So, es zeichnet sich also ab, dass es vermutlich sieben Kapitel werden, statt der geplanten fünf. Aber ein guter Freund sagte einmal, sieben hätte definitiv den besseren arkanen Faktor. Also vertraue ich darauf, dass es so richtig ist und euch gefällt. Und weil es schon so spät geworden ist, genug der vielen Worte.
Wer das Kapitel musikalisch mag, der nehme bitte eine Prise Iron Butterfly, vorzugsweise In-A-Gadda-Da-Vida. Und heute könnt ihr es laut drehen.
ooo
Ich zögere für die Dauer eines einzigen Herzschlages und es fühlt sich an wie ein ganzes Leben. Dann schließt sich meine Hand um kühles Kristall.
Seine Finger umfließen das zweite Glas und es sieht so aus, als wären sie froh darüber, eine Aufgabe zu haben. Er wirkt entspannter als während unserer ganzen bisherigen Begegnung. Als wäre das ein heikler, vielleicht alles entscheidender Punkt gewesen. Ein leises Lächeln huscht über seine schmalen Lippen und seine harschen Züge werden sanfter, so als würde das Rotgold sie ein wenig berühren dürfen, was sonst keine Farbe im Raum vermag. Sie alle weichen von seiner Unnahbarkeit eingeschüchtert zurück. Doch es erreicht nicht die undurchdringlichen Augen, deren Blick nicht weicher wird, als das Kristall in meiner Hand.
Er hebt sein Glas und schwenkt es leicht während er die träge darin herumschwappende Flüssigkeit versonnen beobachtet. Blutig und golden kreist sie in kühnem Schwung knapp unterhalb des Randes entlang, um sich dann gemächlich und einen dünnen Film hinter sich herziehend erneut zu vereinen.
Er betrachtet sinnend, wie das Licht sich in kleinen Wellen bricht, läßt er sich ein wenig davon in den Mund rinnen. Seine Härte scheint für einen Lidschlag lang zu schmelzen. Mit der Flüssigkeit auf der Zunge hält er inne, scheint sich auf den Geschmack zu konzentrieren. Seine Augen werden noch dunkler und tiefer. Dann schließt er sie genießerisch, ich sehe seinen Kehlkopf zucken und die sonderbare Flüssigkeit ist fort.
Ich tue es ihm gleich. Vorsichtig rieche ich an dem Getränk, bevor ich einen Schluck nehme. Es riecht nach nichts und wenn doch, dann nur so fein, dass meine Sinne nichts erfassen können. Ich probiere einen kleinen Schluck und stelle fasziniert fest, dass die Flüssigkeit vollkommen geschmacklos ist.
Eine Möglichkeit, die mir bis dahin unvorstellbar war, selbst ordinäres Wasser aus jeder Leitung schmeckt nach unzähligen Komponenten. Mir fällt nichts ein, womit ich es beschreiben könnte. Es ist auch kein Alkohol. Kein Brennen. Keine warme Schwere.
Doch scheint die Flüssigkeit seltsam lebendig zu sein. Vollkommen ohne mein Zutun umfließt sie meine Zunge, zieht einen feinen kühlen Film über meinen Gaumen, von wo aus sie weiter wandert, mit dem Umweg über meine Wangeninnenseiten hinter zu meiner Kehle. Und dann gibt es keinen Bereich mehr in meinem Mund, der nicht mit dem Gefühl hauchfeiner prickelnder Klarheit überzogen wird. Ich denke an eisiges Quellwasser mit dem Geschmack von Erde und Moos, Stein und Zeit, doch der Effekt ist mit nichts zu vergleichen.
Ich schlucke, mehr aus Reflex, als weil ich es möchte und bin froh, dass nichts von dem Prickeln in meine Lungen gerät.
Da erwacht die Flüssigkeit zum Leben.
Unzählige Miniaturströme fließen von meiner Kehle ausgehend tiefer ohne sich mit dem sonst üblichen Weg aufzuhalten. Tausende und abertausende wilder Gebirgsströme. Kalt und klar und mit den Wassern urzeitlicher Gletscher gespeist. Mühelos durchdringen sie Muskeln, Nerven und Sehnen, erobern jeden Teil von mir mit ungeminderter Intensität und tauchen alles in seltsam losgelöstes Schaudern. Ströme von Eis und wohliger Wärme, gleichzeitig und überall, die jeden Muskeln, jeden Nerv, jede Zelle überfließen, ohne sich zu vermischen.
Sie verästeln sich in mir, gebären immer neue Quellen, wie ein weiteres Nervensystem. Ich kann jede einzelne meiner Zellen spüren. Wie sie lebt und pulsiert, atmet und sich teilt. Ich bin vollkommen überfordert, doch das rotgoldene Etwas, eisig kalt und warm lebendig zugleich ertränkt mich von innen und ich bin hin- und hergerissen zwischen Faszination und Panik. Keine Zelle, die es nicht umschließt und ausfüllt. Ich fühle mich selbst rotgolden und federleicht, auf eine Weise lebendig und sensibilisiert, die mir das Gefühl gibt, so verwundbar zu sein, dass ein einzelner Tautropfen mich fortspülen könnte.
