So, ihr Lieben. Nach etwas längerer Pause kommt nun das endgültig siebte und letzte Rabenherzkapitel. Nur mit der Musik in euren Herzen, denn ich kenne leider kein Musikstück, dass dem Flug eines Vogels gerecht werden kann.
Über eure Meinungen, Eindrücke und Gedanken, in Form von Reviews oder der einen oder anderen Mail, würde ich mich riesig freuen.
Und nun, lasst Euch entführen.
OoO
„Ich mag keine Wölfe.", sagt er, noch bevor ich nachhaken kann.
„Sie sind absolut faszinierend.", entgegne ich.
„Das ist unschwer zu übersehen, wenn man Ihre Texte liest.", bemerkt er bitter.
„Was soll denn daran schlecht sein?", frage ich.
„Sie sind noch keinem begegnet.", erwidert er mit kristalliner Schärfe. „Das Erlebnis verliert an Faszination, sobald Sie die Zähne in Ihrem Fleisch spüren."
Ich schaudere.
„Was gibt es gegen Raben einzuwenden?", wechsle ich das Thema.
„Aasfresser.", sagt er.
„Hochintelligent.", addiere ich. „Und Überlebenskünstler."
„Ja, wie Ratten", schnaubt er verächtlich, „Die Ratten der Lüfte."
Ich schüttle den Kopf. „Raben sind wunderschön.", sage ich bestimmt.
Er schweigt einen langen Moment und seine schwarzen Augen mustern mich durchdringend. Auf seinem Gesicht liegt ein seltsamer Zug, der dort so überhaupt nicht hinpassen will. Ich brauche fast zu lange, um zu erkennen, was es ist. Er sieht verletzt aus und ich verstehe nicht, womit ich das getan haben könnte. Aber der Anblick schmerzt mich.
„Schreiben
Sie."
„Bitte.",
sagt er leise und schließt seine Augen, als wäre er müde.
Seine
Finger massieren seine Nasenwurzel. Seine blasse Stirn liegt in
Falten. Er sieht auf traurige Art zerbrechlich aus. Mein Herz
verkrampft sich ein wenig während ich ihn betrachte und meinen
Blick nicht von ihm nehmen kann. Ihm, dem Fremden, der mir solche
Angst machen und mich im selben Moment auf so magische Weise fesseln
kann.
Als er nach geraumer Zeit seine Augen wieder öffnet, ist das Papier vor mir noch immer unberührt. Er sieht mich fragend an und bittere Enttäuschung schwimmt in seinen Augen.
Er erhebt sich und sagt leise: "Es ist wohl Zeit für mich zu gehen."
„Nein.",
sage ich entschieden und verblüffe uns damit beide.
„Ich
würde gerne etwas schreiben." Mein Blick irrt hilflos über
die leeren Seiten. Ich halte meinen Kopf gesenkt um meine brennenden
Wangen vor ihm zu verbergen.
Sein intensiver Blick ruht schwer auf mir. Dann knarrt die alte Holzbank, als er sich wieder neben mir niederlässt. Viel näher diesmal. Ich bräuchte nur mein Bein ein wenig nach außen zu drehen und es würde das Seine berühren. Ganz zufällig sähe das aus, obwohl wir beide wüssten, dass es das nicht wäre.
Ich fürchte mich vor seiner Reaktion. Davor, dass er aufspringen und gehen könnte, genauso, wie vor der Möglichkeit, dass es ihm gefällt.
Ich hatte noch nie einen Raben. Es sind wilde freie Tiere. Man weiß nie, ob man ihnen nicht das Herz bricht, wenn man sie zähmt.
„Ich
weiß einfach nicht wie.", sage ich, und meine nicht nur das
Schreiben. „Manchmal passiert es einfach, ganz von selbst. Dann
lasse ich es zu."
Er
nickt verstehend und wir sitzen schweigend beieinander. Baden einfach
ein wenig in der Gegenwart des Anderen. Wärmen uns.
„Schließ Deine Augen.", sagt er samtig und ich spüre, wie eine weitere Mauer fällt.
