtigt sein, denn womöglich wäre es dir auch ohne die morgendlichen Ereignisse aufgefallen. Aber nein, ein derart abnormes Verhalten wäre dir doch nicht monatelang entgangen. Monatelang! Wie kommst du jetzt auf monatelang? Was sonst noch verbirgt dir dein Unterbewusstsein?

Und immer so weiter.

Es fanden sich immer neue überzeugende Argumente, sowohl Kontra als leider auch Pro ein krankhaftes Gefühl der Zuneigung für Draco Malfoy und das, wofür er stand.

Es war wohl nicht verwunderlich, dass ich mich nach dem Mittagessen in meinen Schlafsaal zurückzog, statt, wie alle Anderen, ans Ufer des Sees zu gehen, um mich mit den restlichen Schülern abzugeben und meine sozialen Kontakte zu pflegen.

Vergeblich hatte ich versucht über das Vorwort des Buches hinaus in die quantenmagikulären Geheimnisse der Animagus-transformation einzutauchen.

Im Endeffekt lag ich nur auf meinem Bett und tat nichts Sinnvolleres als immer wieder auf meine Armbanduhr zu starren und mich meinem inneren Zwist hinzugeben.

Es war mir ein Rätsel, wie Harry und Ron dieses „die Zeit totschlagen" oder „abhängen" oder wie immer sie es auch nannten entspannend finden konnten. Ich persönlich bekam davon nur Kopfschmerzen.

Ich hörte Gruppen von Schülern nach und nach ins Schloss zurückkehren und ihren mir sonst so unerträglichen Lärm verbreiten, nur dass mir im Moment jede Ablenkung recht und Willkommen war.

Ich hatte einen ganzen Tag verloren!

Ein Tag an dem ich hätte lernen, mein Bewusstsein erweitern und mein Allgemeinwissen ausbauen müssen! Und das, obwohl weder ich noch sonst jemand den ich kannte in akuter Lebensgefahr war, noch die Grundrechte irgendwelcher magischer oder nicht magischer Kreaturen verletzt wurden. Was für eine unglaubliche Zeitverschwendung!

Endlich zeigte meine Armbanduhr mir an, dass es Zeit zum Abendessen war.

Ich hatte zunächst entschlossen, dass mein quasi nicht existenter Appetit kein ausreichender Stimulus war, um mich dem allabendlichen Chaos in der großen Halle auszusetzen, änderte jedoch in der Hoffnung, Professor Snape könne unter Umständen wenigstens zum Abendessen anwesend sein, meine Meinung.

Umsonst, wie sich kurz darauf herausstellte: sein Platz am Lehrertisch blieb auch bei dieser Gelegenheit leer.

Frustriert zwang ich mich, wenigstens ein Stück Brot zu essen, Harrys und Rons anzügliche Äußerungen zu meiner Abwesenheit während des Tages und ihre Hypothesen über den Grund dafür ignorierend, was sie jedoch zu noch absurderen Theorien zu stimulieren schien.

Auf die angeknabberte Brotkruste zu starren half mir wenigstens dabei, mich nicht ständig nach Draco Malfoy umzusehen, und Harrys und Rons sinnloses Gerede lenkte mich von dem Teufelskreis ab, der sich keineswegs aus meinem Kopf verflüchtigt hatte.

In meinem ganzen Leben, Time Turner oder nicht, waren noch nie die Stunden eines Tages so langsam dahin gekrochen und vergangen.

„Kommst du mit, Herms, oder hast du noch ein geheimes Rendez-vous mit dem geheimnisvollen Unbekannten?"

Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich nur kurz über Rons Wortschatz nachdachte.

Ich blickte von meinem abgebissenen Stück Brot auf und schluckte den Happen, den ich sicherlich 200-mal gekaut hatte, und von dem kaum mehr übrig war als ein fader Nachgeschmack, runter. Als ich aufsah grinste er mich mit seinem sommersprossigen Ohr-zu-Ohr Grinsen an, was mich normalerweise wenigstens zu einem Lächeln animierte.

Nicht so an diesem Abend.

„Wie du meinst. Bist du sicher, dass es dir gut geht?"