Doch anders als erwartet schwächt sich der Effekt nicht ab. Oder die Zeit ist einfach stehen geblieben. Beides erscheint mir in gleichem Maße plausibel. Der Moment dehnt sich aus wie ein ganzer Ozean, brandet gegen meinen Widerstand, reißt an meiner Entschlossenheit und ich lasse mich einfach hineinfallen.
Mein Körper erbebt, jede einzelne Faser, jedes Molekül. Meine Haut ist überzogen von wohligen Schauern. Heiß und Kalt, wie das Rotgold in mir. Es ist besser als alles was ich je zuvor erlebt habe. Besser als Fliegen, besser als Verliebt sein, besser als Sex. Entfernt spüre ich, wie mir das Glas von kräftigen Fingern entwunden wird, bevor ich es fallen lassen kann. Und dann höre ich mich selbst, wie aus einer anderen Galaxie, einen Schluchzer ausstoßen, der irgendwo zwischen einem ekstatischen Seufzer und einem Weinkrampf liegt.
Das schwindelerregende Hochgefühl in meinem Kopf senkt sich zu einem weichen Nebel herab, der langsam tiefer sinkt, sich unterhalb meines Bewusstseins ausbreitet, einzig um mich mit wohliger schwerer Geborgenheit zu füllen.
Mein Geist jedoch ist so klar wie eine eisige Winternacht unter den Sternen. Meine Sinne um ein Hundertfaches geschärft. Ich nehme jede noch so kleine Information auf und mein Gehirn erfasst sie alle ausnahmslos, vergisst nicht die feinste Nuance, und tut das, was meine Hände sonst beim Schreiben nicht zu leisten vermögen, weil sie zu langsam sind, mit erschreckender Präzision.
Ich habe das Gefühl zu schweben, hoch oben, ich kann die Sterne berühren. Ihr strahlender Glanz füllt mich vollkommen aus und ich habe meine Angst vor dem Licht zusammen mit meinem Körper am Boden zurückgelassen. Ich spüre ihn, viele Lichtjahre entfernt. Die Verbindung ist nicht stärker als ein dünner Faden. Ich weiß, dass er da irgendwo sein muss, aber es kümmert mich nicht.
Es fühlt sich an, als hätte man mein Stammhirn durchtrennt.
Ich brauche eine lange, um Kopf und Körper wieder in die selbe Galaxie zu manövrieren, vielleicht ein ganzes Leben, und als es mir endlich gelungen ist, mein Zeitgefühl ist auf Höhe der Plejaden rettungslos verloren gegangen, finde ich auf dem Gesicht meines Gegenübers einen so satten, zufriedenen Ausdruck, als hätte sich die Maus gerade in eine gebratene Taube verwandelt.
Er lächelt ein Siegerlächeln doch seine Augen atmen Dunkelheit. Und während ich noch überlege, was zu Hölle verdammt er mir da untergejubelt hat, wie lange ich nicht richtig bei Bewußtsein war und wie ich möglichst schnell meine Körperkoordination in den Griff kriege, damit ich ihm seine hässliche Nase brechen kann, einmal, zweimal, oder auch öfter, solange es eben dauert, um dieses Grinsen verschwinden zu lassen, weicht es ganz von alleine einem vollkommen anderen Gesichtsausdruck. Dem tiefen Erkennens und Verstehens und nichts Zynisches und Berechnendes ist mehr zu erkennen, als er sagt:
„Das wirklich Interessante an diesem Getränk ist, dass es uns genau das fühlen läßt, was wir uns wünschen."Jeder Gedanke ihn zu schlagen ist plötzlich erloschen, meine Wangen brennen und ich fühle mich auf eine Weise nackt und durchschaut, die sich mit nichts mehr überbieten läßt.
„Ironischerweise", fährt er ungerührt mit seinem Vortrag fort, während seine wunderbar samtige Stimme meine übersensibilisierten Nerven vollkommen überlastet und mich beinahe vor Ekstase winseln lässt, „besitzt keine einzige Komponente dieses Getränkes ein nennenswertes Suchtpotential. Und dennoch ist es in der Lage, Menschen nach nur einem einzigen Schluck so kontrollierbar zu machen, dass sie bei vollem Bewußtsein, präziser ausgedrückt, selbst in Anbetracht ihres nun vollkommen wachen, hoch angeregten Geisteszustandes, bereit sind alles zu tun, für nur noch einen kleinen, weiteren Schluck."
Er nimmt selber noch einen, offensichtlich unberührt von unerwünschten Nebeneffekten, und ich vergehe fast bei dem Anblick. Ein frustrierter Laut entringt sich meiner Kehle, vollkommen gegen meinen Willen. Etwas zwischen einem Knurren und dem Versuch selbiges rechtzeitig herunter zu schlucken und er lächelt süffisant, während er die Flüssigkeit genüsslich durch seinen Mund rinnen läßt.
„Aus diesem Grund ist es auch verboten", führt er seine Erklärungen weiter mit kühl distanzierter Dozentenstimme aus. Man bekommt es nur an besondern Orten. Und nur wenn man die richtigen Leute kennt. Oder, um bei der Wahrheit zu bleiben, die Falschen."