Ich zögere nicht. Mit geschlossenen Augen kann ich seine Gegenwart noch deutlicher spüren. Sein gleichmäßiger, ruhiger Atem, der sich jetzt beschleunigt. Die Wärme, die von ihm ausgeht. Seine Verlorenheit. Fast so, als wäre er alleine zurückgeblieben und wüsste jetzt nicht wohin. Ein einziger schwarzer Vogel aus einem großen dunklen Schwarm.
Ich
zucke zusammen, als seine warmen Lippen meinen Nacken berühren.
So weich und zart, dass es kaum ein Kuss ist, eher ein zaghaftes
Tasten.
Ein
heftiges Schaudern durchfährt mich. Meine Nackenhärchen
richten sich auf. Doch als er zurückweicht, lehne ich mich
zaghaft in seine Berührung,
Es
ist schön und beängstigend zugleich.
Er
rückt näher und sein Oberschenkel presst nun warm gegen
meinen. Sein Arm fließt selbstsicher um meine Taille, während
er um mich herum greift und sich seine Alabasterhand auf meine legt,
die noch immer den Füller umklammert hält, den er mir
gegeben hat.
Meine
Augen sind fest geschlossen, doch mein Herz pocht unkontrolliert und
mein Atem rast.
„Schhh…", sagt er leise in mein Ohr. Seine Wange liegt an meiner und sein warmer Atem streichelt mich, als er gegen meine Haut lächelt.
„Schreib.", haucht er ein wenig heiser und seine Hand führt die meine aufs Papier. Ich öffne die Augen und sehe, wie sie zittert. Wie die feine Nadel eines hochsensiblen Messinstrumentes und ich frage mich, was diese Linien aufzeichnen würden.
Eiswärmeschauer…., schreibe ich, während aus seinen Küssen kleine Bisse werden.
Mein Herz galoppiert in meiner Brust wie ein wildes Pferd.
Donnernde
Hufe auf dem staubtrockenen Wüstenboden einer grenzenlosen
Prärie.
In
der Ferne heulen Kojoten.
Ein
leichter Wind kommt auf und treibt loses Dornengestrüpp über
die verdurstete Erde.
Bald
wird es Nacht sein.
Der
Wind kühlt meine erhitzte Haut und sendet mir Eiswärmeschauer
in den Nacken.
Es
ist Furcht, stelle ich fest.
Furcht
und Erregung.
Aufregung.
Heute
Nacht, denke ich.
Etwas
wird heute Nacht passieren und danach wird alles anders sein, als
zuvor.
Schöner.
Schrecklicher. Echter.
Es
wird passieren und ich fürchte mich davor.
Weil
es kein Zurück gibt.
Die
Kojoten klingen jetzt näher und die Furcht taut in eisigen
Rinnsalen zwischen meinen Schulterblättern herab. Wie
Frühlingsschnee.
Es
ist gefährlich, was ich heute Nacht tue. Ich muss mit meinem
Herzen dabei sein.
Ich
rufe schweigend in die Dunkelheit und da kommt es herangetrabt, mein
Mustangpferdeherz.
Mein
wildes und schönes, freies Herz.
Es
schnaubt sanft gegen mein Gesicht und schreckt mit wild schlingerndem
Kopf zurück, als ich die Hand nach ihm ausstrecke. Doch es läuft
nicht davon.
Seine
Vorderbeine tänzeln nervös und wirbeln Staub und totes Gras
auf.
Es
schnappt nach meinen ausgestreckten Fingern, doch ich zucke nicht
zurück.
Ich
kenne mein Herz.
Es
ist sanft und groß und wild. Aber es würde niemals
willentlich verletzen.
Es
blufft, wenn es Angst hat, eingefangen zu werden.
Ich
kann die langen, tiefen Narben in seinen Flanken sehen, die nicht
wieder heilen werden.
Es
tut gut daran, sich zu fürchten. Nicht jeder liebt ein freies
Herz.
Meine
Fingerspitzen berühren das feine stichelhaarige Fell. Dünn
ist es und warm.
Leichte
Schauer laufen über sein kräftiges Pulsieren.
Genau
wie die Schauer in meinem Nacken.
Es
fürchtet sich auch, erkenne ich, mein Herz.
