Kapitel 8

Herbert sah Alfred nachdenklich an. Dass er beim Bluttrinken etwas gefühlt hatte war kein Beweis. auch ein Wurm krümmte sich schließlich wenn er getreten wurde. Und Alfred hatte niemals dieses Leuchten in den Augen wenn er ihn ansah, das er bei Sarahs Anblick hatte. Er sah höchstens erleichtert aus, da er ihm mittlerweile vertraute und wusste, dass Herbert ihm nichts antun würde. Manchmal sah er sogar froh aus, aber niemals verliebt.
Und auch wenn seine Berührungen ihm jetzt vielleicht keine Angst mehr machten, weckten sie doch kein Feuer in ihm.

Aber noch gab er die Hoffnung nicht auf, dass er Alfred zum Erglühen bringen würde. Er konnte durchaus auch anders vorgehen als stürmisch. Mittlerweile hatte er Übung darin, auch ein verunsichertes Herz zu gewinnen und ganz und gar abgeneigt schien Alfred ja nicht zu sein.
Wenn er Vincent nicht gehabt hätte, wäre es vielleicht schwierig oder gar unaushaltbar gewesen, also musste Vincent ihm eigentlich dankbar sein.

"Alfred, als du mich damals im Badezimmer überrascht hast, am Tag vor dem Ball, da hattest du doch ein Buch dabei, nicht wahr?" wechselte er plötzlich das Thema. "Gedichte waren es. Ich würde dir gerne ein paar vorlesen, die mir besonders gut gefallen. Möchtest du?"

"Oh ja!", rief Alfred ehrlich erfreut. "Sehr gerne! Es waren schöne Gedichte darin!" Er hielt sich gewohnheitsmäßig an Herbert fest, als sie hinausgingen, obwohl jetzt wirklich mehr Kerzen den Gang erhellten. Aber Alfred fürchtete sich immer noch ein bisschen.
In der Bibliothek angekommen bedeutete Herbert Alfred, sich zu setzen, was dieser gehorsam tat. Mit einem zielsicheren Griff zog Herbert das Buch aus einem der unzähligen Regale und schlug es auf.

Alfred sah ihm dabei zu. Er konnte sich noch recht gut daran erinnern, als er selbst das Buch das letzte Mal in der Hand gehabt hatte. Herbert hatte ihm schon damals gesagt, dass er ihn liebte, aber damals hatte Alfred das nicht wirklich wahrgenommen, geschweige denn geglaubt. Es kam ihm auch immer noch seltsam vor, aber nicht weil er glaubte, dass Herbert log, sondern weil er kaum glauben konnte, dass er sich ausgerechnet in ihn verliebt hatte.

Herbert schlug das Buch auf und lies seine Augen über das Inhaltsverzeichnis wandern. Schon damals hatte es ihn überrascht, dass Alfred ausgerechnet den "Ratgeber für Verliebte" gelesen hatte. Das war eins von Herberts liebsten Büchern in der Bibliothek. Neben den Ratschlägen enthielt es auch noch mehrere sehr schöne Gedichte. Herbert hatte schon vor sehr langer Zeit angefangen seine Lieblingsgedichte mit einem Federkiel in ein großes ledergebundenes Buch zu schreiben. Vielleicht würde er Alfred auch daraus eines Tages vorlesen. Und dann hatte er noch ein etwas kleineres Buch, aber daraus würde er sicher niemandem vorlesen, denn darin verarbeitete er seine eigenen Gedanken in Gedichtform. Es war so etwas wie ein Tagebuch und das privateste das er besaß. Nicht einmal seinem Vater hatte er jemals davon erzählt.
Alfred sah ihn erwartungsvoll an und Herbert schlug eine Seite des Bandes auf und las.

"Ob ich dich liebe weiß ich nicht.
Schau ich nur einmal in dein Gesicht,
In deine Augen nur einmal,
Frei wird mein Herz von aller Qual.
Gott weiß allein wie mir geschicht.
Ob ich dich liebe weiß ich nicht."

"Wie gefällt dir das?" fragte er, während er sich auf der Lehne des Sofas niederließ und nach einem weiteren Gedicht suchte. "Verstehst du Englisch und Französisch?"

Alfred saß aufmerksam neben Herbert und lauschte dem Gedicht. "Das ist schön!", sagte er und nickte beifällig. Auf Herberts Frage schüttelte er verlegen den Kopf. "Aber es würde mich trotzdem freuen, zuzuhören!", sagte er eifrig. "Du hast eine schöne Stimme."

