So, das vorletzte Kapitel meine Lieben und ich war ganz hin und weg von den vielen Reviews und euren Empfindungen. Irgendwie ist es mir da tatsächlich gelungen, meine Gefühle in eure Herzen zu tragen und ich muss gestehen, ich bin mehr als nur ein bisschen stolz auf das neue Kapitel, denn ich finde, es ist noch einen Hauch besser geworden.
Habt viel Freude daran und laßt mich ein wenig teilhaben. Auch heute gibt es keine Musik, aber dafür sehr viel Leben.
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Die knittrigen Seiten glätten sich unter meiner Berührung. Ich streichle sie gedankenverloren, während die Bilder in tosenden Strömen aus mir heraus brechen. Sie verwirbeln in ihrer Eile das Papier zu erreichen, berühren einander, schlagen Wellen und reißen mich weiter in die Tiefe meiner Gedankenflut. Meine Hand zittert vor Anstrengung, meine Augen irrlichtern von Seite zu Seite, ich streiche, verbinde, korrigiere. Ich wünsche mir mehr Augen, mehr Hände, schneller schreiben zu können. Der Strom der Bilder ist gewaltig, ein riesiger Damm und nur ein winziges Rinnsal, dass ich zu zeichnen vermag. Ich seufze frustriert, fahre mir durch die Haare. Bemerke es kaum.
Alles will ich einfangen. Den Herzschlag der Häuser, das regenfeuchte Leuchten des Pflasters, den Geruch der Dunkelheit. Ich schreibe und schreibe. Ich bin glücklich und verzweifelt. Die Seiten füllen sich und doch rinnt mir der Gedankenstrom wie Sand durch die Finger. Was ich auch versuche, er windet sich seidig und lebendig, und entkommt meinen ungeschickten Versuchen mühelos.
Zu wenig, denke ich, es gibt einfach nicht genügend Wörter. Sprache ist primitiv, unvollständig. Wozu soll es denn gut sein eine Sprache zu sprechen, wenn mich dennoch niemand versteht? Ich will euch diese Bilder in meinem Inneren zeigen. Ich will Berg sagen und ihr sollt ihn sehen können, diesen Berg, der da in meinem Inneren existiert, der seine herbstlaubbrennenden Flanken in ein Tal ergießt, und seinen Gipfel in den Himmel reckt, so hoch oben, dass mir die Augen tränen, bei dem Versuch das Blau vom Grün zu trennen. Diesen Berg sollt ihr sehen, keinen anderen. Ich brauche mehr Wörter. Keine meiner Zeilen kommt den Bildern gleich. Es sind Skizzen, hingeworfene Linien. Kindergekrakel. Ausdrucksstark aber unsauber. Tiefe fehlt und Perspektive. Wie soll ich die 328 Nuancen von Nachtschwarz umschreiben? Ein einziger Lidschlag, dann bekommt das Nachtschwarz 34 Nuancen Cremeviolett eines unaufhaltsamen Morgens. Der Geruch von Tautropfen auf morgenfeuchter Haut, die zu frieren beginnt, einen Herzschlag bevor Du erwachst?
Ich habe angefangen zu weinen, aber ich habe es nicht bemerkt.
Das Leben rinnt mir durch die Finger, ich kann es nicht halten. Jeder Moment ist einzigartig, ist kostbar, unwiederbringlich. Vergangen. Ist mir entkommen und mein Hunger bleibt ungestillt.
Lebenshunger, denke ich. Und ich will wieder Haut an Haut liegen. Will mich in einen Herzschlag legen, tief, dunkel, hypnotisch. Mir ist kalt und es gibt in meinem Inneren nichts das mich wärmt. Ich sehne mich nach außen, wo es Wärme gibt, aber ich fürchte die Schärfe der Kanten. Fürchte meine eigene Zunge, die sich so mühelos durch Gefühle schneidet wie japanischer Stahl.
Ich kann Dir nicht geben, was du brauchst, hast du gesagt. Und ich verstehe, dass du gegangen bist, weil ich trotz allem was du mir gegeben hast, immer noch so hungrig war, so durchgefroren. Es war nicht deine Schuld und auch nicht meine. Nur ändern konnten wir es auch nicht.