Doch
es wird mir folgen.
In meinem Nacken breitet sich Wärme aus. Feuchte Wärme. Heißsanft und weich. Seine Zunge streichelt die kleinen Bisse, löscht die Furcht und säht sie wieder neu. Ein beständiges Auf und Ab. Vogelschwingengleich in kühlem Nachtwind.
Ich schreibe und schreibe, bis ich mir nicht mehr sicher bin, ob es immer noch Tinte ist, die sich in weit tragenden Linien vor mir über das Papier verteilt, oder meine eigene Dunkelheit.
Innendunkel, schreibe ich, ohne genau zu wissen, was ich damit meine.
Seine Stimme ist Seide und Kaschmir zugleich, als er sagt: „Es gibt ein paar wenige Menschen, die so viel Licht in sich selbst tragen, dass die Sonne gegen sie wie ein matter Fleck am Himmel erscheint. Und auf der anderen Seite gibt es die Menschen, die in ihrem Inneren so dunkel sind, dass sie jedes Licht verschlingen wie ein schwarzes Loch. Doch die Menschen, die weder Licht noch Schatten sind, fürchten Beides gleichermaßen und machen keinen Unterschied. Man versucht immer, zu zerstören, was man fürchtet. Mit allen Mitteln.
Ich spüre tief in mich hinein.
„Je heller das Licht, umso dunkler der Schatten.", sage ich nachdenklich. Ich verstehe, was er meint.
„Ja", sagt er und seine Stimme klingt dunkel und weit entfernt. „Wir müssen unsere Kontraste in uns selbst tragen. Auch, wenn wir es nicht aushalten können. Menschen wie wir wollen immer nur das eine sein, Licht oder Schatten. Rein und ungetrübt. Wir halten die Nuancen nicht aus, so sehr wir es auch versuchen. Wir wollen rein sein in unserer eigenen Farbe, auch wenn uns so niemand erträgt."
Sein Atem ist warm und weich in meinem Nacken.
„Lass mich sehen, wie dunkel deine Schatten sind.", bittet er mich und ich lasse sie aus mir herausfließen, in Wörtern und Bildern, ein endloser Strom, gefangen auf wehrlosem Papier.
Sturmvogelflug.
In
eisigen Winden.
Nordmeerkälte.
Sturm.
Kristallflut.
Ewiges
Eis.
Klirrende
Einsamkeit.
Klarheit.
Weite.
Grenzenlosigkeit.
Schönster
aller Vögel.
Frei.
So
hoch.
So
weit.
Entfernt.
Mir
unerreichbar.
Kommst
du zurück?
Ich
zittere. Verliere den Füller in meiner Hand, doch für die
Dunkelheit braucht man keine Tinte.
Eis
sitzt in meiner Kehle und lähmt mich.
So
kalt.
So
allein.
Es
ist immer so kalt, denke ich und sehne mich nach einem Herzschlag
in den ich mich hineinlegen kann.
Einen
warmen, lauten.
Kannst
Du es sehen Sturmvogel? Mein Herz. Ist es noch da?
Manchmal,
wenn ich den Schmerz spüren kann, bin ich erleichtert.
Ich
weiß dann, dass ich trotz allem noch lebe.
Es
ist immer so schwer.
Sich
lebendig zu fühlen, meine ich.
Nicht
innerlich zu erfrieren.
Mit
dir ist mir das immer leicht gefallen.
Auch
das Fliegen.
Mit
dir.
Obwohl
ich Höhenangst habe.
Mit
dir war immer alles so leicht, so selbstverständlich.
So
hoch, so weit.
So
hell.
Jetzt
schmerzt mich die Helligkeit.
Weil
ich ohne dich nicht fliegen kann.
Weil
ich kein Vogel bin.
Weil
die Welt in der ich lebe Kanten hat.
Grenzen.
Bin
ich gefangen.
Du
bist frei.
Von
mir.
Von
meinem Schatten und meinem Licht.
So
grenzenlos frei.
Und
fern.
Nur
noch ein einziges Mal fliegen, wünsche ich mir.
So
wie mit dir.
