Disclaimer:
Es gibt Reis, Baby, es gibt Reis...
Argh...
Du kannst dir aussuchen, Potter oder Harry... gehört Joanne K. Rowling... Oh Baby, ich zieh den Jerseyanzug an...
Meine arme, unschuldige Vorstellungskraft! Sie ist für immer geschädigt!
Schatten der Wahl
23. Lost
„Ich bin nicht Ihr Junge, Albus.", sagte Draco müde. „Ich war es nie – und ich kann nicht zu etwas zurückkehren, bei dem ich nie zuvor war."
Dumbledore lächelte lediglich. „Ich hatte einen anderen Eindruck, in dem Jahr, in dem du mit uns gearbeitet hast.", sagte er freundlich. „Ich hatte das Gefühl, dass du hier sehr zuhause warst."
Draco ließ sich in den Stuhl gegenüber dem Schulleiterpult sinken. Noch während sie redeten, konnte er spüren, wie ihm die Zeit durch die Finger rann. Er hatte einen Zeitpunkt gewählt zu dem sein Bruder beschäftigt war, um herzukommen. Seine Animagusform hatte es erleichtert, unentdeckt her zu gelangen. Die Gedanken des Raben waren einfach und simpel, ein Grund warum Tigris nie herausgefunden hatte, dass Draco ihn schon in der Schule in diesem speziellen Talent übertroffen hatte. Es hatte sich seitdem schon oft als nützlich erwiesen. Nun jedoch, mit der Magie von Hogwarts um ihn herum, und allen seinen Gedanken bei dem, was er dabei war zu tun, würde es nicht lange dauern... „Wir haben keine Zeit dafür.", sagte Draco harsch. „Mein Geist steht Ihnen offen. Holen Sie sich, was sie brauchen, aber tun Sie es rasch." Er zog seinen linken Ärmel hoch, und hörte, wie McGonagall schockiert nach Luft schnappte. Als wenn die dumme Pute nicht schon immer geglaubt hätte, dass er ein Todesser war. Das Dunkle Mal glänzte schwarz und hässlich auf seiner Haut, offen sichtbar. „Sobald er Bescheid weiß war alles vergebens."
Es war Dumbledore zu Gute zu halten, dass er nicht länger zögerte. Er stand ruckartig auf und trat vor das Pult, Draco geradewegs in die Augen sehend. Einen Moment später spürte Draco die fremde Präsenz in seinem Geist. Wie er es versprochen hatte, fand sie keinen Widerstand.
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Tigris befand sich mitten ihm Kampf, als ihn plötzlich ein schreckliches Gefühl überfiel. Er taumelte, und ein Fluch eines Aurors verfehlte ihn nur knapp. Er versuchte sich zusammenzureißen, aber Entsetzen lähmte ihn. Das was er am meisten auf der Welt fürchtete, war soeben eingetreten – jemand war durch seine geistigen Schilde gedrungen. Seine verborgensten Gedanken und Erinnerungen waren ungeschützt.
„Aqrab, ist alles in Ordnung?"
Tigris erkannte wie im Nebel die Stimme von Blaise, und nahm verschwommen war, dass drei seiner Todesser ihn umrundeten, um ihn zu beschützen. Er war zu desorientiert, um ihr zu antworten. Es erschien wie eine halbe Ewigkeit, bis er erkannte, dass das fremde Bewusstsein das er spürte von Draco aus kam, und dass es bisher noch nicht durch ihre Verbindung zu ihm durchgedrungen war. Es reichte aus, dass er, mit größter Anstrengung, fähig war, seine Gedanken zu klären. Er richtete sich auf und stieg in die Luft. „Zurückziehen!", schrie er. Sie waren dabei zu gewinnen, aber das kümmerte ihn in diesem Moment nicht. „Abbrechen! Zurückziehen!" Zum Glück wussten alle seine Leute inzwischen, dass ein Befehl wie dieser sofort befolgt werden musste. Sie alle apparierten ohne zu zögern, und ließen die Auroren verwirrt zurück.
Tigris apparierte mehrere Male, bis er einigermaßen sicher war, dass er nicht verfolgt wurde. Als letztes erschien er auf einer einsamen Waldlichtung, die ihnen hin und wieder als Treffpunkt diente. Er wollte sich gerade auf seine Verbindung mit Draco konzentrieren, als jemand direkt hinter ihm apparierte. Er fuhr herum und vergaß, seinen Stab zu ziehen.
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„Das ist ein recht alter Stab.", sagte der alte Stabmacher. „Mein Großvater kaufte ihn von Nadua. Das war eine exzentrische Stabmacherin, wenn es je eine gab. Bereiste die ganze Welt, um seltene Bestandteile für ihre Stäbe zu finden. Er kaufte drei von ihr und dieser hier fand nie einen Besitzer." Er hielt dem grauhaarigen Jungen den Stab hin. „Mantikor - Herzfaser, Sequoia, 13 ½ Inch. Versuchen Sie Ihr Glück."
Draco starrte die beiden mit Ehrfurcht an. War seinem Bruder klar was er da gerade bekommen hatte? Die Stäbe Naduas waren legendär! Der letzte bekannte hatte Grindelwald gehört, und war bei seinem letzten Kampf zerstört worden. Er sah zu, wie Tigris den Stab schwenkte, wie alle anderen zuvor. Offensichtlich hatte er keine Ahnung. Nun, Draco würde es ihm gewiss nicht sagen! Wer wusste, auf welche Ideen es ihn bringen würde! Er hatte ihrem Vater versprochen, auf ihn aufzupassen. Außerdem, Tigris brauchte nicht zu wissen, dass er wieder mal etwas Besonderes war. Das letzte Mal, als er das gedacht hatte, hatte er Dracos Freundschaft ausgeschlagen und einen Weasley vorgezogen. Dieses Mal war er einfach nur Dracos Bruder, und so sollte es auch bleiben.
Ein Blinzeln.
„Du hast mir also tatsächlich Arithmantik vorgelesen?", fragte Draco.
Hermione errötete verlegen. „Ja, das habe ich. Wenn ich krank wäre, wäre es das, was ich gerne hören würde. Ich meine... ich würde all die Schulstunden nicht verpassen wollen!"
Draco grinste schief. „Das glaube ich." Sie schien entrüstet, möglicherweise fühlte sie sich verspottet, und er redete schnell weiter. „Also, was schließt man daraus, dass im dritten Planquadrat von Berkana Mannaz Languz gleichgesetzt werden kann?"
„Nun, dass das Theorem von Marbellos zirkulär ist natürlich, und das..."
„...ist die Basis der Zeittheoretik.", sagten sie zusammen. Sie starrten sich an, und plötzlich lag ein kleines Lächeln auf Hermiones Lippen.
In diesem Moment stürmte plötzlich Tigris herein und sie fuhren auseinander, als hätten sie etwas Verbotenes getan.
Die Erinnerungen wechselten sich in rascher Abfolge ab, und alle hatten sie etwas mit Tigris zu tun. Draco konnte nichts dagegen machen, aber in seinem Inneren tobte er. Was tat der alte Narr da! Er hatte nicht sein Leben aufs Spiel gesetzt, um Kindheitserinnerungen auszutauschen! Mehr noch, dies brachte Tigris geradewegs auf ihre Spur!
Tigris wurde schlagartig ernst. „Es ist nicht meine Schuld, dass diese verdammten Auroren Zivilisten als Schutzschild benutzen!", sagte er ärgerlich. „Ich greife nie mit Absicht Zivilisten an, aber ich kann nichts dafür, wenn sie ins Kreuzfeuer geraten. Im Übrigen, es waren nicht meine Todesser, die für den Tod dieser Familie verantwortlich sind. Das waren dieser Feigling William Calley und seine Auroren. Sie haben sie direkt in die Flüche hineinlaufen lassen, um sich selbst Deckung zu geben."
Der Schock war so stark, dass Draco beinahe die Kontrolle über seine Mimik verlor. Er hatte es nicht geahnt, nicht im Geringsten. „Deine Todesser? Was meinst du damit, du..." Er verstummte.
„Sag mir nicht, dass du es nicht gewusst hast." Tigris klang kühl, unbeteiligt.
„Ich... du... Du bist der weiße Tod.", sagte Draco tonlos. Wie konnte das sein? Aber nun, da er Tigris ansah, seine völlige Gleichgültigkeit, war es weitaus begreiflicher als noch Minuten zuvor. „Nein, das habe ich nicht gewusst."
„Es ist ziemlich ironisch, findest du nicht? Dieser lächerliche Spitzname?", meinte Tigris. „Ich meine, lange Zeit war ich doch genau das für sie – ihr reiner weißer Junge, der ihren Nemesis für sie töten sollte. Eine unschuldige Waffe. Ein Widerspruch in sich selbst." Er lachte.