Und so schreibe ich. Schreibe meine Seele in ein knittriges Notizbuch bis ich mich wieder ganz leer und ausgeräumt fühle, lasse nur ein winziges Fetzchen übrig, zart wie ein Nebelschleier, der in mir wachsen darf, bis er so undurchdringlich geworden ist, dass ich fürchten muss, mich in mir selbst für immer zu verlieren.
Licht, denke ich, ich brauche Licht, oder Schatten, ich weiß nicht. Kann ich nichts sehen, weil es so hell oder so dunkel ist? Ich brauche Kontraste, damit ich sehen kann, wo ich hingehe und aufhöre mir an den Kanten weh zu tun.
Dann ist der Spuk vorbei. So plötzlich wie er begonnen hat. Die Bilderflut verebbt langsam und ich sehe voller Faszination auf die neu beschriebenen Seiten. Viele Seiten sind es geworden, voller Ideen, unendlich kombinierbar. Ich krame ein weiteres Büchchen aus meiner Tasche und beginne mit dem ersten Gedanken.
Herzschlag, schreibe ich.
Ich messe die Entfernung zwischen uns mit einem Herzschlag.
Dunkel, pulsierend, denke ich und kann wieder deine Haut riechen. Nach Milch und wildem Honig und nach Holzkohlenglut, direkt über dem Herzen.
Mir fehlt deine Wärme.
Es ist immer so kalt.
Wenn die Herzschläge zu weit auseinander liegen, müssen wir beide sterben, denke ich. Oder wir trennen uns vorher. Wenn wir viel Glück haben, stirbt vielleicht nur einer und wenn wir Pech haben und wir trotzdem beide sterben müssen, können wir es alleine tun und in der Illusion, der Andere hätte es irgendwie geschafft.
Ich will nicht alleine sterben, denke ich. Und jetzt bemerke ich, dass ich weine.
Ich lege mein Buch neben mich, auf die kantenlose Holzbank. Meine Fingerkuppen tasten über die Rundungen, die Schnitte und Löcher. Auf dieser Bank haben so viele Menschen gesessen, dass sie alle ein wenig Kante mitgenommen haben. Und jetzt sitze ich hier und brauche mich nicht mehr zu fürchten.
Ich versuche mir vorzustellen, wer all diese Menschen gewesen sind und was sie hier gemacht haben. In meiner Vorstellung sind es Hunderte von Menschen, vielleicht Tausende, die den Fußboden und die Balken und sogar die Steintreppe, über die ich vor einer kleinen Ewigkeit ins Innere gelangt bin, so abgesessen und abgelaufen haben, dass jetzt alles sanft und schief und sicher geworden ist. Ich weiß, dass das nicht sein kann, so alt kann dieses Hüttchen garnicht sein, und doch…
Ich richte meine Aufmerksamkeit ein wenig weiter in den Innenraum. Hier wird viel gelacht und derbe Scherze wandern über die Tische. Man nimmt kein Blatt vor den Mund und offensichtlich auch nichts lange übel. Langsam trocknen meine Tränen. Ich fange ein paar Wortfetzen auf. Zu wenig, um wirklich etwas zu verstehen, aber die Stimmen klingen voll und echt und ehrlich und ich gebe den Menschen in meiner Phantasie Namen und eine Geschichte und denke mir kleine Begebenheiten aus, die so nie passiert sind. Aber es macht mir Spaß und ich habe das Gefühl nicht mehr fremd und allein zu sein.
Der Einzige zu dem mir keine nette Geschichte einfallen will, ist mein mürrisches Gegenüber in der anderen dunklen Nische. Ich betrachte ihn verstohlen durch meine Wimpern, während ich vorgebe, in eine andere Richtung zu sehen. Er liest noch immer in seinem Buch, das abgegriffen und alt und sehr kostbar aussieht, aber ich muss vorsichtig sein, damit er mich nicht bemerkt. Er gehört definitiv zu den Menschen, die es spüren, wenn man sie beobachtet.