"Danke Cherie" sagte Herbert erfreut. Er hatte bislang erst sehr selten jemanden gehabt, der es zu schätzen gewusst hatte, dass er ihm Gedichte vorlas. das war eine seiner heimlichen Leidenschaften und meistens hatte er sie sich selbst vorgelesen. Vincent hatte dafür jedenfalls kein Gefühl gehabt und sein Vater las lieber die alten Philosophen. Aber Alfred sah wirklich so aus, als würde er es genießen.

Das hier ist eins meiner liebsten Gedichte flüsterte er und seine Wangen färbten sich zartrosa während er las:

"Chanson de la plus haute tour.

Qu'il vienne, qu'il vienne,
Le temps dont on s'eprenne

J'ai tant fait patiende
Qu'a jamais J'oublie.
Craintes et soffrances

Auy cieux sont parties.
Et la soif malsaine
Obscurcit mes veines."

Er hielt inne. "Das ist aus 'Une saison en Enfer' - 'Eine Zeit in der Hölle' Arthur Rimbaud hat diese Gedichte nach der Trennung von seinem Geliebten Paul Verlaine geschrieben." Er ließ das Buch sinken und sah in die Ferne. "Wie sehr er ihn geliebt haben muss, um so etwas zu schreiben..."

Alfred tat es Herbert nach und starrte ebenfalls nachdenklich ins Feuer, obwohl er kein Wort verstanden hatte. Aber es hatte sehr schön geklungen, und wenn Herbert französisch sprach hörte sich das unheimlich toll an.

"Er hat das für einen Mann geschrieben?", fragte Alfred und lächelte. "Das ist aber schön." Er sah zur Seite. Herbert sah jetzt fast ein wenig betrübt aus, gar nicht so, wie er ihn sonst kannte.
"Lies doch noch eines vor", sagte Alfred, um ihn aufzuheitern. "Oder möchtest du etwas anderes machen?"

Herbert hatte vergessen, dass ihn die Gedichte von Rimbaud und Verlaine immer traurig stimmten. Schon damals hatte er das Schicksal der beiden jungen Dichter verfolgt und ihre Gedichte zu lesen versetzte ihn immer in die Zeit zurück. Damals hatte er sich zum ersten Mal gewünscht nach Paris zu reisen. In diesem Schloss waren sie zwar sicher, aber sie waren auch von allem abgeschieden. Irgendwann wollte er etwas mehr von der Welt sehen, als dieses und die angrenzenden Länder, die sie schon bereist hatten.

Er beschloss Alfred noch einige der fröhlicheren Gedichte vorzulesen, um sich selbst wieder etwas aufzuheitern und er sah, dass Alfred diese Gedichte wirklich gefielen.
Anschließend klappte er das Buch zu und setzte sich neben Alfred auf das Sofa. "Es ist schön dir Gedichte vorzulesen, Cherie" flüsterte er. "Eines Tages werde ich eins über dich schreiben. Über deine tiefblauen Augen und deine goldenen Wimpern. Du bist so hübsch Alfred. Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt."

Alfred wurde etwas rot. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, ohne Herbert zu kränken.
"Ich... also... das ist sehr nett von dir", sagte er unbeholfen und lächelte leicht. "Und es tut mir auch wirklich leid, dass ich nicht in dich verliebt bin."

Seine Finger hatten sich in seinem Schoß ineinander verschlungen, und er sah Herbert noch einmal genau ins Gesicht und versuchte wieder, sich vorzustellen, in ihn verliebt zu sein. Hübsch war er ja, das bestimmt, sehr sogar, aber irgendwie...
Alfred ließ die Schultern sinken und sah Herbert entschuldigend an. "Aber ich finde dich sehr nett, wirklich! Und ich bin froh, dass du dich um mich kümmerst!", sagte er ehrlich.

"Du brauchst dich nicht dafür entschuldigen" sagte Herbert. "Trotzdem ist es schade. Stell dir vor, wie schön es sein könnte! Ich würde dich verwöhnen und dir alle deine Wünsche erfüllen. Jeden Abend würde ich dich massieren, wenn du möchtest. Ich könnte dir Walzer und Wiener Walzer beibringen und wir könnten im großen Saal im Kerzenlicht tanzen." Seine Augen leuchteten. "Und ich würde mit dir im Mondschein spazieren gehen und dir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Nur das Beste wäre mir gut genug für dich Alfred! Wir würden zusammen baden und ich würde deinen ganzen Körper einseifen und bevor du einschläfst würde ich dich küssen, damit du von mir träumst..."