Draco starrte auf die Zeitung, und hoffte, dass sein Entsetzen nicht in seinen Augen sichtbar war. Er hatte es nicht gewusst. Wie konnte er darüber lachen, wie... „Ja, ziemlich ironisch.", sagte er, während sich Übelkeit von seinem Bauch aus in seinen ganzen Körper ausbreitete, bis er sicher war, dass er zitterte, und allein ein Aufblicken genug wäre, ihn zu verraten, den Abscheu zu verraten, den er fühlte. Das, und etwas, das er nie erwartet hatte zu fühlen – Furcht.
Für einen Moment brach die Verbindung und Draco blickte in das entsetzte Gesicht von Albus Dumbledore. Dann fing der Mann sich und begann schließlich ernsthaft, Dracos Erinnerungen aus seiner Zeit als Todesser zu durchforsten. So als hätte er erst jetzt begriffen, was auf dem Spiel stand.
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„Was ist los mit dir? Sie waren dabei, zu verlieren!"
Tigris atmete erleichtert auf, als er den Todesser erkannte. „Still!", sagte er. „Ich muss mich konzentrieren!"
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„Es tut mir leid, was ich von dir verlangen muss, Draco.", sagte sein Pate.
Draco wusste, dass er die Wahrheit sagte. Aber er wusste auch, dass ihnen beiden keine Wahl blieb. Er straffte sich und hoffte, dass Severus erkannte, dass er akzeptierte, was immer auf ihn zukam. Er gab nicht ihm die Schuld.
„Komm.", sagte Severus. „Es hat keinen Sinn, zu warten."
Draco folgte ihm hinunter in das Tränkelabor, wo ein goldschimmernder Trank vor sich hin köchelte.
„Zieh deine Robe aus."
Draco gehorchte. Seine Heilerrobe war verschwitzt und dreckig, und unter anderen Umständen wäre er froh gewesen, sie auszuziehen.
Severus führte ihn zu einem Runenkreis auf dem Boden, und bedeutete ihm, sich links von der Mitte zu setzen. Als Draco das tat, erkannte er, dass dunklere Runen sich weiter über den Boden um den Kessel herum erstreckten. Mit dem Kreis in dem er saß formten sie eine Acht.
„Was ist das für ein Trank?", fragte er mit einem Wink seines Stabes, während Severus seine Robe ebenfalls auszog.
„Gesang der Sirenen.", antwortete sein Pate. „Man nennt ihn auch Oxalas Stimme."
Draco erinnerte sich schlagartig an den Trank, mit dem Professor Hatkee in seinem sechsten Jahr den Großteil ihres Kurses unter ihre Kontrolle gebracht hatte.
„Fernwirkender Imperius?", fragte er schockiert. „Wessen Blut..."
„Das brauchst du nicht zu wissen." Severus setzte sich Draco gegenüber. Er hatte zwei schmale Messer in der Hand, die er zwischen sie legte.
„Ich kann dir diesmal nichts geben."
Draco nickte nur. Sie hatten dies zuvor getan. Schwarze Alchemie erforderte oftmals ein Opfer, manchmal von einem freiwilligen Helfer, manchmal von dem Brauer selbst. Severus legte seine linke Hand auf Dracos Schulter, und Draco tat umgekehrt dasselbe. Er hoffte nur, dass er trotz seiner Erschöpfung konzentriert genug hierfür war. Er hatte mehr Angst davor, Severus zu verletzen, als vor dem Schmerz, der ihn erwartete. Er vertraute seinem Paten. Seine Bewegungen waren immer sicher und präzise, und das war auch diesmal so, als er nach dem Messer griff. Draco kopierte seine Bewegung. Er spürte es kaum, als die Klinge seine Haut ritzte und sah erst als Blut hervortrat, dass er wirklich geschnitten worden war. Er wusste, seine Hand war längst nicht so ruhig, als er dieselbe Rune auf den Arm seines Paten zeichnete. Severus lächelte ihm zu und der Stolz in seinem Blick war wie eine Salbe für Dracos verwundete Seele. Als er das Messer ein zweites Mal hob, wusste er, dass er weiter machen konnte, wie lange es auch dauern würde.
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„Wo ist Snape?"
„Er ist nach Hogwarts zurückgekehrt, soweit ich weiß."
Tigris blinzelte, er hatte nicht einmal bemerkt, dass der Tränkemeister an diesem Abend Teil seiner Truppe gewesen war. Warum? Er stand nicht unter seinem Kommando. Tigris schüttelte den irritierenden Gedanken ab. Er hatte Wichtigeres zu tun. „Hol ihn. Er muss das Schloss auf der Stelle verlassen."
Tigris konnte die Verwirrung seines Vaters spüren, aber er wusste, dass er ihm gehorchen würde. Er richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf die Verbindung und die blinde Wut, die er zu Anfang empfunden hatte, verwandelte sich in einen kalten, zielstrebigen Zorn, der alles andere auslöschte. Er hatte noch nie zuvor so gefühlt. Es war, als wäre alles was er fühlte, die Enttäuschung, die Wut, die Angst, der Unglauben über diesen Verrat, kondensiert in dieser einzigen Empfindung, die seinen Kopf klar zum Denken ließ. Es war eisig klar, was er tun musste. Er zögerte nicht.
Draco war weit entfernt, zu weit als dass er etwas anderes tun konnte als zusehen. Zu beschützt von den alten Schilden um Hogwarts, die Tigris als einen Feind erkannten, auch wenn er nur in Gedanken war. Zu weit für die Magie eines normalen Zauberers. Aber nicht zu weit für ihn.
„Pandora.", flüsterte Tigris. Fast im selben Augenblick konnte er spüren, wie Magie ihn durchströmte, kalt und wundervoll, endlich befreit aus ihrem Gefängnis. Von einem Moment zu nächsten war alles ganz einfach. Er lächelte.
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Minerva beobachtete die beiden Zauberer vor ihr besorgt. Sie starrten einander an und es schien Ewigkeiten, seit einer von ihnen geblinzelt hatte.
Sie musterte Draco Malfoy nachdenklich. Sie musste zugeben, er hatte sich verändert. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Zu sehr war in ihren Gedanken der boshafte, gedankenlose Junge eingegraben gewesen, der andere aus Spaß gequält hatte. Seine Späße hatten einige Male ihren Gryffindors beinahe das Leben gekostet. Minerva konnte viele Dinge vergeben, aber ihre Kinder zu verletzen, das war unverzeihlich.
Sie hatte nie darüber nachgedacht, dass er zu dieser Zeit selbst noch ein Kind gewesen war, ein problematisches Kind, das von seinen eigenen Dämonen verfolgt wurde. Sie hatte viel zu sehr seinen Vater in ihm gesehen. Vom ersten Moment da sie Lucius Malfoy gesehen hatte, seine herablassende Arroganz, seine Bigotterie, die Grausamkeit die sich unter seiner geschliffenen Fassade verbarg, hatte sie ihn gehasst. Sie hatte nicht erst erfahren müssen, dass er ein Todesser war, um zu wissen, was er war. Er erinnerte sie an einen Jungen, den sie einmal gekannt hatte. Einen Jungen, der sie verraten hatte. Einen Jungen, dem sie nie vergeben würde, obwohl er längst in seinem dunklen, kalten Grab lag. Und sie hatte sich durchaus berechtigt gefühlt, ihn zu hassen.
Sie hatte Draco Malfoy Unrecht getan. Die Erkenntnis nagte bitter in ihr. Sie war immer stolz darauf gewesen, unparteiisch zu sein, gerecht, aber in seinem Fall hatte sie versagt. Nun, im Rückblick, konnte sie viele Dinge sehen, vor denen sie Augen und Ohren verschlossen hatte. Die Art, wie er sich um die Kinder gekümmert hatte, wenn sie verletzt waren. Den Tag, als Firenze ihn bewusstlos zurück zum Schloss getragen hatte, nachdem er seine letzten Kräfte in Hogsmeade aufgebraucht hatte, um Verwundete zu heilen. Die vielen Worte der Lobpreisung von Patienten, die er in St. Mungos behandelt hatte. Sie hatte es nicht wissen wollen. Nun, Jahre später, fragte sie sich, wie die Dinge wohl anders verlaufen wären, wenn sie nicht so blind gewesen wäre. Sie fragte sich, ob er vielleicht auch dieses Mal auf seinem Arm tragen würde, wenn sie ihn als das gesehen hätte was er wirklich war. Sie erinnerte sich an die Worte, die ihr Vater einmal zu ihr gesagt hatte, als sie ein kleines Mädchen war: Wer nur einen einzigen Menschen rettet, rettet die ganze Welt. Wenn sie auf Draco blickte, fragte sie sich, ob sie ihre Chance verpasst hatte, und die Frage bohrte sich in ihre Brust.
Minerva zuckte im selben Moment zusammen, als Albus es tat, aus ihren Gedanken gerissen. Ihre Hand umklammerte ihren Stab fester und sie wurde sich erst jetzt bewusst, dass sie ihn niemals losgelassen hatte.