Das sanfte Auf und Ab der Vogelschwingen trägt mich in samtiges Schattendunkel. Ich lege mich in den Nachtwind und die Welt wird weich und konturlos.
Weich…, spüre ich.
Dunkel.
Leise.
Ich kann die Stille hören.
Wo sind die Menschen, frage ich mich dunkel. Sind sie alle gegangen?
Wo sind sie hingegangen, die Fremden, denen ich so neue und schöne Geschichten geschenkt habe?
Weich.
Ich liege.
Eingebettet in weichem Stoff.
Wie Nachtwind, denke ich, nur wärmer.
So still.
Nur ein Herzschlag.
Der Herzschlag, der mich hierher getragen hat.
Ein Vogelherz, denke ich.
Schnell.
Tief.
Pulsierend.
Eine warme Hand streicht mein Haar von meiner Wange.
„Schhh...", sagt er.
In
meinem Handgelenk pocht dumpfer heißer Schmerz.
Habe
ich soviel geschrieben?
Ich
versuche mich zu erinnern, doch alles ist weich und dunkel.
Ich
liege, stelle ich fest.
Ich
liege und werde gehalten.
Von
ihm, der hinter mir auf meiner Fensterbank sitzt und seinen Mantel um
uns beide geschlungen hat.
Meine Fensterbank?
Meine Wohnung?
„Hng?", frage ich völlig desorientiert.
„Mein
Fehler.", sagt er samtig und klingt nicht im Mindesten so, als ob
ihm irgendetwas Leid täte.
Seine
Arme umschlingen mich fest und sicher und der regenfeuchte Nachtwind
kühlt mein Gesicht.
So sitzen wir lange schweigend im Zug des offenen Fensters auf dem breiten Sims, den ich so sehr liebe und zum ersten Mal seit langer Zeit ist mir wieder warm.
Ich
fliege.
Nicht
so bodenlos, nicht so weit draußen, so fern von allem wie mit
dir.
Es
ist nah und noch immer im Schatten der bedrohlichen Häuserfronten.
Aber
ich fliege wieder und das alleine zählt.
Kein
sanftes Gleiten diesmal. Ein Rabenflug, durch enge kantige
Häuserschluchten, im Schatten der Industrieschornsteine, die
meine Welt zuwachsen und unter sich begraben.
Ich
denke an dich und kann mich zum ersten Mal schmerzfrei erinnern, an
alles was schön war.
„Es muss schön sein, ein Sturmvogel zu sein." Seine Worte branden gegen meinen Hals wie Meereswellen. Sein Atem ist ein sanfter Sturm. „Ich kann es nicht wissen. Ich bin immer nur ein Rabe gewesen."
Ich setze mich langsam auf und er gibt mich augenblicklich frei. Es herrscht ein seltsamer Moment der Stille zwischen uns und seine Rabenaugen brennen fiebrig in der Dunkelheit.
Der
Morgen dämmert bereits heran, unaufhaltsam. Doch noch hat das
Sonnenlicht den Horizont nicht berührt.
Ich
stehe auf und laufe ein paar unsichere Schritte durch mein Zimmer,
das mit ihm darin seltsam fremd wirkt.
„Ein Sturmvogel ist immer hoch oben im Norden, in den hellen Winden.", vertraue ich ihm an, „und sein Gefieder riecht immer nach Eis."
Er wäre gerne ein Sturmvogel, sagt er. Und das Eis würde er in Kauf nehmen. Er ist die Kälte gewöhnt. Nur die Weite, die Freiheit, davor würde er sich fürchten. Er hat immer im Schatten der Menschen gelebt und weiß nicht, ob er etwas Anderes könnte.
Dann
schweigen wir wieder für lange Zeit.
Es
ist schön mit ihm zu schweigen. Es ist nicht diese drückende
unangenehm lastende Stille, die zwischen Menschen herrscht, die
einander nicht verstehen. Wir erkennen einander, wir sind Schatten
und Licht.
„Wie…?", frage ich und zucke ratlos die Schultern, nicht wissend wie ich fragen soll, was ich wissen möchte..
„Du hast nicht geschlafen. Nur zuviel geschrieben und dabei den Boden unter den Füßen verloren. Ich hätte dich vorher stoppen sollen, aber ich wollte es nicht. Es hat mir gut getan. Uns beiden."