Er griff nach Alfreds Händen. "Kannst du dir das nicht vorstellen Alfred? Ich würde auf dem Flügel für dich spielen wenn du möchtest. Ich würde es lieben dir etwas vorzuspielen."
Er sah, dass er Alfred mit seinen Worten mehr verwirrte als alles andere und hielt inne. Auch seine Hände ließ er los. "Aber ich mag dich auch wenn du mich nicht liebst." sagte er lächelnd. "Ich bringe dich sogar zu Sarah, wenn es das ist was dich glücklich macht." Er warf einen strategischen Blick aus dem Fenster. "Allerdings schneit es heute sehr stark und es ist stürmisch. Vielleicht warten wir damit, bis dein Pelzmantel fertig gestellt ist? Mein Vater gibt ihn heute bei unserem Schneider in Auftrag."

Alfred schwirrte der Kopf von all dem, was Herbert ihm da ausmalte. Das klang alles wunderschön, und wenn er das alles haben könnte, hätte er auch ganz sicher nichts dagegen, dass Herbert ihn vor dem Schlafengehen mal küsste. Schließlich hatte es sich ja auch vorhin nicht schlecht angefühlt.

Er sah mit offenem Mund auf zu Herbert, aber bevor er antworten konnte, ließ Herbert seine Hände wieder los und redete von Sarah. Alfred bekam ein mulmiges Gefühl.
"Dein Vater ist böse geworden, als ich von Sarah angefangen habe", sagte er und folgte Herberts Blick zum Fenster. Es schneite wirklich sehr, und einerseits war ihm nicht wohl dabei, daran zu denken, dass Sarah da draußen schlafen musste. Aber andererseits wollte er auch nicht hinausgehen. Es war viel schöner hier in diesem warmen Zimmer, wo Herbert ihm Gedichte vorlas und nette Sachen zu ihm sagte. Und er kümmerte sich wirklich so gut um ihn wie nie jemand zuvor.

"Mir ist nicht wohl, dass sie da draußen ist, aber ich fürchte im Moment kann man wirklich nichts tun." Er sah wieder zu Herbert. Wenn der etwas mit ihm unternahm dachte er irgendwie gar nicht mehr so oft an Sarah. Ein bisschen schämte er sich dafür, aber andererseits war es ja wohl verständlich. Schließlich gab Herbert ihm wirklich alles, was er brauchte und war richtig lieb zu ihm.

"Es wird ihr auch nicht besonders gut gefallen, wenn wir sie jetzt aufwecken" bekräftigte Herbert. "Lassen wir sie lieber in Ruhe schlafen. Mein Vater ist übrigens nie besonders gut auf seine ehemaligen Liebhaber und Liebhaberinnen zu sprechen. Wende dich also lieber an mich, wenn du Sarah wieder sehen willst."

Er stand auf und reichte Alfred die Hand. "Lass uns ins Kaminzimmer gehen. Dort ist es noch etwas heller und wärmer als hier. Ich fühle mich heute ein wenig müde und möchte mich dort ausruhen."
Alfred nickte zustimmend. Herbert freute sich, dass Alfred wirklich seine Scheu vor ihm zu verlieren begann. Dicht neben ihm zu sitzen, oder sogar seine Hand zu halten schien ihm nichts mehr auszumachen. Nur manchmal schreckte er noch zurück, wenn Herbert sich ihm plötzlich näherte und er fühlte sich unbehaglich wenn er ihm zu nahe kam. Trotzdem war es schon ein Fortschritt.

Das Kaminzimmer war der freundlichste Raum des Hauses und Herberts liebster Aufenthaltsraum. Wenn er nach draußen sah grauste ihm ein wenig davor, dass er sich Morgen ins Dorf begeben und sich nach einem Opfer umsehen musste. Er fühlte jetzt schon den Durst und Morgen würde es unerträglich sein...

"Morgen muss ich ins Dorf hinunter" sagte er, während er sich mit Alfred auf dem Sofa niederließ. "Ich lasse dich schlafen wenn ich aufstehe. Wo das Bad ist weißt du ja. Findest du auch den Weg hierher? Dann kannst du hier auf mich warten. Ich beeile mich."

"Ich, ähm... ja", sagte Alfred, obwohl er sich nicht so sicher war, ob er den Weg finden würde. Aber immerhin waren die Gänge jetzt wirklich besser beleuchtet, und er nahm sich vor, auf dem Rückweg genau aufzupassen wo er lang musste.

Ihm war trotzdem nicht wohl dabei, dass er morgen eine Zeit ohne Herbert sein würde. Er fühlte sich hier immer noch nicht sonderlich wohl. Das Schloss war so groß und unheimlich, vor dem Grafen hatte er immer noch Angst, und wenn er Koukol über den Weg lief, würde er schreien. Am besten er würde einfach im Sarg liegen bleiben und nichts tun.
"Ich... ich warte vielleicht lieber im Sarg auf dich", sagte er schüchtern. "Du brauchst doch nicht lange, oder?"