Albus taumelte einen Schritt zurück, als hätte ihn ein unsichtbarer Schlag vor die Brust getroffen. Er blinzelte orientierungslos, offensichtlich unfähig, sich auf die Situation zu konzentrieren. Trotzdem machte sich ein besorgter, fast geängstigter Ausdruck in seinem Gesicht breit, den sie nicht ganz einordnen konnte. Dann sah sie Draco eine Bewegung machen und reagierte aus reinem Instinkt. Sie schwang ihren Stab in einem hastigen Bogen, und aus dem Stuhl in dem er saß schlangen sich Fesseln um seine Arme, ihn in die sitzende Position zurückreißend. Ein Dolch fiel klappernd zu Boden, als die Riemen seine Hände an die Lehnen banden.
Er zerrte mit gesenktem Blick an den Fesseln und seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Wie ich sehe, hat Ihr Kätzchen doch seinen Nutzen, Schulleiter. Zu bedauerlich. Das Gift an diesem Dolch hätte meinen Lord in Sekunden von Ihrer lästigen Existenz befreit."
Sie runzelte die Stirn, als ihr Verstand mit ihrem Zorn konkurrierte. Malfoys Stimme klang verändert. Kalt und bösartig, und auf eigenartige Weise unpassend für ihn.
Albus hatte sich inzwischen gefangen und seine Augen verengten sich leicht.
Malfoys Miene erstarrte und er sah auf.
Minerva fuhr unwillkürlich einen Schritt zurück. „Was...?", brachte sie ungläubig hervor.
Albus hob eine Hand und sie verstummte. Er trat zwischen sie und das Wesen im Stuhl, wachsam wie sie ihn immer nur in Situationen größter Gefahr erlebt hatte.
Dracos normalerweise graue Augen hatten sich zu einem unheimlichen Gelbgrün verfärbt und seine Pupillen waren schlitzförmig, wie die einer Schlange.
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„Du hast uns verraten."
Draco begegnete dem Blick seines Bruders. Sie standen auf einer grauen, unendlichen Ebene. Er wusste, dies geschah in seinem Geist. Er hatte seinen Bruder im selben Moment gespürt, als er Dumbledore verdrängte und die Kontrolle übernahm. Die Leichtigkeit, mit der das geschehen war, ängstigte ihn. Nicht um seiner selbst willen – er wusste was er zu erwarten hatte – aber um der Menschen willen, denen er zu helfen versucht hatte. Er war sich nicht sicher, was er in Tigris' Gesicht lesen konnte.
Da war eine Menge Zorn. Draco hatte nichts anderes erwartet. Doch daneben war noch etwas anderes, eine Mischung aus Furcht und Verzweiflung, mit der er nicht gerechnet hatte. Wahrscheinlich machte es seinen Bruder nur noch gefährlicher als er ohnehin war. Der Mann vor ihm sah anders aus als Tigris in der Realität. Draco fragte sich, ob es eine Manifestation von dem Innenleben seines Bruders war, oder nur wie Tigris sich selbst sah. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater war weniger ausgeprägt, zum einen. Einige Eigenschaften stammten ganz eindeutig von Harry Potter, zum Beispiel die Narbe auf seiner Stirn. Andere konnte Draco nicht im Geringsten zuordnen. So waren seine Haare zum Beispiel so lang, dass sie ihm über die Schultern fielen, aber noch immer grau. Seine Augen waren jedoch das beunruhigendste von allem, sie waren schlangengleich wie die Voldemorts.
„Ich habe den Dunklen Lord verraten.", entgegnete Draco ruhig. „Ich habe es mit Freuden getan."
„Denkst du das kümmert mich?", fauchte Tigris. „Du hast alles verraten, wofür ich gekämpft habe! Du hast das Versprechen gebrochen, das du mir gegeben hast!"
„Ich verstehe nicht...", sagte Draco verwirrt.
Tigris schrie wütend auf und eine Sekunde lang verschwand er, und eine riesige Schlange erhob sich an seiner Stelle. Ihr wütendes Zischen jagte Schauer über Dracos Rücken.
„Hast du vor, mich umzubringen, Bruder?", fragte er ruhig.
Tigris stand ihm erneut gegenüber. „Hast du es deswegen getan?", schrie er. „Ist es deine kreative Art, Selbstmord zu begehen? Dich aus der Verantwortung zu stehlen? Wenn du nicht mit den Folgen deiner Entscheidungen leben kannst, dann hättest du eben andere treffen sollen! Aber stattdessen wählst du den feigen Ausweg und quälst damit alle, denen du etwas bedeutest!"
„Ich?", rief Draco. „Ich? Ich bin nicht dabei, Brudermord zu begehen!"
„Nein!", schrie Tigris. „Du entscheidest dich nur dafür uns alle zu verraten, alles mit Füßen zu treten, was wir für dich geopfert haben, und unsere Eltern zusehen zu lassen, wie Voldemort ein Exempel an dir statuiert. Glaubst du, Mutter wird still in der Reihe stehen, während er dich langsam in Stücke schneidet und sie deinen Schreien zuhören muss? Glaubst du, Vater wird applaudieren, wenn er dich an Nagini verfüttert?"
„Dann töte mich." Draco breitete die Arme aus. Er fühlte sich plötzlich müde. Ja, er hatte flüchtig darüber nachgedacht. Aber um die Wahrheit zu sagen, er hatte nie erwartet, so weit zu kommen. Er hatte damit gerechnet, dass Tigris ihn aufhalten würde, lange bevor er Dumbledore von Nutzen sein konnte. „Töte mich, und das wird nie geschehen. Sie werden um mich trauern, aber es wird vorüber gehen."
„Du Narr.", sagte Tigris, seine Stimme erstickt. „Du unglaublicher Narr. Und ich dachte immer, du würdest Menschen besser verstehen als ich. Sind sie das wert, diese Muggel und Schlammblütler, die du retten willst?"
„Nicht nur sie." Draco lachte bitter. Die Kluft zwischen ihnen war so unendlich, es war, als würden sie in verschiedenen Sprachen sprechen. Tigris würde die Gründe für Dracos Handeln niemals begreifen. „Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe. Du siehst nur deine glorreichen Kämpfe, deine Figuren auf dem Brett. Ich sehe, was übrig bleibt. Die Waisen, die für immer Verstümmelten. Die zerstörten Familien. Die Heimatlosen. Ich sehe, was dieser Krieg mit dieser Welt wirklich macht. Er zerstört unsere Welt, jeden Tag mehr. Ich konnte nicht länger tatenlos zusehen. Der Dunkle Lord ist geisteskrank, es ist purer Wahnsinn, ihm zu folgen."
„Du bist es, der unsere Familie zerstört.", entgegnete Tigris bitter.
„Nein." Draco sah ihn geradeheraus an. „Wir alle tun das zusammen. Du mit deiner Arroganz und deiner Machtgier. Vater mit seinem Stolz und seiner Unfähigkeit, sich zu ändern. Mutter mit ihrer willentlichen Ignoranz. Und ich, ja. Wir alle. Doch selbst wenn es allein meine Schuld wäre – besser unsere Familie als hundert andere, die sich niemals so schuldig gemacht haben, wie wir. Es gab einmal eine Zeit, da hast du auch von Unschuldigen geredet, weißt du noch?"
„Du hast ja keine Ahnung.", sagte Tigris, abgewandt. Er fuhr herum und seine Augen glitzerten grün in dem dämmrigen Licht. „Es wird bald zu Ende sein. Ich werde Voldemort töten, das war immer mein Plan..."
„Um seinen Platz einzunehmen." Draco begriff plötzlich Dinge, die zuvor keinen Sinn ergeben hatten, wie ein Puzzle, das sich vor seinen Augen entfaltete.
Tigris trat einen Schritt zurück. „Nein." Er sah vollkommen überrascht aus, als sei ihm diese Idee nie zuvor in den Sinn gekommen. „Natürlich nicht."
„Warum dann?", fragte Draco neugierig.
„Warum?", fragte Tigris zurück. „Um diesen Krieg zu beenden. Um eine bessere Welt zu schaffen."
„Aber du liebst diesen Krieg." Glaubte Tigris wirklich, was er da sagte? Oder waren es nur Lügen? Doch warum sollte er Draco anlügen, wenn Draco ohnehin nicht mehr lange leben würde? Vielleicht belog er sich selbst.
„Das ist nicht wahr!"
„Natürlich ist es wahr." Draco betrachtete seinen Bruder fasziniert. „Du bist verliebt in die Kämpfe, die Magie, die Bewunderung, die Macht. Du lebst dafür."
Tigris starrte ihn an, als hätte er etwas völlig Unverständliches gesagt.
Draco lächelte. „Töte mich, Bruder. Erspar unseren Eltern den Anblick meiner Hinrichtung. Ich vergebe dir."
„Nein." Tigris trat einen Schritt auf ihn zu und plötzlich war erneut die Schlange an seiner Stelle. Sie umkreiste Draco, Schlinge um Schlinge, bis ihr Körper ihn wie ein dunkler Turm umgab. „Nein. Ich werde es dir nicht so leicht machen."
