Heute ohne einleitende Worte, ohne Musik, nur mit dem Geräusch der Schritte auf dem Kopfsteinpflaster einer fremden Stadt und dem Herzschlag.
Der Regen küsst feuchte Spuren auf meine gedankenfiebrige Stirn, wäscht die Furcht aus meinem Gesicht.
Mein neonlichtgepeinigter Schatten schließt zu mir auf, fließt gegen die nächste Hauswand, weg aus dem Schein der Laternen und ich folge ihm. Wir setzten uns beide nicht gerne dem toten Strahlen künstlicher Lichtquellen aus. Man verliert dabei an Substanz.
Lange verwaiste Straßenzüge heißen uns willkommen. Warmes Schattendunkel. Klare Nachtstille. Die Luft trägt weit und ich kann endlich atmen.
Hände in den Jackentaschen vergraben, laufe ich los. Soweit die Füße tragen, kommt es mir in den Sinn. Und: Abenteuer. Mein Kopf beginnt Gedichte zu schreiben. Zeilen aus dunklem Gold. Jeder Gedanke ist Poesie. Alles fließt und atmet, ich fühle den Herzschlag der Häuser unter meinen Füßen und lasse mich davontragen. Folge dem Sog tiefer in die Nacht, tiefer in die Sehnsucht und fühle mich unsterblich.
Die Nacht ist zeitlos, da wo ich lebe. Die Uhren scheinen die Dunkelheit zu meiden wie ich das Licht. Einzig mein eigener Herzschlag begleitet den Rhythmus meiner Schritte mit einem Gefühl vertrauter Unendlichkeit. In mir wächst eine innere Ruhe, dass der Morgen nicht eher sein kaltes Licht über mich schütten wird, bis ich mein unbekanntes Ziel erreicht habe. Ich lasse mich tragen, von meinen Gedanken, den dunklen Strömen der Nacht, die Farben auflösen, Konturen verwischen und die Welt sanft und ohne scharfe Kanten hinterlassen. Ungefährlich für den Moment, schweigend und schön.
Ich laufe wie im Nebel, mein Herz ist randvoll mit flüssiger Freude, die bei jedem Schritt überschwappt und in kribbelnden Strömen durch meinen Körper rinnt. Ein wildes Lächeln schleicht sich in Mundwinkel und Augen, in meiner Kehle sitzt ein Freudenschrei, den ich sorgfältig aufbewahre, weil ich die Stille nicht vertreiben will, aber er kitzelt in meinem Hals. Und dann sehe ich es.
Es ist winzig zwischen all den riesigen Backsteinhäusern, wirkt ein wenig wie ein alter treuer Hund, der sich zu den Füßen seines Herrn zusammengekringelt hat, während dieser sich mit anderen Herren unterhält. Die Fassade scheint noch aus Lehm oder Sandstein zu sein, weichkonturig, ohne schmerzhaft scharfe Kanten. Die Wände sind schief und nach außen gewölbt. Das Obergeschoss kippt Richtung Straßenmitte, während das Ziegeldach, das schuppig und lebendig wirkt, als würde es atmen, sich über die winzige Hütte spannt wie eine Haut. Drachenhaut vielleicht. Die kleinen Ziegel scheinen jedenfalls noch von Hand geformt und gebrannt zu sein. Sie atmen Leben aus und Alter und Zeit und sind den schrägen Wänden bei all ihren grotesken Verrenkungen gefolgt.
Ich fühle sofort Sympathie für die schäbige kleine Hütte, die es geschafft hat, den Bauherren irgendwie zu trotzen und sich gegen die kalten Metallfronten und geschlossenen Backsteinschichten seiner Nachbarn zu behaupten. Ein Metallschild schwingt sanft über der Tür, obwohl kein Wind geht und verkündet in weit schwingenden Zügen: Der Weidenzweig´.
Vermutlich hat ein Vorübergehender es mit dem Kopf gestreift, selbst ich könnte es mühelos erreichen.
Warmes Licht fließt aus den winzigen Holzfensterchen auf die Straße. Sie sehen so aus, als wären sie seit Jahren nicht geputzt worden. Sind fast gänzlich mit Wein zugerankt, ein seltener Anblick in dieser Gegend. Eigentlich ist es hier zu kalt für Wein aber vielleicht spenden die großen Nachbarn den nötigen Windschutz. Es scheint eine kleine Kneipe zu sein, vermutlich mit den üblichen drei Gästen, die zu solchen Relikten dazu zu gehören scheinen wie die Fliegen zur Kuh und die meist keinen Tag jünger sind, als das Gebäude, das sie sich zu ihrem Lebensmittelpunkt erkoren haben.
Jedenfalls bin ich neugierig und versuche im Näherkommen unauffällig durch eines der kleinen Fensterchen zu spähen. Feine Geruchsfetzen nach frischem Bier und gut gewürztem, reichhaltigem Essen schwimmen an mir vorüber und erinnern mich schmerzhaft an Tee und Toastbrot, die einzigen Dinge, die ich noch zu Hause habe nach einem Einkaufsversuch der an mangelndem Appetit und Unentschlossenheit kläglich scheiterte.
Die schmale Holztür schwingt knarrend auf, noch ehe ich das erste Fensterchen erreichen kann. Es kostet mich große Mühe nicht so ertappt auszusehen, wie ich mich fühle, doch anscheinend gelingt es mir, denn die Frau, die die Wirtin sein könnte lächelt freundlich. Vielleicht ist sie auch an Neugierde gewöhnt und freut sich über jeden Gast, der sich hierher verläuft. Sie wink mich näher ran und mir wird bewußt, wie nass und kalt und müde ich vom Herumstreunen im Regen bin und die Aussicht auf ein ruhiges Plätzchen in einer warmen, dunklen Ecke und etwas heißes im Magen wischt all meine Bedenken zur Seite.
