Weiter geht es hier mit unserem nächtlichen Abenteuer und Jacques Brel, der dazu traurige Chansons zum Besten gibt. Und leider müsst ihr Euch noch bis zum dritten Kapitel gedulden, bevor ich ein wenig vertrauteren Boden betreten kann. Aber es scheint so, als hätte die Geschichte ihr eigenes Tempo und will sich nicht hetzen lassen.

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Meine Füße tragen mich durch das Treppenhaus, ohne den Boden wirklich zu berühren. Mich graust es vor dem kalten Neonlicht, das meinen Schatten anfällt und verschlingt, kaum dass ich einen Fuß nach draußen setze.

Also renne ich, springe die Treppenabsätze herunter, nutze die Fliehkraft der engen Treppenschlucht um noch schneller zu entkommen und die Unterstützung des Geländers um nicht zu fallen. Schon kann ich den Ausgang sehen, bedrohlich verlockend und nur noch wenige Schritte vor mir, als ich gezwungen bin abrupt zum Halt zu kommen.

Brennender Schmerz schießt von den gestauchten Mittelfußknochen in mein Gehirn aber ich komme rechtzeitig zum Stehen.

Vor mir, am Fuß der Treppe, steht Frau Bachmann mit leicht schräg geneigtem Kopf und halbgeschlossenen Augen und lauscht auf den Regen.

Sie trägt ein wunderschönes himmelblaues Abendkleid, das ihre zarte Porzellanerscheinung noch betont und sie so zerbrechlich wirken lässt, dass ich für einen winzigen Moment den Scherbenhaufen vor mir sehen kann, den ich angerichtet hätte, wäre ich in sie hineingerannt.

Der Gedanke läßt mich erschaudern.

Sie lächelt ihr Altfrauenlächeln, mit falschen Zähnen und ehrlichen Lachfältchen, die ihre wasserblauen Augen strahlen lassen. „Johanna!", entkommt es ihr ein klein wenig erschrocken.

„Was ist denn passiert? Sie sind ja ganz außer Atem?"

Ich bringe meine Atmung unter Kontrolle und lächle zurück. Es fällt mir nicht schwer. Nicht bei ihr. Ich brauche auch nichts zu erklären. Brauchte ich noch nie. Für gewöhnlich bestreitet Frau Bachmann die Konversation alleine. Sie ist die älteste Frau die ich kenne und mit Abstand die Schönste. Ich kann nicht sagen woran das liegt. Ihr Gang ist stolz und aufrecht auch wenn ihre Beine sich nach außen biegen und ein kleiner Buckel ihren Nacken nach oben wölbt. Ihr Gesicht ist über und über mit Runzeln und Fältchen durchzogen, vor allem um die wasserblauen Augen, die immer ein wenig trüb sind und nur noch auf die Vergangenheit gerichtet. Sie leuchten immer. Und sie lächeln.

Ihr Abendkleid, das Selbe, das sie jeden Abend trägt, wenn sie in diesem Zustand ist, verleiht ihr die Aura einer in Würde gealterten Diva. Oder sie ihm. Sie sind miteinander alt geworden und irgendwie zusammen gewachsen im Laufe der Jahrzehnte. Zwei Zeitreisende, gestrandet in einer fremden Epoche.

Inzwischen hat sie mich eingehakt und wir steuern auf ihre Wohnungstür zu, ein vertrautes Ritual, dass immer dann stattfindet, wenn ich Johanna bin.

Johanna bin ich nur für Frau Bachmann und nur nach 16:00 Uhr. Dann lassen ihre Medikamente nach und sie gleitet zurück in ihre eigene Zeit. In die Zeit, in der es eine Johanna gab, die immer cremefarbene bodenlange elegante Kleider trug und für Frau Bachmann wie eine Tochter war; das sagt sie immer zu mir, dass ich für sie wie eine Tochter bin, die sie nie hatte.

Ich sehe in ihre Augen und sehe meine eigene Reflexion. Ich, nicht mit Hose und Jacke, ohne Schlammspritzer und Turnschuhe, sondern im Kleid mit hochgesteckten Haaren. Es macht mir Freude, Johanna zu sein. Und es ist unser Geheimnis, ihres und meines.

Ich drücke die Klinke herunter und geleite sie in ihre eigene Wohnung. Die Tür ist nie verschlossen. Das ist etwas, dass sie früher nie gemacht hat und heute würde sie es nicht verstehen, wenn die Tür plötzlich verriegelt wäre. Sie würde die Schlüssel nicht finden und Panik bekommen.

Auf dem edlen Beistelltischchen im Wohnzimmer, das auf mich so filigran wirkt, als könne es nicht einmal sein Eigengewicht tragen, türmen sich Kaffee, Kuchen und Plätzchen zusammen mit zwei Gedecken und einer heißen Kanne Kaffee.

Ich verstehe. Auch wenn es draußen inzwischen Nacht geworden ist, bei Frau Bachmann ist es gegen 15:00 Uhr im Jahre Irgendwann und sie trinkt Kaffee mit Johanna während sie auf ihren Mann wartet. Ich habe nie herausgefunden, ob es in Johannas Leben auch etwas gibt, auf das es sich zu Warten lohnt.

Also führe ich sie zu ihrem französischen Canapée und setze sie sanft nieder. Sie drückt meine Hand und lächelt wieder, doch ich sehe, dass sie müde ist. Ihre halbdurchsichtigen Lider flattern und ihr Kopf neigt sich bereits zur Seite. Als ich sie hinlege und ihre Beine, die nichts zu wiegen scheinen, neben sie bette, protestiert sie nicht und als die cremefarbene Wolldecke sich auf ihre schmalen Schultern senkt, schläft sie bereits.

Ich bin hin und hergerissen zwischen Bedauern und Erleichterung. Bedauern, weil ich nun gehen muss und vielleicht erst morgen Abend wieder Johanna sein darf, die lange Kleider trägt und zu Kaffee und Kuchen eingeladen wird, und Erleichterung, weil ich diesem seltsamen Haus mit seinen schrumpfenden Räumen, das Einsamkeit ausatmet wie ein schleichendes Gift endlich entkommen kann.

Leise verwische ich meine Spuren, räume Kaffee und Kuchen in die winzige Küche, die mir inzwischen vertrauter ist, als meine eigene, lege Jacques Brel auf den Plattenspieler, lösche die Lichter bis auf eine kleine gedimmte Leselampe und schleiche mich endgültig hinaus in die Nacht.