Draco schauderte und legte seine Hand auf die kühlen Schuppen. „So sei es dann." Er sah nach oben und blickte in die grünen Augen des Basiliken.
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„Mein geliebter Bruder ist also ein Verräter.", zischte die Kreatur vor ihnen. „Oh, tun Sie nicht so überrascht, Schulleiter. Ich habe schließlich keine Geheimnisse mehr vor Ihnen, nicht wahr? Mein Bruder hat dafür gesorgt." Das Gesicht der Kreatur verzerrte sich in maßloser Wut. „Zu schade, dass Sie niemals dazu fähig sein werden, etwas davon zu beweisen. Alles was er Ihnen verraten hat ist nicht als das Hirngespinst eines senilen alten Mannes. Was für ein erbärmlicher Grund, sein Leben wegzuwerfen."
„Ich denke, du unterschätzt deinen Bruder.", erwiderte Albus fest. Minerva bewunderte seine Ruhe. „Er hat heute einen Mut bewiesen, wie ich ihn bisher nur in wenigen Menschen gesehen habe. Ich bin sicher, er wird nicht zögern, alles was ich nun weiß zu bezeugen."
„Mut?", schrie das Wesen. „Feigheit war das! Pure Feigheit!" Ein kalter, mitleidloser Ausdruck machte sich auf dem Gesicht breit. „Tote legen kein Zeugnis ab."
Albus erbleichte kaum merklich. „Das würdest du nicht..."
Die Lippen der Kreatur kräuselten sich in einem hässlichen Lächeln. „Würde ich nicht? Werde ich nicht? Das zeigt nur, wie wenig Sie mich kennen. Ich dachte, Sie hätten in den vergangenen Stunden dazugelernt. Aber Sie waren immer ziemlich blind, was mich angeht, nicht wahr, Albus?"
Minerva betrachtete Malfoy, oder vielmehr das Wesen, das ihn in Besitz genommen hatte, verwirrt. Was meinte es damit? Es sah sie an und grinste, als könnte es ihre Gedanken lesen. Minerva sah hastig zur Seite.
„Was soll ich also mit meinem mutigen kleinen Bruder tun?" Eine Mischung von Zorn und Boshaftigkeit lag in seiner Stimme. „Es wäre nicht fair, ihm einen schnellen Tod zu gönnen, denken Sie nicht? Es würde meinen Lord kaum zufrieden stellen, nach all dem Ärger, den er uns bereitet hat. Zu gerne würde ich ihn zu ihm bringen, aber es ist zu gefährlich... Ich kann nicht riskieren, dass Ihr lästiger kleiner Orden es schafft, ihn zu retten. Andererseits... es würde mich amüsieren, Sie dabei scheitern zu sehen."
Er grinste.
„Ja, ich weiß was seinem Vergehen angemessen ist. Er liebt die Muggel so sehr, dass er uns wegen ihnen verrät – da ist es doch nur passend, wenn er selbst einer wird, bevor er stirbt. Ich lösche seine Erinnerung an die Zaubererwelt. Von diesem Zeitpunkt an wird er der Überzeugung sein, dass diese Welt ein Märchen ist und nichts wird im Stande sein, ihm das Gegenteil zu beweisen. Das mindert seinen Nutzen für Sie ganz schön, denken Sie nicht? Aber es ist nicht genug. Ich verfluche ihn, so dass jeder Gebrauch von Magie – durch ihn selbst oder in seiner nächsten Nähe – ihm Schmerzen bereitet, so stark wie der Cruciatus. Länger als zehn Minuten und seine Eingeweide werden beginnen sich aufzulösen und er wird langsam und qualvoll sterben. Das, Schulleiter, gilt natürlich auch für Orte, die so vollständig mit Magie durchdrungen sind wie Ihr wunderbares Hogwarts. Sie können ihm beim Sterben zusehen. Vielleicht bringt Sie das das nächste Mal zum Nachdenken, bevor Sie andere zum Verrat verführen."
Wut verzerrte Malfoys Gesicht und ließ ihn noch dämonischer erscheinen. „Ich werde Ihnen niemals vergeben!", schrie er. „Hören Sie mich, Albus Dumbledore! Ich weiß, dies ist Ihr Werk! Bis zum Tage Ihres Todes werde ich Sie dafür hassen! Erinnern Sie sich an mich, wenn Ihr Phönix fällt!"
Albus sah blasser aus als zuvor. Minerva glaubte fast, Tränen in seinen Augen zu sehen. „Es tut mir leid.", sagte er leise. „Ich habe dich im Stich gelassen."
Die Wesenheit schrie und verschwand. Minerva war sich nicht sicher, woher sie es wusste, aber die Veränderung in Malfoys Gesicht und Haltung war eindeutig. Eine Sekunde lang sah er entspannt aus, fast friedlich. Dann schrie er.
Sein ganzer Körper versteifte sich und wand sich in den Fesseln. Minerva beobachtete es mit Entsetzen. Sie hatte zuvor Zauberer unter dem Cruciatus gesehen, während der ersten Herrschaft des Dunklen Lords. Die Schreie verfolgten sie noch immer in ihren Albträumen. Dennoch, sie schien vergessen zu haben, wie furchtbar es sich anhörte. Ihre Hand zuckte, um die Fesseln zu lösen, aber sie fürchtete sich davor, es zu tun. Sie hatte Angst, das Wesen würde zurückkehren, aber auch, dass Malfoy sich selbst noch mehr verletzen würde.
„Um Merlins willen, Albus, tu etwas!", rief sie.
Die Hand ihres Mentors hatte sich um seinen Stab verkrampft. „Ich kann nicht.", sagte er gequält. „Ich bezweifle nicht, dass er die Wahrheit gesagt hat, was immer ich tue wird Draco nur noch mehr verletzen."
„Er wusste es.", flüsterte Minerva in erschütterter Erkenntnis. „Deswegen wollte er, dass du Legilimens auf ihn sprichst, er wusste, er würde nicht überleben."
„Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren!", rief Albus mit einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung, die sie noch nie zuvor von ihm gehört hatte. „Es muss etwas geben, irgendetwas!"
Sie beobachtete in grausiger Faszination, wie das Dunkle Mal auf Dracos Arm sich veränderte. Längs über den Unterarm erschienen blutrot, wie eingebrannt, Buchstaben, die das Wort ‚Verräter' formten. Als der letzte Buchstabe vollendet war, verringerten sich die Schreie ein wenig, aber nicht viel. Plötzlich hob Albus seinen Stab und begann, eine lange Folge ihr unbekannter Worte vor sich hin zu murmeln. Langsam, aber stetig formte sich eine blau schimmernde Kuppel um Draco herum. Als sie vollständig war, verstummten die Schreie endlich, und der junge Mann verlor das Bewusstsein. Albus taumelte gegen seinen Schreibtisch und sie beeilte sich, ihm einen Stuhl zu reichen, in den er sich dankbar setzte.
„Du musst auf der Stelle Hermione benachrichtigen, Minerva.", sagte er, die Erschöpfung in seiner Stimme offenkundig. „Ich weiß nicht, wie lange ich es aufrechterhalten kann."
Sie nickte hastig und schob eines der Porträts beiseite, hinter dem sich der Spiegel verbarg, mit dem Albus die Mitglieder des Ordens benachrichtigte. Kurz darauf erschien Hermione Grangers freundlich lächelndes Gesicht vor ihr. „Minerva! Gibt es Arbeit für mich?"
„Du musst sofort nach Hogwarts kommen, es ist ein Notfall.", erwiderte Minerva.
Hermiones Gesicht wurde sofort ernst. „Natürlich. Ich bin in einer Minute bei euch."
Ihr Gesicht verschwand und treu zu ihrem Wort trat sie kurz darauf aus der Feuerstelle. Ihre Augen wanderten über das Bild vor ihr und blieben auf Draco haften. Es erweckte Stolz in Minerva, dass das Gesicht ihrer ehemaligen Schülerin keine Abneigung zeigte. Stattdessen biss sie sich auf die Lippen, offensichtlich in Gedanken die Situation einschätzend.
„Hermione.", sagte Albus heiser, und der besorgte Blick der jungen Frau fuhr zu ihm.
„Wie kann ich helfen, Albus?"
„Mister Malfoy wurde mit einem Fluch besprochen, der jede Art von Magie für ihn zum Risiko macht. Wir müssen ihn so schnell wie möglich aus Hogwarts herausbringen."
Hermione nickte verstehend. „Also benötigen wir einen sicheren Ort ohne Magie, an dem Todesser ihn nicht vermuten werden."
Stolz erfüllte Minerva. Wie immer, wenn sie Hermione sah, war es so leicht zu erkennen, was sie zu einem der wichtigsten Mitglieder des Ordens hatte werden lassen. Sie hoffte, dass sie auch dieses Mal eines der Wunder wirken konnte, die sie schon so viele Male zuvor vollbracht hatte.
„Ich befürchte, ich habe zurzeit nichts... Aber warten Sie... Werden normale Schutzzauber ein Problem darstellen?"