Ich spüre tief in mich hinein. Er hat Recht. Es ist nicht viel Dunkelheit in mir zurückgeblieben. Ich frage mich, ob er meine Dunkelheit wohl so dringend gebraucht hat, wie ich sein Licht und was mit uns passiert wäre, wenn wir uns nicht begegnet wären.
Rausgeschrieben, denke ich und blättere durch tintengeschwärzte Seiten. Dicht an dicht, kleine geschwungene Linien, Buchstaben, Wörter, Sätze. Seitenweise.
Ich
lese mich durch vertraute Empfindungen in fremden Geschichten.
Ich
blättere. Zehn Seiten, elf, zwölf, zwanzig, fünfzig…
„Das
war alles in mir?", frage ich mich und bemerke erst in diesem
Moment, dass ich es laut ausspreche.
Mir
wird schwarz vor Augen und ganz heiß. Ich schwanke für
einen Moment. Dann legen sich sanfte Hände auf meine Schultern
und ziehen mich in seinen Herzschlag.
Seine
schmalen Finger streichen die Angst aus meinem Nacken und verteilen
sie über Schultern und Rücken. Ich erzittere und er
schlingt mich wieder in seinen dunklen Mantel. Sein Kinn ruht auf
meinen Haaren, während sein Herzschlag sanft gegen meine
Schläfen spült.
Er
spielt virtuos auf der Klaviatur meiner Seele, aber es ist mein Herz,
das den Takt vorgibt.
„Soviel
Dunkelheit", flüstere ich erstickt. „ich wusste nicht, dass
es so viel ist." Ich höre das Beben in meiner Stimme und
fürchte mich vor mir mehr als vor ihm.
„Jetzt
nicht mehr.", sagt er leise und seine schöne Stimme vibriert
durch meinen Körper. „Du brauchst dich vor gar nichts zu
fürchten. Nicht du. Nicht einmal vor Wölfen und Raben."
Er lacht leise und es macht mich traurig, weil es nach Abschied
klingt.
Das Licht des neuen Tages scheint langsam aber unaufhaltsam über den Horizont. Ohne zu wissen woher, weiß ich, dass er fort sein wird, sobald die Sonne den Tag berührt.
Meine zitternden Hände streichen über sein fremdes Gesicht. Seine blasse Haut ist weich, nur am Kinn und den Wangen kratzen ein paar dunkle Bartstoppeln. Sein schwarzes Haar ist dünn und seidig. Wie Rabenfedern, denke ich.
Er steht da, wie versteinert. Tut nichts, sagt nichts, läßt mich wortlos gewähren. Ein scheuer Vogel, gefangen unter meiner Berührung. Ich kann die Spannung unter meinen Fingerspitzen spüren, die ihn zittern lässt.
Meine Hände finden seinen Mantelkragen und der edle Stoff gleitet leise raschelnd hinter ihm zu Boden. Er zuckt unter dem Geräusch alarmiert zusammen und fängt meine Hände mit einer einzigen, geschickten Bewegung ein. Seine kräftigen Finger halten die meinen so vorsichtig und sicher fest, wie man junge Vögel hält, wenn man sie am fliegen hindern will, ohne ihnen die Flügel zu brechen.
„Nein.", sagt er. Genauso, wie er "düster" gesagt hat. So, als wäre damit alles gesagt.
Er zieht meine gefangenen Hände sanft von seiner Brust und breitet meine Arme aus, wie die Schwingen eines jungen Vogels. Dabei betrachtet er mich mit solcher Intensität, dass immer neue Eiswärmeschauer meine Haut überfluten.
Seine Pianistenfinger gleiten wissend über meine Hände und Handgelenke, erkunden Muskeln, folgen Sehnen, streichen über Schlüsselbeine und Wangenknochen, so intensiv, wie ein blinder Bildhauer sein Modell erkunden würde, um es für alle Zeiten in sein Gedächtnis zu brennen. So, als müsse dieser Moment für ein ganzes Leben reichen.
Dann dreht er sich langsam fort und sieht aus dem Fenster.