Es ist auf exquisite Weise hässlich. Und er weiß es, da bin ich mir sicher. Die Natur hat sich einen grausamen Spaß daraus gemacht, ihn mit Körperteilen auszustatten, die alle auf ihre Art und für sich genommen elegant und schön oder markant und edel gewirkt hätten, würde ihre misslungene Kombination untereinander nicht jede Ästhetik nachhaltig zerstören.
Ein Beispiel? Gerne. Beginnen wir mit seinen Händen. Er hat die Hände eines Pianisten. Lange, schlanke wohlgeformte Finger. Sie gleiten beim Umblättern sinnlich über die Buchseiten, streicheln, liebkosen das Leder des Einbandes, spielen mit den Seiten und bewegen sich wie zu einer fernen Musik. Fließend und schön. Ich könnte stundenlang hier sitzen bleiben und mich davon hypnotisieren lassen, ohne mich jemals daran satt zu sehen.
Nur leider sind diese Hände an Armen angewachsen, die ebenfalls lang und schlank sind, aber zu dünn für einen Mann seiner Größe. Er ist weit über den Punkt hinaus an dem er asketisch wirken würde, er ist hager und wirkt ausgezehrt und müde und älter als er sein kann. Er sitzt gebeugt, in der Haltung eines Bücherverschlingers und lauert zusammengesunken über den Zeilen. Eine seiner schönen Hände stützt seine blasse Stirn und zwischen seinen feingliedrigen Pianistenfingern quellen dunkle Ströme strähnigen Haares hervor.
Seine Augenbrauen sind in kühnen Bögen geschwungen, wirken edel und heroisch und betonen die fein gearbeiteten Jochbeine, die sein schmales Gesicht marmorsanft und wie die Arbeit eines Bildhauers wirken lassen. Nur dass besagter Bildhauer wohl in der entscheidenden Entwicklungsphase seiner Arbeit plötzlich Stil und Ideale geändert hat und auf die Idee kam, in dieses vollkommene Gesicht eine Nase zu setzen, die in beinahe jedem anderen Gesicht markant und kühn das Charaktermerkmal schlechthin gewesen wäre, hier aber die feinen Linien so brutal dominiert, dass sie deren zarte Eleganz rücksichtslos der Lächerlichkeit preisgibt.
Dazu wirkt er in seiner dunklen Kleidung und mit der tiefen Stirnfalte noch ausgesprochen finster. Ja, er ist genau der Typ, bei dessen Anblick Mütter sofort ihre Kinder auf den Arm nehmen und den Einkauf im Rekordtempo beenden, wenn er im Supermarkt neben ihnen auftaucht.
Ich lasse meinen Blick zum wiederholten Male über seine sonderbare Erscheinung wandern, die hohen schwarzen Stiefel, die dunkle Hose, ein sehr feines teures Leder oder ein weich fließender Stoff. Sein Hemd läßt sich über der Brust schnüren und er hat von dieser Möglichkeit reichlich gebrauch gemacht. Dazu passend der lange Mantel, der ebenfalls fein geschnitten wirkt und elegant über eine Stuhllehne fließt. Auf dem Flohmarkt hat er sich definitiv nicht eingekleidet und auch in keinem der zu tausenden aus dem Boden und dem Internet sprießenden Mittelalter- und Hexenläden. Obgleich der Stil gewisse Parallelen aufweist, ist die Qualität, mit der seine Kleidung gearbeitet ist, davon so weit entfernt wie die Mona Lisa von den Machwerken die ein Bahnhofspassbildautomat für gewöhnlich so auskotzt.
Ich denke an den Supermarkt, aber das Bild will sich nicht so recht scharf stellen. Meine Vorstellung streikt. In eine dunkle Bar kann ich den Typen projizieren, in eine schwarze Messe und auf eine Theaterbühne. Aber nein, definitiv kein Supermarkt. Er würde dem Neonlicht nicht standhalten. Ich denke an die vielen erleichterten Mütter, die jetzt wieder beruhigt einkaufen gehen können und muss unwillkürlich grinsen.
In diesem Moment sieht er auf. Sein stechender Blick nagelt mich an die Rückenlehne meiner Holzbank und ich fühle das Grinsen von meinem Gesicht tröpfeln und eine weitere Lache um meine durchweichten Turnschuhe bilden. Dann klappt er sein Buch zu und kommt zu mir herüber.
tbc