„Ich weiß es nicht.", erwiderte Albus, zusehends müder. „Aber es dürfte kein Problem sein."
„Was ist mit einem Portschlüssel?"
„Wir haben keine Wahl, als es zu riskieren."
Hermione nickte erneut, sehr ernst diesmal. „Ich werde sofort einen herstellen. Minerva, hast du etwas für mich mit dem ich..."
Minerva reichte ihr einen von Albus' goldenen Briefbeschwerern. Metall war immer am empfänglichsten für diese Art Magie.
„Danke." Hermione hielt ihren Stab gegen die kleine Löwenstatue und schloss die Augen in Konzentration. „Portus."
Die Statue leuchtete leicht auf und Hermione sah sie an, fast gleichgültig gegenüber dem Zauber, den sie gerade gewirkt hatte. Ein Zauber, von dem es hieß, nur Dumbledore könnte ihn vollbringen. Doch Minerva wusste, dass die unscheinbare kleine Hexe vor ihr es fast jede Woche tat. „Es ist geschafft. Kann ich ihn so nehmen, oder..."
„Beeile dich.", flüsterte Albus, und die Kuppel verschwand. Im selben Moment wurde Draco aus seiner Bewusstlosigkeit gerissen, aber Hermione war schnell.
Sie schlang die Arme um ihn und rief „Jetzt!", und bevor er einen Schrei ausstoßen konnte, waren die beiden verschwunden.
Albus sank erschöpft in seinem Stuhl zusammen und lächelte müde. „Es macht diese Welt in der Tat etwas besser, dass jemand wie Hermione Granger in ihr existiert."
Minerva nickte mit einem schmalen Lächeln, dann betrachtete sie ihn besorgt. „Geht es dir gut, Albus?"
Er nickte etwas gequält. „Ja. Sorge dich nicht, Minerva. Es ist nur sehr anstrengend, so alte Magie wie sie Hogwarts durchströmt im Zaum zu halten."
Minerva holte tief Luft, als sie begriff, was er getan hatte.
„Du hast eine magische Leere geschaffen?"
„Es war die einzige Möglichkeit."
„Selbst nach all den Jahren gelingt es dir noch immer, mich zu überraschen, Albus."
Er lachte leise. „Das schmeichelt einem alten Mann, Minerva." Sein Gesicht wurde ernst. „Ich hoffe nur, sie schaffen es." Er sah sie an und sie war schockiert von der Tiefe der Verzweiflung in seinem Blick. „Ich war ein Narr, Minerva, ein furchtbarer Narr. Ich weiß nicht, wie ich mir jemals dafür vergeben kann."
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Tigris tigerte auf und ab. Lucius hatte ihn noch nie zuvor so außer Kontrolle erlebt. Er wirkte fieberisch, fast ohne Verstand. Er war nicht bereit es zuzugeben, aber es jagte ihm Angst ein.
„Wo ist er?", zischte Tigris.
Lucius wich unwillkürlich einen Schritt zurück. „Ich weiß es nicht. Ich habe ihm gesagt..."
„Auf der Stelle!", schrie Tigris. „War ich so unklar?" Ein Busch in ihrer Nähe ging in Flammen auf und Lucius zuckte zusammen.
„Kannst du mir nicht sagen, was passiert ist?" Lucius war von einem furchtbaren Gefühl erfüllt, nur dass er es nicht näher einordnen konnte. Etwas Schreckliches war geschehen, aber was? Er wusste, es hatte mit seiner Familie zu tun, es war, als würden die alten Zauber in ihm in Schmerzen schreien. „Bitte, sag mir doch, was passiert ist."
Tigris zischte ärgerlich und hob seinen Stab. Lucius entging seinem Fluch nur, weil in diesem Moment jemand apparierte. Es war Severus Snape.
„Du!", fauchte Tigris, und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht.
Severus war so überrascht, dass er nicht einmal die Hände hob, um sich zu verteidigen.
„Was genau war so schwer zu verstehen an dem Wort SOFORT?"
„Ich wurde aufgehalten."
„Von was?"
„Dem Schulleiter.", sagte Severus ruhig. „Er wollte mich sprechen. Ich konnte ihn hinhalten und habe einen Portschlüssel benutzt. Meine Abwesenheit wird äußerst verdächtig erscheinen."
„Das spielt keine Rolle. Deine Tarnung ist aufgeflogen."
Severus erbleichte. „Wie..."
Tigris zischte nur ärgerlich, und apparierte. Lucius und Severus wechselten einen besorgten Blick und folgten ihm. Sie apparierten geradewegs vor die Füße des Dunklen Lords.
Der Schock kostete sie ein paar Sekunden, bevor sie auf die Knie fielen. Zu ihrem Glück war die Aufmerksamkeit des Lords vollkommen von Tigris eingenommen.
„Ich habe schlechte Neuigkeiten, mein Lord.", sagte sein Sohn. Lucius wagte es nicht, aufzublicken, aber er konnte den Zorn des Dunklen Lords spüren, als hätte er Substanz.
„Welche, dass du einen Angriff grundlos abgebrochen hast?", zischte der Dunkle Lord.
„Nein." Tigris klang kühl, ein krasser Gegensatz zu seinem irrationalen Verhalten zuvor. „Draco Malfoy hat uns verraten." Er klang emotionslos, als rede er über einen Fremden. Lucius konnte es nicht glauben. Es konnte nicht wahr sein.
„Er hat seinen Geist für Dumbledore geöffnet.", fuhr Tigris unbarmherzig fort. „Alles zu dem er Zugang hatte steht auf dem Spiel. Dumbledore weiß, wie wir Amelia Bones getötet haben. Snapes Tarnung ist aufgeflogen. Er kennt die Namen aller Todesser, zu denen Draco Kontakt hatte, eingeschlossen meinen. Er weiß..."
Voldemorts Wutschrei erfüllte den Hof. „Du hast bei deinem Leben geschworen, dass er loyal ist!"
„Ich habe mich geirrt."
Von einer Minute zur nächsten war die Welt in Dunkelheit getaucht. Ein Blitz schlug neben ihnen ein und mehrere der Grabsteine explodierten. Donner grollte. Lucius konnte sich nicht helfen, er sah auf.
Tigris kniete sehr ruhig vor dem Dunklen Lord. Er sah zu ihm auf, sein Gesicht vollkommen bar jeden Gefühls, während der Lord ein Sinnbild des Zorns bot.
„Ich will ihn hier haben.", zischte der Lord. „Hörst du mich, Tigris? Du wirst ihn mir herbringen!"
„Es ist zu spät.", sagte Tigris, kein Unterschied in seinem Tonfall. „Er ist bereits tot."
„Nein!" Es brauchte einen Moment, bis Lucius erkannte, dass er geschrieen hatte. Er starrte entsetzt in die roten Augen des Dunklen Lords.
„Nein, Luciusss?" Der Dunkle Lord trat einen Schritt auf ihn zu. „Du wagst es, Nein zu schreien? Du, der du Verrat in meinen Kreis gebracht hast? Sei froh, dass er tot ist, denn wäre er am Leben, sein Tod würde Tage andauern! Vielleicht sollte ich mir ein wenig Genugtuung von demjenigen holen, der solch verräterische Brut hervorgebracht hat." Er hob seinen Stab.
„Nein." Tigris war aufgestanden und trat zwischen sie. „Wenn irgendjemand es verdient, bestraft zu werden, dann bin ich es, mein Lord. Ich habe Euch davon überzeugt, ihn am Leben zu lassen."
Die beiden Zauberer sahen sich an.
„Lucius, Severus, geht.", sagte der Dunkle Lord schließlich.
Lucius wollte protestieren, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Er war gefroren. Er fühlte sich unfähig zu apparieren, aber Severus' Arm umschlang ihn und sie verschwanden. Das letzte was er hörte, waren Tigris' Schreie.
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Sie erschienen am Apparierpunkt vor Malfoy Manor. Severus hatte Schwierigkeiten, Lucius aufrecht zu halten. Er taumelte wie tödlich verwundet. „Die Verbindung...", stöhnte er. „Die Verbindung existiert nicht mehr... Narcissa..."
Severus verstand auf der Stelle. In alten Familien wie den Malfoys bestand eine mentale Verbindung zwischen allen Familienmitgliedern, am stärksten für die Oberhäupter des Hauses. Wenn die Verbindung zu Draco gebrochen war, würde Narcissa bereits wissen, dass er tot war. Merlin allein wusste, zu was sie in ihrer Trauer fähig war. Wenn sie Tigris nun auch noch verlieren sollten... Severus ließ Lucius im Vorgarten zurück und rannte in Richtung Haus.
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„Severus?"
Das Haus war dunkel. Nur das Mondlicht erhellte Narcissas blasses Gesicht. Sie stand in ihrem Nachthemd auf der Treppe, die in die Eingangshalle führte.