Seine schmale, dunkle Gestalt verschluckt das einfallende Tageslicht. Es ist ein trauriger Anblick. Ein schwarzer Vogel, der zusammen mit den anderen Vögeln über den Horizont fliehen möchte, in eine bessere Welt. Aber er weiß nicht, wie und wohin und ist nun hier zurückgeblieben, um auf den Winter zu warten.
Geh
bitte nicht, schreie ich vollkommen lautlos und er wendet sich in
einer einzigen fließenden Bewegung zu mir herum, als hätte
er mich gehört und sein Blick ist tief und dunkel und
hypnotisch.
Ich
trete einen Schritt auf ihn zu und sein Blick flackert unsicher.
Noch
einen und unsere Herzen berühren sich.
Seine
warme Dunkelheit überflutet mich, als seine Lippen sich über
meinen schließen, seine Arme mich in Seine ziehen und sein
Mantel mich verschluckt.
Mein
Blut glüht rotgolden wie ein Lavastrom während mein Herz so
laut pulsiert, dass es mich taub macht für alles außer
seinen Worten, die er rau gegen meinen Hals flüstert.
Ich lasse
mich in den Moment fallen, wie man in ein dunkles Wasser greift.
Die
Wellen schlagen über mir zusammen, doch es ist sanft und
lichtlos.
Der grelle Schmerz in meinen Augen verebbt.
Ich
treibe tiefer hinab, werde gehalten.
Das ruhige Wiegen glättet
meine Angst zu warm atmender Schwere.
Keine Ungeheuer unter der
Oberfläche.
Nur schattenweiche Geborgenheit.
OoO
Ich stehe noch lange in der Kühle des offenen Fensters, sehe zu, wie die Sonne rotgolden über den Horizont fließt und lausche in meinen Gedanken dem Klingen von Kristall nach.
Die Stadt erwacht zu neuem Leben und schickt ihr monotones Dauerrauschen zu mir empor. Auch ich bin irgendwie erwacht, doch mit der Stadt habe ich nichts gemeinsam, als den Ort, an dem wir beide leben. Wir sind nur Fremde, die einander dulden.
Alles ist vertraut, aber dann auch wieder auf prickelnde Weise neu und unentdeckt. Ich fühle mich sehr jung und meine Haut ist dünn.
Unter meinem Fenster im Garten spaziert Frau Bachmann an den gewaltigen Rosenhecken vorüber während ihre zarten Porzellanfinger die alten Blüten herunter brechen, um den jungen Knospen mehr Licht zu verschaffen.
Ich
stelle mir vor, wie ich zu ihr heruntergehe und „Guten Morgen."
sage. Nur das, weil wir uns ja eigentlich nicht kennen und ich nicht
wissen kann, dass sie Frau Bachmann heißt.
Sie
wird mir ihr faltiges, lächelndes Gesicht zuwenden und ihre
wasserblauen Augen werden mich aufmerksam mustern.
Dann
wird sie mich fragen, ob ich Johanna gesehen hätte und ich
könnte sagen, sie sei in die Stadt gefahren. Aber dass ich
ausrichten solle, sie sei rechtzeitig zum Kaffee wieder zurück.
Vielleicht würde sie sich dann wieder den Rosenhecken zuwenden
und vergessen, dass sie mit mir gesprochen hat und dass es mich gibt.
Vielleicht würden wir aber auch zusammen einen Kaffee trinken
und Kuchen essen, im Garten unter der Terrasse, weil ich ja nur eine
Fremde bin, während wir gemeinsam auf Johanna warten.
Es ist noch sehr früh am Morgen und alles ist möglich. Auch, dass ich wieder Johanna sein werde, irgendwann.
Ich kuschel mich in meine Lieblingsdecke geschlungen auf der Fensterbank zusammen, meinen Schreibblock auf dem Schoß und lausche den Worten nach, die er heiß und rau in meine Haut geflüstert hat.
Dann setze ich meinen Stift auf das Papier und beginne zu schreiben:
Und da habe ich mein flatterndes Herz in seine schönen Hände
gelegt,
weil ich es nicht länger festhalten
konnte.
Rabenherz, hat er gesagt.