Ich bin jemand, der es hasst, wenn sich alle Köpfe auf mich richten, sobald ich einen Raum betrete. Doch dank meiner freundlichen Wirtin, die mich zielsicher durch einen schmalen Flur, in einen urigen Gastraum, der nebenbei bemerkt, die Außenmaße des Gebäudes Lügen straft, in den halbschattigen dunklen Teil am Ende des Raumes scheucht, bleibt mir das erspart. Sie lotst mich mit eben jenem intuitiven Gespür zu der gemütlichen, mit kleinen Kissen und Fellen ausgestatteten Ecke, in der es ruhiger ist, wie es nur Menschen besitzen, die solche kleinen Spelunken führen und das mit Leib und Seele.
Es ist wie in einem Traum, einem von den Schönen, in denen immer das passiert, was man sich wünscht. Ich bin müde und eine Art knochenlose Schwere ergreift von mir Besitz. Der überheizte, rauchige Raum lullt mich ein mit seiner Wärme, seinen guten Düften und einer Geborgenheit, die, wenn ich sie je empfunden haben sollte, gewiss zu den frühesten Erinnerungen meines Lebens gehört.
Der Gastraum ist überraschend gut besucht, auch wenn es die Ausgestoßenen, die Heruntergekommenen und die selbst gemachten Außenseiter, wie ich es einer bin, zu sein scheinen, die die Kundschaft bilden. Ein bunt zusammen gewürfeltes Völkchen vom Penner- bis zum Gothiklook, dazwischen ein paar Farbkleckse, lange Röcke, Stiefel, Sandalen, Turnschuhe, die die Großeltern meiner Turnschuhe sein könnten und Unmengen langer Mäntel, die über Stuhllehnen und aus der zu kleinen Garderobe quellen. Zudem scheint entweder die Kundschaft oder die Wirtin selber einen Gefallen an ausgefallenem Kopfschmuck zu finden, denn Hüte jeder Epoche und jeden Modestils, so kommt es mir vor, die ich von Hüten keine Ahnung habe, komplettierten das Bild.
Wären die Gäste jünger, wesentlich jünger, ich würde mich an den Kneipenausflug einer Modeschule erinnert fühlen. Doch abgestoßene Ärmel, Flicken und verblichene Farben machen deutlich, dass es sich hierbei wirklich um Alltagskleidung handelt.
Ich schäle mich aus meinen nassen Schichten, dehne und räkle mich genüsslich, strecke Arme und Rücken nach oben durch und halte die Augen genießerisch geschlossen. Fast habe ich die mir eigene Katzenzufriedenheit erreicht, nur mein leerer Magen grummelt immer noch. In diesem Moment spüre ich es. Ich habe schon immer einen guten Instinkt dafür gehabt, wenn mich jemand beobachtet, doch das hier ist kein sanftes Kribbeln im Nacken. Dieser taxierende Blick geht durch und durch. Verwirrt schlage ich die Augen auf und mein Blick trifft den Seinen.
Es ist ein kühler Blick, analysierend und einschüchternd, fast so, als wäre er der Meinung, er hätte ein Recht hier zu sein, ich aber nicht.. Ich erwidere ihn entschlossen und verteidigungsbereit, obwohl ich im Grunde meine Augen abwenden will, aber das hieße Klein bei geben. Hieße Schwäche.
Ich bin kein Kämpfer. Wenn es eng wird weiche ich aus. Aber ich bin auch kein Idiot. Mann muss sein Gegenüber ja nicht merken lassen, dass man eigentlich nicht kämpfen will. Ich kann immer noch bluffen.
Er antwortet mir mit einer hochgezogenen Augenbraue. Es sieht spöttisch aus. Dann gleitet sein Blick über mein Gesicht, verharrt auf meinem Pullover, schweift über meine Turnschuhe und die abgestoßene Jacke, die ich mit herein gebracht habe. Ich bin sehr froh über den schweren Holztisch, der den Rest von mir verbirgt.
Mir wird bewußt, dass sich eine kleine Lache aus Schlammwasser um meine Turnschuhe bildet, während er mich mustert. Im Raum ist es irgendwie nicht mehr so heiß wie noch gerade eben und ich krieche zurück in die Tiefen meiner Jacke und ziehe die Schultern hoch.
Und wieder werde ich gerettet, denn eine kugelrunde kleine Frau tritt an meinen Tisch und schiebt mir einen schweren Bierkrug vor die Nase. Der Inhalt duftet verlockend süß und bitter zugleich und ein wenig holzig. Ich bin ihr mehr als dankbar, obwohl ich überhaupt nichts bestellt habe und grabe aus den Tiefen meiner Hose ein wenig Geld hervor, dass ich ihr reiche. Sie betrachtet es einen Moment, fast so, als sähe sie so etwas zum ersten Mal, schüttelt dann den Kopf und meint, das wäre schon in Ordnung.
Sie verschwindet wieder in den rauchigen lärmenden Tiefen des Gastraums und gibt den Blick auf meinen unangenehmen Beobachter wieder frei. Doch der hat sich abgewandt und seine Adlernase in ein Buch gesteckt. Ich bin nicht länger Zielpunkt seiner Betrachtungen und erleichtert darüber nehme ich einen tiefen Schluck aus dem Tonkrug. Sofort wird der Gastraum noch ein wenig einlullender, die Kanten noch etwas weicher und ich lehne mich zurück in die schäbigen, abgewetzten, doch so einladenden Kissen, zücke mein fledriges Notizbuch und beginne zu schreiben.