Fragte er, während er sich schon abwandte um seinem weiblichen Anhängsel – ich konnte mich nicht dazu bringen das hirnlose Etwas mit Brüsten namens Parvati Patil anders zu betiteln – nachzublicken, wie es sich Hüften schwingend aus der großen Halle verabschiedete, zusammen mit seiner Zwillingsschwester, und damit Harrys weiblichem Anhängsel.

Ich winkte müde ab, entschlossen die verbleibenden 40 Minuten bis Neun Uhr in der großen Halle abzuwarten, aber er war schon fort.

Als ich endlich beschloss, dass eine halbe Scheibe Brot genug Nährstoffe für den Rest des Tages darstellte, und dass ich, wenn ich langsam ging, sicherlich 15 Minuten bis zu Professor Snapes Büro brauchen würde, war die große Halle bis auf mich und – MerlinWarumEr? – Draco Malfoy verlassen.

Natürlich konnten wir beide als Präfekten unserer Häuser es uns leisten, nach dem Zapfenstreich noch im Schloss unterwegs zu sein.

Aber warum musste gerade er ausgerechnet heute Abend mit mir gemeinsam zurückbleiben?

Der Slytherin Gemeinschaftsraum lag nicht weit von Professor Snapes Büro entfernt. Ich hoffte inständig, dass Malfoy nicht beschloss, in diesem präzisen Moment dorthin zurückgehen zu müssen. Mit Schrecken stellte ich mir vor, wie er mir die Treppen hinunter in die Kerker folgte. Dort hinunter, wo er sich wie zu Hause fühlte, wo ich aber wie eine Maus in der Falle sitzen würde. Er, Sohn von Lucius Malfoy, dem großen, faszinierenden, blonden, ach-so-reinblütigen Todesser….

Wie viel er wohl von seinem Vater geerbt hatte? Nun, er war groß und von athletischer Statur, Ähnlichkeiten in Augen- und Haarfarbe ließen sich nicht leugnen, ….

Ich sprang auf und machte mich, alles andere als langsam, auf den Weg zu Professor Snapes Büro, immer wieder keuchend stehen bleibend und auf eventuelle Schritte die sich näherten horchend. Schritte, die es nicht gab. Draco folgte mir nicht.

Er folgt mir nicht!

Und doch folgte er mir, und doch geisterten die beiden Malfoys unablässig durch mein Gehirn.

Ich brauchte wirklich Hilfe, bei Merlin.

Endlich an der dunklen Tür angekommen, die mir noch vom Morgen sehr vertraut war, warf ich einen letzten Blick auf meine Armbanduhr.

12 Minuten zu früh.

Mein gehetzter Geist ließ mir keine Ruhe, ich glaubte Schritte von überall zu hören.

Ach, scheiß doch auf die Pünktlichkeit!

Ich klopfte hektisch gegen das harte Holz und bemerkte erst jetzt, dass mir meine Knöchel noch immer von dem halbstündigen Klopfen früher am Tage schmerzten, aber wen kümmerte das schon?

Zuerst geschah nichts, und eine schreckliche Vision von Professor Snape, der das Schloss verlassen hatte, ging mir durch den Kopf, während meine überspannten Nerven mir tausend kleine Geräusche und Bewegungen vorgaukelten und der uralte Zauberer auf dem Portrait gegenüber der Tür leise vor sich hin schnarchte, aber ich ließ mich nicht entmutigen und klopfte weiter, immer weiter.

Mutig bis zum Schluss wie eine echte Gryffindor, hm? kicherte eine kleine, böse Stimme in mir.

Endlich hörte ich Schritte, die sich der Tür von der anderen Seite näherten. Mittlerweile war mir ein dünner Film kalten Schweißes auf die Stirn getreten und ich keuchte nervös in die von Fackellicht unzureichend durchbrochene Dunkelheit.

Die Tür schwang nach Innen auf und ich trat hastig in den scheinbar leeren Raum. Hinter mir fiel die Tür mit einem überraschend lauten „Klick" wieder ins Schloss, und ich beugte mich vor und stützte mich auf meine Knie, um mich wieder zu beruhigen.

Das mich mein überanstrengter Geist und meine Phantasie beinahe in eine unbegründete Hysterie getrieben hätten war ein beunruhigendes Faktum, mit dem ich, so viel war klar, mich später noch ausgiebig würde auseinandersetzen müssen.

Ich atmete aus und richtete mich auf.