Seine Hand kommt nach vorne, nähert sich meinem Gesicht und fängt eine verirrte Strähne ein, die er zeitlupengleich durch seine Finger gleiten läßt, ehe er sich wieder zurücklehnt. Das Gefühl seiner warmen Hand ist von so brilliantenscharfer Intensität, dass ich glaube ersticken zu müssen, weil ich absolut nicht atmen kann, doch es ist nichts im Vergleich zu dem Verlust, den ich empfinde, als er sich wieder zurückzieht.
„Dabei ist es im Grunde ziemlich einfach die Wirkung aufzuheben.", erklärt er vollkommen unbeteiligt, "Alles was man dazu benötigt, ist ein wenig Selbstdisziplin." Seine Hand liebkost das Glas, das er mir zuvor entwunden hat mit zärtlicher Eleganz und ich kann nicht sagen, was ich in diesem Moment lieber will. Diese Hand ein weiteres Mal in meinem Haar, noch einen Schluck von dem teuflischen Zeug oder doch einfach nur sehen, wie das Blut aus seiner gebrochenen Nase spritzt.
Er reicht mir den Kelch und ich spüre meine Hände zittern. Ein Verlangen überrollt mich, ungebremst und gewaltig wie ein Vierzigtonner in voller Fahrt. Weil ich nicht Nein sagen kann, reiße ich die Augen mit gewaltsamer Anstrengung von der rotgoldenen Versuchung los und halte mich an dem Einzigen fest, dass die gleiche Intensität besitzt. Seinem Basiliskenblick. Meine Hände krallen sich schmerzhaft in die Sitzbank, ich beiße mir von innen in die Wangen, bis der metallische Blutgeschmack jede rotgoldene Erinnerung auslöscht und konzentriere mich stur auf mein letztes bisschen Stolz. Ich gibt nichts, absolut nichts im gesamten Universum, das ich lieber haben möchten, als noch ein einziges Mal dieses absolut reine ungetrübte Gefühl.
Nur eben nicht so.
Er stellt den hell reflektierenden Kristallkelch vorsichtig vor mir auf den Tisch und das sanfte, vollkommen reine, Klingen das Glases ist beinahe mehr als ich ertragen kann. Die rotgoldene Füllung zaubert tanzende Reflexionen über das geschundene Holz, hypnotisch und betörend. Ich bin versucht, mich allein von diesem Anblick davontragen zu lassen, aber ich widerstehe mit tränenüberströmtem Gesicht.
Seine Stimme ist wieder samtig, als er sagt: „Und das ist der ganze Trick dabei. Ich denke, sie können jetzt gefahrlos trinken."
Ich sehe ihn an, als hätte er den Verstand verloren und er errät meine Gedanken mühelos.
„Nur ein kleiner Schluck. Für den Anfang. Dann werden Sie sehen, was ich meine."
Und wieder treffen seine Lippen sein Glas in einer samtweichen Liebkosung während seine Augen jede Regung von mir einfangen.
Ich betrachte das gefüllte Kristall vor mir mit zwiespältigen Gefühlen. Das brennende Verlangen ist mit meiner Weigerung verflogen und zurückgeblieben ist eine pochende Neugier.
All meinen Mut zusammenraffend und noch eine gute Dosis Unvernunft dazu, wäre ich halbwegs bei Verstand, ich wäre längst gegangen, probiere ich vorsichtigen einen weiteren, winzigen Schluck.
Die Wirkung ist so phänomenal wie beim ersten Mal, doch diesmal bleiben Körper und Verstand vereint. Ich erlebe mit vollkommen klaren Sinnen wie die Droge durch meinen Körper rauscht und meine Empfindungsfähigkeit ins Unermessliche steigert, doch ohne den Blick für meine Umgebung zu verlieren, und das brennende Verlangen nach einer weiteren Dosis bleibt aus.
Ich spüre, wie sich ein aufmerksamer Blick über die Adlernase hinweg in mein Inneres brennt und als ich ihn erwidere, nickt er zufrieden. Er räkelt so zufrieden auf der Bank, wie eine satte Katze in der Mittagssonne.
„Erstaunlich", sagt er, „wie ein und dieselbe Handlung zu so vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen führen kann."
Zwischen seinen Fingern tanzt plötzlich ein Füller. Ein edles Stück, so teuer, und exklusiv, wie auch sonst alles mit dem er sich umgibt. Der Griff ist aus einem warmen Holz gefertigt, der vordere Teil ist silbrig glänzend und aufwendig graviert. Er legt ihn behutsam auf mein gequältes Notizbuch und schiebt beides in einer einzigen fließenden Bewegung zu mir herüber.
„Schreiben Sie.", sagt er.
„Was?", höre ich mich fragen. Es klingt ein wenig erstickt, weil mir die Verblüffung über die Wendungen, die die Dinge heute nehmen noch im Hals steckt.
Er zuckt mit den schmalen Schultern.
„Was immer Sie möchten.", sagt er.
„Nur bitte ohne Wölfe und Raben."