"Nun es ist möglich, dass es ein paar Stunden dauert" gab Herbert zu und kuschelte sich in den weichen Stoff des Sofas. Er hatte wirklich gar keine Lust morgen raus zu gehen, aber es musste sein. Auch für Alfred. Blut, das man von einem anderen Vampir trank stillte den Durst nicht so lange wie frisches Blut und Morgen würde er sicher wieder hungrig sein.
"Wenn du möchtest kannst du dir aus der Bibliothek etwas zu lesen mitnehmen schlug er vor.
"Ich wünschte auch, ich könnte bei dir bleiben. Draußen ist es so ungemütlich zurzeit." Er warf noch einen schaudernden Blick nach draußen und fröstelte.

"Lass uns schlafen gehen Alfred. Es ist zwar noch ein wenig früh, aber ich bin sehr müde heute." er sah Alfred an. "Möchtest du eigentlich immer noch einen eigenen Sarg für dich? Wenn du willst lasse ich dir einen anfertigen..."

Alfred rutschte auf dem Sofa hin und her. "Nein", sagte er dann. "Ich will lieber doch erstmal keinen eigenen Sarg. Es - es sei denn, es stört dich!"

Er sah Herbert ein bisschen erschrocken an. Ihm selber machte es jetzt nichts mehr aus, neben Herbert zu schlafen. Er hatte ja auch so oft beim Professor im Bett geschlafen, und das war ihm immer lieber gewesen, als allein zu sein. Manchmal hatte der Professor ihn davongejagt und ihm gesagt, er solle sich nicht so anstellen. Dann hatte Alfred aber immer unter seinem eigenen Bett nachgesehen, ob nicht etwas darunter versteckt war, und er hatte sich gar nicht wohl gefühlt darin und schlecht geschlafen.

Und er wollte auf keinen Fall auf dem Friedhof schlafen müssen. Davor hatte er eine Heidenangst. Er sah zu Herbert auf, während sie nebeneinander zurück zur Gruft gingen. "Was soll ich denn tun, wenn ich mal Hunger habe?", fragte er vorsichtig. "Ich kann doch nicht... Ich kann keinen Menschen überfallen, Herbert! Ich kann das nicht!" Er verschränkte defensiv die Arme vor der Brust und zig die Schultern hoch.

"Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich darum kümmere" sagte Herbert beruhigend. "Wenn du Hunger hast lasse ich dich von mir trinken. Ich mag es wenn du das tust. Und irgendwann werde ich mit dir zusammen üben." Er lächelte Alfred an. "Es gibt ja noch andere Methoden, als einen Menschen zu überfallen. Ich selbst habe soweit ich mich erinnern kann noch nie jemanden hinterrücks überfallen… außerdem musst du die Menschen auch nicht jedes Mal töten, falls es das ist wovor du dich fürchtest. Es reicht, wenn du dich an ihnen sättigst und sie dann zurück lässt. Für junge Vampire ist es sogar gefährlich zu lange zu trinken, da das Blut für uns tödlich ist, sobald das Herz aufgehört hat zu schlagen. Wenn du die Menschen ohnmächtig zurück lässt erholen sie sich meist wieder. Gesunde Menschen haben mehr Blut als sie benötigen. Aber mach dir darüber zunächst keine Sorgen. Jetzt im Winter werde ich dich ernähren. Es ist mir zu gefährlich dich mit ins Dorf zu nehmen."

Sie waren in der Gruft angekommen. gemeinsam zogen sie sich aus, wobei Alfred ihm den Rücken zuwandte. So hatte er allerdings einen guten Blick auf dessen süßen Hintern...
Herbert ließ Alfred den Vortritt in den Sarg und schloss dann den Deckel über ihnen beiden.

Alfred lag eine Weile wach, weil ihm nicht aus dem Kopf ging, dass er wieder von Herbert würde trinken müssen. Das war ihm natürlich lieber als selbst auf Jagd gehen zu müssen, aber er hatte Angst dass ihm dann wieder etwas - "passierte". Das war ihm gestern schon so peinlich gewesen.

Sich hin und her wälzend schlief er ein, und er träumte wirre Träume von Sarah, die ihn auslachte weil er gegen die Wand lief und von Herbert, der ihm dann hoch half und ihm auf einem riesigen Flügel französische Lieder vorspielte, bis Alfred die Ohren schmerzten.