„Guten Abend, Professor. Vielen Dank für ihre Geduld…" begann ich, indem ich mich zu der Präsenz hinter meinem Rücken umdrehte, meinem Zaubertränkelehrer, der die Tür hinter mir geschlossen hatte.

Nur war es nicht Professor Snape, der dort mit einer erhobenen Augenbraue und einem arroganten kleinen Lächeln stand, die Türklinke in der Hand und mir jeden Fluchtweg versperrend.

Plötzlich waren meine Knie so weich wie Wackelpudding. Ich spürte, wie alle Farbe meine Wangen verließ, und flüchtete mich für einen Augenblick in die weit hergeholte Hoffnung, ich sei über das Warten eingeschlafen und dies alles sei nur ein Traum.

„Miss Granger, n'est-ce pas?"

Er machte einen Schritt auf mich zu. Zu meiner eigenen Verwunderung schien er keineswegs irritiert oder bösartig. Nur für einen kurzen Augenblick konnte ich Überraschung und Amüsement in seinen Augen aufblitzen sehen, dann war außer Arroganz, Überlegenheit und einem kaum wahrnehmbaren Hauch Freundlichkeit nichts mehr in seinen edlen Zügen zu sehen.

Ich stand stumm und bewegungsunfähig da, als hätte er mich mit einem Petrificus totalus getroffen, und starrte ihn an. Es hatte mir, im wahrsten Sinne des Wortes, die Sprache verschlagen.

Lucius Malfoy trug offensichtlich maßgeschneiderte schwarze Hosen, vermutlich aus Seide, dazu ein weißes, vornehmes Hemd und darüber eine zu den Hosen passende Weste. Ich hatte ihn noch nie ohne seinen Mantel gesehen, und war davon überrascht, wie breitschultrig und muskulös er offensichtlich war. Er war um einiges größer als ich. Trotz des Sommers war seine Gesichtsfarbe immer noch vornehm blass, so wie die seines Sohnes. Sein silbernes Haar war zu einem strengen aber perfekten Zopf zusammengezurrt, aus dem sich keine einzige Strähne verirrte. Beneidenswert.

Bei dem Kleiderständer hinter der Tür konnte ich seinen Umhang und seinen Stock mit dem Knauf aus Silber in Form des Kopfes einer Schlange ausmachen. Von Harry wusste ich, dass darin sein Zauberstab versteckt war.

Vielleicht hatte ich ja doch noch eine Chance zu entkommen, wenn ich schneller als er zur Tür kam?

Mein Blick fiel zurück auf sein Gesicht, und sämtliche Hoffnung auf Flucht verpuffte wie eine Wolke, als der eisige Blick seiner Stahlgrauen Augen meinen Willen auslöschte.

Er stand nun direkt vor mir und legte mir seinen Arm um die Schultern, drehte mich mit sanfter Gewalt weg von der Tür und zum Raum hin um mich dann in Richtung einer breiten Ledercouch zu führen.

Ich ging mit zitternden Knien mit ihm, konnte ich doch mich doch nicht von seinem Blick lösen. Es war, als wären all meine Gedanken wie weggefegt, als ich so seitlich zu ihm aufschaute.

„Wie sie vielleicht selbst schon bemerkt haben, ist ihr verehrter Zaubertränkelehrer - und mein Gastgeber - im Moment leider nicht anwesend. Aber vielleicht wollen sie hier mit mir auf ihn warten?"

Vor dem Sofa angekommen drehte er sich mit mir um und ich setzte mich gehorsam, als er einen leichten Druck auf meine Schultern ausübte, um sich dann in einer einzigen fließenden und unglaublich eleganten Bewegung zu mir zu setzen und das eine Bein über das Andere zu schlagen.

Ich starrte immer noch in diese unwirklichen grauen Augen.

Mein Kopf schien völlig leer zu sein – jetzt weißt du endlich wie sich das anfühlt – und ich fühlte mich wie eingelullt, hypnotisiert, wie in einem seltsamen Traum.

Er lächelte mich an, und in diesem Lächeln lag etwas, das ich nicht beschreiben konnte, aber es jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken, und die kleinen Härchen auf meinem Nacken stellten sich auf.

„Wie es der Zufall will haben wir erst gestern Abend über sie gesprochen, Miss Granger."