„Severus, ich hatte einen schrecklichen Traum..." Ihre Stimme klang unheimlich, fast wie ein Singsang. Plötzlich lachte sie, und das Geräusch jagte Severus mehr Angst ein, als alles andere, was er an diesem Tag gehört hatte. „Ich bin närrisch, eine närrische Frau. Alles ist in Ordnung. Nicht wahr?"
Sie kam eine Stufe weiter nach unten, auf Severus zu, und er konnte schließlich den wirren Blick in ihren Augen sehen. „Sag mir, dass alles in Ordnung ist!", schrie sie.
Severus schluckte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er wollte sie nicht anlügen. Takt war nie sein Steckenpferd gewesen. „Draco ist tot." Die Worte entkamen seinen Lippen, bevor er sich eines Besseren besinnen konnte.
„Nein!" Plötzlich war sie vor ihm und ihre Finger krallten sich in seine Robe. „Du lügst! Du bist ein Lügner! Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr..." Ihr Schrei verwandelte sich in ein gequältes Stöhnen. Sie fuhr fort, Verleugnungen vor sich hinzumurmeln, während sie auf die Knie sank.
„Komm.", sagte Severus so sanft er konnte. „Ich gebe dir etwas, damit du schlafen kannst."
„Nein!" Sie stieß ihn zur Seite, als er die Hand ausstreckte, um ihr aufzuhelfen. „Nein, nein..."
Severus konnte es schließlich nicht mehr mit anhören, und ließ sie mit einem Zauber in den Schlaf fallen.
„Elf!", rief er, ärgerlich darüber, dass die unfähigen Kreaturen sie in diesem Zustand durch das Haus hatten wandern lassen. „Licht!"
Das Haus erhellte sich schlagartig.
Severus trat einen Schritt zurück bei dem Anblick, der sich ihm bot. Über den ganzen Boden verteilt lagen die Reste der Papiervögel, die Narcissa gefaltet hatte. Es mussten Hunderte sein. Sie sahen aus, als wären sie alle zum gleichen Zeitpunkt in Flammen aufgegangen. Nichts war von ihnen übrig außer graue Gerippe, die zu Asche zerfielen, sobald ein Lufthauch sie streifte.
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Nachdem Severus Narcissa ins Bett gebracht hatte, ging er in die Halle hinunter, um sich um Lucius zu kümmern. Er hatte ihr einen Trank gegeben, der sie für eine Weile schlafen lassen würde, hoffentlich lange genug, um das Trauma zu überwinden. Zumindest lange genug, bis Lucius sich genug gefangen hatte, um sich um sie zu kümmern. Im Moment schien Lucius jedenfalls nicht in der Lage, sich um irgendetwas zu kümmern. Als Severus in die Eingangshalle kam, fand er ihn in einem Sessel, den offenkundig die Hauselfen herbeigebracht hatten, denn normalerweise waren dort keine Möbel. Lucius füllte sein scheinbar nicht erstes Glas Whisky, und schien dabei zu sein, es wie Wasser hinunter zu kippen.
Severus ließ den Alkohol mit einem Schwenk seines Stabes verschwinden. „Du wirst nichts dadurch lösen, dass du dich betrinkst." Insbesondere, da Alkohol in Lucius seine schlechtesten Eigenschaften zu Vorschein brachte, wie Severus aus hinreichender Erfahrung wusste.
Lucius sah ihn zornig an. „Es gibt nichts zu lösen, oder? Es gibt nichts zu ändern. Ich kann mich in meinem eigenen Haus verdammt noch mal so viel betrinken wie ich will, ohne dass mich ein Betteljunge wie du davon abhält."
Severus verzog das Gesicht und sprach einen Ausnüchterungszauber auf Lucius. Dabei rief er vorsichtshalber den Stab zu sich, nach dem Lucius gegriffen hatte. Er wusste, dass Lucius Handmagie beherrschte, aber er war ein erbarmungswürdig schlechter Okklumens, besonders in seinem Zustand. Er war kein Gegner für Severus.
„Wie geht es Tigris?", fragte er.
Lucius fuhr sich fahrig mit der Hand über die Stirn. „Er ist noch am Leben. Viel mehr kann ich nicht spüren. Tigris blockt mich schon lange aus."
Severus war überrascht, aber er ließ es sich nicht anmerken. Er wusste, dass Tigris ein hervorragender Okklumens war, aber um Familienmagie zu blockieren war etwas anderes vonnöten. Alles was Severus darüber wusste stammte aus Büchern, oder dem was er von Lucius aufgeschnappt hatte. Sein Vater, mochten die Würmer sich an ihm vergiften, hatte es nie für nötig gehalten ihn darüber aufzuklären. Folglich war er sich nicht sicher, aber er hatte gedacht, nur das Familienoberhaupt hätte dieses Vorrecht. „Dann wird er am Leben bleiben.", sagte er laut. „Wenn er ihn tot sehen wollte, hätte er seinen inneren Kreis gerufen, oder er wäre bereits tot."
Lucius sah ihn misstrauisch an. „Woher weißt du... oh." Erkenntnis, gemischt mit Demütigung, zeichneten sich auf seinem Gesicht ab.
Severus war zuerst verwirrt, bis ihm klar wurde, dass er gerade preisgegeben hatte, dass er Teil des inneren Kreises war. Lucius' Reaktion ärgerte ihn ein wenig. Sein Cousin hatte niemals aufgehört sich für etwas Besseres zu halten. Nun, er würde damit leben müssen, dass Severus, Nachkomme einer verarmten und namenlosen Familie, sein nobles Selbst in diesem Fall übertrumpft hatte. Nicht, dass Severus besonders stolz darauf war. Es war geschehen, ohne dass er darauf hingearbeitet hatte. Ironischerweise war es Tigris, der dafür verantwortlich war. Der Dunkle Lord hatte Severus immer wegen seiner Fähigkeiten geschätzt, aber er hatte ihm nie genug vertraut um ihn in seinen Rängen aufsteigen zu lassen. Nun, da er ihm mehr und mehr von Dumbledores Geheimnissen preisgab, war er schließlich in seiner Gunst so weit gestiegen, dass er ihn zu einem der zwölf ranghöchsten Todesser gemacht hatte. Es wäre nie geschehen hätte Tigris Severus nicht dazu gezwungen. Ironisch, denn es war alles andere als das, was der Junge wollte. Severus wusste sehr wohl, dass Tigris ihm nicht traute. Der Junge hatte gute Instinkte, er hatte bislang nur nicht gelernt, auf sie zu hören.
„Du solltest froh sein, dass er am Leben ist."
Lucius nickte unsicher. „Das bin ich." Es klang nicht völlig überzeugt.
Severus konnte ihn verstehen, aber er hatte auch Verständnis für Tigris. „Er hatte keine Wahl.", sagte er kühl. „Wäre es dir lieber, er hätte getan, was unser Lord verlangt hat, und Draco zu ihm gebracht?"
„Welch einen hervorragenden Schutz Dumbledore seinen Spionen liefert.", sagte Lucius bitter. „Man sollte meinen ein solch großartiger Zauberer könnte seine eigenen Leute in Sicherheit bringen. Aber die Vergangenheit hat uns ja schon mehrmals eines anderen belehrt. Nur ein Narr würde sich ihm anschließen. Da habe ich immer gedacht, ich hätte meinen Söhnen Vernunft beigebracht."
Severus seufzte. „Ich bin sicher, Draco hatte seine Gründe. Ich hatte immer das Gefühl, dass es sehr schwierig für ihn war, seine Heilbegabung mit den Interessen unseres Lords in Einklang zu bringen. Er war ein zu leidenschaftlicher Heiler. Es musste irgendwann schlecht enden."
„Ich habe es ihm von Beginn an gesagt!", explodierte Lucius plötzlich. Er sprang aus seinem Sessel auf und schritt zornig auf und ab. „Ich habe ihm gesagt, es wird sein Verderben sein, aber hat er auf mich gehört? Nein! Bestimmung! Schicksal! Reiner Irrsinn!"
Er vergrub die Hände in seinen Haaren. „Der dumme Junge. Wenn er nur auf mich gehört hätte. Ich hätte ihn dazu zwingen sollen."
„Du kannst nicht wissen, ob ihn das gerettet hätte.", sagte Severus ruhig. „Ich habe das Gefühl, er war schon seit langer Zeit unglücklich. Es hätte so oder so passieren können."
Severus würde Lucius nicht sagen, dass es nicht seine Schuld war, denn es wäre gelogen. Draco war nur Todesser geworden, weil Lucius ihn so aufgezogen hatte. Er hatte getan, was von ihm erwartet wurde, wie der gute Sohn, der er war. Wenn Lucius ihm auch nur das geringste Zeichen gegeben hätte, dass eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre, dann hätte es niemals so weit kommen müssen. Doch Draco hatte immer nur eine einzige Wahl gehabt – die, die ihn ins Verderben führte. Severus wusste, dass Lucius das sehr wohl bewusst war. Aber der Mann vor ihm würde die Schuld niemals bei sich selbst suchen. Er würde niemals eingestehen, dass er sowohl Draco als auch seinen Mörder zu dem gemacht hatte, was sie waren.
Er erschuf mit einer Handbewegung einen Sessel und setzte sich Lucius gegenüber. „Du weißt selbst am Besten was du hättest tun können und was du nicht hättest tun können."
Lucius starrte ihn an. Unter seiner Verärgerung war noch flüchtig etwas anderes sichtbar. Einen kurzen Moment lang glaubte Severus, sein Cousin hätte verstanden, was er wirklich meinte. Es war ein zugleich hoffnungsvoller und erschreckender Gedanke. Dann jedoch wandte Lucius sich ab und der Moment war verflogen.
„Seltsam", sagte Lucius mit einem zutiefst bitteren Zug um seinen Mund, „wie manchmal unsere Wünsche, wenn sie in Erfüllung gehen, zu unseren größten Albträumen werden."
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Die beiden Männer warteten in einer angespannten Stille. Hin und wieder stand Lucius auf und tigerte nervös auf und ab, bevor ihn Severus mit ein paar harschen Worten dazu brachte, sich wieder zu setzen. Sie hätten in einen der vielen anderen Räume des Hauses gehen können, aber aus irgendeinem Grund brachte es keiner von ihnen zur Sprache.
Sie beide sprangen auf, als die Türen der Eingangshalle sich schließlich öffneten.
Tigris trat mit ein paar schnellen Schritten ein, dann blieb er stehen und starrte sie an. Die Türen fielen mit einem Knall hinter ihm ins Schloss.
Lucius trat einen Schritt auf ihn zu. „Geht es dir gut?"
Tigris öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Dann lachte er, ein gequältes, fast hysterisches Geräusch.
„Geht es mir gut? Es geht mir gut, keine Sorge. Es geht mir HERVORRAGEND." Er machte einen Schritt auf Lucius zu und Lucius wich unwillkürlich etwas zurück. „Draco ist tot!", schrie er. „Dein Sohn ist tot! Ich habe ihn umgebracht! Bedeutet das nicht das Geringste für dich?"
„Natürlich tut es das." Lucius versuchte anscheinend beruhigend zu klingen, aber er erreichte genau das Gegenteil.
„Geh mir aus dem Weg!", schrie Tigris. „Lass mich in Ruhe! Ich will nur allein sein!"
Er stürmte an ihnen vorbei und verschwand hinter der Tür, die zu der Ahnenkammer hinunter führte. Lucius fing sich nach einem Moment der Schockierung und schien ihm nacheilen zu wollen, aber Severus hielt ihn auf. „Lass ihn. Er braucht eine Weile, um das mit sich selbst auszumachen."
„Aber was...", protestierte Lucius unsicher.
„Es geht ihm gut.", unterbrach Severus ihn. „Er ist nicht unverletzt, aber er wird es überleben. Du hast noch andere Dinge, um die du dir Sorgen machen musst." Er sah bezeichnend die Treppe hinauf, in die Richtung, wo Narcissa noch traumlos schlief.
Lucius sah ihn an und gab schließlich nach.
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Als Narcissa schließlich aufwachte, konnte sie sich nicht an das Geschehene erinnern. Lucius versuchte, es ihr klar zu machen, aber gab es schnell auf, als sie ihn einfach ignorierte. Es beunruhigte ihn sehr. Nach Livias Tod war es ähnlich gewesen. Sie hatte sich für eine Weile in ihre eigene Welt zurückgezogen. Vielleicht war es ihre Art damit umzugehen, aber für Lucius war es noch eine zusätzliche Belastung. Er war dankbar, als Severus es übernahm, sich um sie zu kümmern. Schon beim letzten Mal hatten seine Tränke Wunder gewirkt.
Tigris war irgendwo im Haus verschwunden. Lucius wusste, dass es ihm gut ging, aber er hätte gerne ausführlich mit ihm über das was geschehen war gesprochen. Er wollte wissen, was genau mit Draco passiert war.
Während er darauf wartete, dass sein Sohn wieder auftauchte, hatte er die unangenehme Pflicht zu erledigen, sich um den Rest der Welt zu kümmern. Lucius hatte in St. Mungos nachgefragt, da Draco offensichtlich ohne sich abzumelden nicht nach Hause gekommen war. Nachdem feststand, dass er auf der Arbeit fehlte, hatte er ihn vermisst gemeldet. Die zuständige Behörde hatte darauf sehr lakonisch reagiert. Es wurden ständig Menschen vermisst gemeldet, es würde nur die Einsatzkräfte des Ministeriums unnötig belasten, wenn sie schon nach einem Tag eine Suche veranlassen würden. Sollte tatsächlich ein Verbrechen vorliegen – und bei der Allgegenwärtigkeit des Terrors, der in der Zaubererwelt herrschte, war das in vielen Fällen der Fall – war es wahrscheinlich ohnehin bereits zu spät, etwas zu unternehmen. Wenn man Glück hatte, tauchte der Vermisste von alleine wieder auf. Die Auroren waren mit wichtigeren Dingen beschäftigt.
Lucius war angemessen wütend gewesen – es fiel ihm nicht sehr schwer – und hatte einigen Leuten im Ministerium eine Eule geschickt. Möglicherweise würden sie eine Suche nach Draco veranlassen. Sehr wahrscheinlich sogar. Normalerweise erfüllte es Lucius mit Genugtuung, seinen Einfluss spielen zu lassen. Diesmal konnte er sich kaum dazu aufraffen, das Nötigste zu tun, um den Anschein aufrecht zu erhalten.
Lucius hatte noch immer nicht vollkommen verinnerlicht, was passiert war. Mit seinem Verstand mochte er es erwartet haben, aber gefühlsmäßig war er nicht im Geringsten darauf vorbereitet gewesen, Draco zu verlieren. Ein Teil von ihm erwartete noch immer, dass Draco jeden Moment zur Tür herein kam und ihm sagte, dass alles ein schrecklicher Irrtum gewesen war.
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Es war ein Tag später, als Tigris das Zimmer von Narcissa betrat. Severus hatte ihm gesagt, dass es ihr nicht gut ging, und sie Ruhe brauchte, aber er hatte sie einfach sehen müssen. Er hatte es geschafft, seinem Vater und Severus aus dem Weg zu gehen und sich zu ihr zu schleichen.
Tigris war überrascht, als er sie am Fenster sitzend vorfand. Sie blätterte in einem Buch. Als er eintrat sah sie auf und lächelte. „Tigris! Wie schön, dass du hier bist."
Nun war Tigris wirklich verblüfft. Hatten die beiden ihr nicht gesagt, was passiert war?
„Ich habe mir gerade ein paar Bilder angesehen.", fuhr sie fort, und winkte ihm.
Tigris machte einen zögernden Schritt auf sie zu. „Mutter...", begann er stockend. „Draco..."
„Schsch!" Einen Moment lang war ihr Gesicht zu einer zornigen Grimasse verzerrt, aber dann lächelte sie wieder. Der Übergang war so abrupt, dass Tigris für einen Augenblick nicht sicher war, ob er es sich nur eingebildet hatte. „Schsch.", wiederholte sie sanfter. „Komm, schau dir ein paar Bilder mit mir an."
Verwirrt trat Tigris näher und konnte nun sehen, dass das Buch in ihrem Schoss ein Fotoalbum war. Das Bild auf das sie deutete zeigte drei kleine Mädchen, zwei dunkelhaarig und eines blond.
„Das ist Bella.", sagte seine Mutter. „Das ist Andy, und das bin ich. Waren wir nicht hübsch?"
Das älteste Mädchen auf dem Bild sah stirnrunzelnd zu ihm hoch. Sie war vielleicht zehn Jahre alt, dennoch erschien Tigris etwas an ihr falsch, link und bösartig. Die jüngeren Mädchen kuschelten miteinander ohne die Welt um sie herum zu beachten.
„Andromeda war meine allerliebste Schwester.", sagte seine Mutter. „Bella war immer gemein zu ihr." Sie blätterte weiter in dem Album und hielt schließlich bei einem anderen Foto inne. Es zeigte eine junge, dunkelhaarige Frau, die seiner Mutter erschreckend ähnlich war, zusammen mit einem Tigris unbekannten Mann. In ihrem Arm wand sich ein ungeduldiges kleines Kind, dessen Haare beständig die Farbe wechselten. „Ein hübsches kleines Mädchen, oder? Man würde nie denken, dass es ein Schlammblut ist. Wusstest du, dass sie Nymphadora heißt? Ich hatte auch mal ein kleines Mädchen..." Ein Hauch von Traurigkeit huschte über ihr Gesicht, aber er war schnell verschwunden. „Es war nicht recht von Andromeda, sie so zu nennen. Alle in unserer Familie heißen immer wie die Sterne, das ist Tradition und Tradition ist wichtig. Ich habe dich und Draco auch nach Sternen benannt."
„Ich wollte ihn nicht umbringen.", flüsterte Tigris.
Sie lächelte erneut und blätterte weiter. „Natürlich nicht, Kind."
Tigris starrte sie an. „Was zur Hölle ist los mit dir? Draco ist tot und du..."
Sie runzelte die Stirn und er verstummte. „Ich habe dir gesagt, du sollst still sein.", sagte sie in einem ungehaltenen Tonfall. „Es ist nicht schön, so etwas zu sagen. Außerdem ist es nicht wahr."
Ungläubig trat Tigris einen Schritt zurück. „Was..."
„Ihr seid alle Lügner.", sagte sie, den Mund trotzig verzogen. „Du bist der allergrößte."
„Du bist verrückt...", flüsterte er.
„Ihr habt alle Geheimnisse vor mir.", fuhr sie unbeirrt fort. „Aber ich habe auch ein Geheimnis, ein großes Geheimnis, und ihr werdet es nie wissen." Sie lächelte selbstzufrieden und drückte das Album an ihre Brust.
„Ein Geheimnis.", sagte er unwillig.
„Ja! Aber ich sag es dir nicht, es ist ein Geheimnis." Narcissa kicherte kindisch.
Ärger wallte in ihm auf, vollkommen sinnloser Ärger, da sie offensichtlich nicht wusste, was sie redete. Der Ärger mischte sich mit dem Entsetzen über den Zustand, in dem sie war. „Ich gehe besser.", brachte er hervor.
„Ja, tu das.", sagte sie. „Du langweilst mich. Du hast mir nichts Interessantes gesagt. Langweilige Menschen sind furchtbar anstrengend." Sie öffnete das Album wieder und summte leise vor sich hin.
Tigris wich langsam zurück und aus dem Raum.
Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fand er sich Auge in Auge mit einem wütenden Severus Snape. „Ich habe dir gesagt, dass sie Ruhe braucht!", fauchte er. „Hörst du niemals auf irgendetwas, was man dir sagt?"
„Du hast mir nicht gesagt, dass sie irre ist!", zischte Tigris zurück. Es kostete ihn große Mühe, den Mann nicht anzuschreien.
Severus ohrfeigte ihn und Tigris war so überrascht, dass er nichts dagegen tat. „Rede nicht so über deine Mutter! Kannst du auch nur im Geringsten nachvollziehen, was für einen Schock sie erlitten hat? Es dreht sich nicht immer alles nur um dich."
„Ich habe nicht...", begann Tigris.
Severus schnaubte abfällig, ohne ihn auch nur ausreden zu lassen. „Sag mir nicht, du hast an sie gedacht. Hättest du an sie gedacht, hättest du ihr die Ruhe gelassen, die sie braucht, um sich zu erholen. Glaubst du, sie erteilt dir Absolution? Dann weißt du nicht das Geringste über die Natur ihrer Liebe."
„Ich weiß mehr als genug.", sagte Tigris ärgerlich. Er wusste nicht genau, warum er Severus nicht für seine Dreistigkeit verfluchte, aber er stieß ihn nur zu Seite und ging an ihm vorbei.
Severus griff nach seinem Arm. „Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen. Die Folgen sind so wie sie sind. Akzeptiere es und lebe damit. Vergeben oder vergessen wird es niemand."
Sie starrten sich einen Moment lang an. Severus' Gesicht war kalt und unleserlich. Tigris wusste nicht, was er fühlen sollte. Alles war in Chaos. Er wollte nur vergessen, nicht mehr denken. Sich nicht mehr darum kümmern, was alle anderen dachten. Er wollte nur Ruhe und Frieden. Schließlich riss er sich los und ging.
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Einen Tag später tauchte die Leiche auf.
Es war ein schrecklicher Skandal. Dumbledore hatte den Leichnam nach St. Mungos überführen lassen, und es wurde schnell öffentlich, dass Draco ein Todesser gewesen war. Dumbledore sagte in dem nachfolgenden Interview, dass er getötet worden sei, weil er hatte aussteigen wollen. Lucius und der Rest der Familie stritten natürlich ab, etwas von all dem gewusst zu haben. Tigris konnte nicht zur Arbeit gehen, ohne von Reportern verfolgt zu werden, und musste schließlich Urlaub nehmen. Dank Tigris' Beziehungen zum Zaubereiminister wurden alle Untersuchungen in Richtung ihrer Familie schnell ad acta gelegt, aber deswegen war der Medienrummel längst nicht vorbei. Nicht nur die Tatsache, dass Draco ein Malfoy war, sondern auch, dass er ein inzwischen bekannter Heiler war, heizte das Ganze an. Ehemalige Patienten von ihm meldeten sich zu Wort, Arbeitskollegen, Bekannte und solche, die nur behaupteten, ihn gekannt zu haben. Lucius war unfähig, dem einen Riegel vorzuschieben.
Narcissa und Lucius hatten einen gewaltigen Streit, nachdem Lucius in einem Interview gesagt hatte, dass er einen Todesser nicht im Familiengrab würde beerdigen lassen. Der nächste Streit entstand, als Tigris sagte, er würde nicht an der Beerdigung teilnehmen.
Tigris weigerte sich weiterhin, seinen Eltern zu erzählen, was eigentlich passiert war, und so mussten sie mit dem leben, was die Heiler ihnen mitteilten, und das war nicht viel. Dumbledore hatte gesagt, dass Draco verflucht worden war, aber niemand kannte den Fluch. Als der Leichnam freigegeben wurde, war er bereits magisch wiederhergestellt und in Stasis versetzt, man sah nichts mehr von dem, was vielleicht passiert war.
Die Luft im Haus war zum Schneiden dick.
Hinzu kam, dass Narcissa immer wieder zwischen klaren Phasen und Phasen geistiger Verwirrtheit hin und her wechselte. Zu manchen Zeiten schrie und tobte sie, zu anderen zog sie sich völlig in sich selbst zurück und ignorierte alles um sie herum.
Inmitten von dem allen war Severus, der seine Stelle in Hogwarts gekündigt hatte und sich nun um Narcissa kümmerte, während er auf der Suche nach einer neuen Anstellung war. Jedenfalls war das die Begründung, warum er sich im Herrenhaus aufhielt.
Er beobachtete, wie Narcissa langsam zu ihrem alten Selbst zurückfand. Je mehr sie gesundete, desto mehr zog sie sich von Tigris zurück. Sie wurde kühl und distanziert, wie Severus es vorausgesehen hatte. Narcissa hatte immer das, was sie verloren hatte, weit mehr geliebt, als das, was ihr die Gegenwart bot.
Tigris' Gleichgültigkeit schockierte ihn dann und wann. Severus hatte immer gewusst, dass der Junge eine Grausamkeit besaß, die die seines Vaters überstieg. Er hatte zugesehen, wie Lucius und sein Meister die schlimmsten Eigenschaften des Jungen hegten und pflegten wie eine kostbare Blume, und still darauf gewettet, welches Monster eines Tages daraus hervorgehen würde. Dennoch hatte er geglaubt, dass Tigris wahrhaft etwas für seinen Zwilling empfand. Nun fragte er sich, ob es närrisch gewesen war, das zu glauben. Ihres Lords meistgeschätzter Diener machte sicher nicht den Eindruck, als würde er für irgendjemanden etwas empfinden, abgesehen von sich selbst. Severus fragte sich oft genug, ob Voldemort nicht nur geisteskrank sondern auch blind war, denn es war recht offensichtlich, dass sein Protege nicht loyal zu ihm war. Gewiss, Tigris mochte das lautstark verkünden, aber es war eine alte Weisheit, dass Lügen immer am lautesten gerufen werden. Im Gegensatz zu Bellatrix war Tigris nicht von sklavischer Bewunderung geblendet. Severus wusste nicht, warum er sich Voldemort angeschlossen hatte, aber es war sicher nicht aus Glaube an seine Sache. Severus vermutete, der einzige Grund war Machtgier. Wenn der Dunkle Lord das nicht sah, wenn er nicht erkannte, welche Schlange er an seiner Brust nährte, war er ein größerer Idiot als Severus jemals gefürchtet hatte. Nicht, dass es ihn sehr kümmerte. Severus hasste Voldemort mit einer Leidenschaft, die Tigris noch lange nicht erreichte. Vielleicht würde sich das eines Tages ändern, aber bis dahin war Severus glücklich damit, sich zurückzulehnen, und zuzusehen, wie der Lord sich seinen eigenen Untergang schuf.
Nur zu seltenen Gelegenheiten fragte er sich, ob er nicht der Skylla entrann, nur um Charybdis gegenüber zu stehen.
Vielen Dank für eure Reviews an: Morgenstern, Shereon, Reditus Mortis, Miriel17, Imobilus, strega79, LunaNigra, LuJo, Giftschnecke, Stocki, Spellwinder, xAuroraSkyx, roman, deme, Milli 93, kerze85
Dieses Kapitel ist all jenen gewidmet, die es schon so lange sehnsüchtig erwartet haben und im Besonderen Reditus Mortis, die mich daran erinnert hat, zu posten.
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