Gedankenspiele

"Hast du gut geschlafen?" fragte Daphne besorgt und stellte eine Tasse heißen Kaffee vor ihm auf den Tisch. Justin schüttelte erschöpft den Kopf. Er fuhr sich durch sein Haar und gähnte. Daphne nickte wissend. Sie hatte die Alpträume von Justin mehr als einmal miterlebt, auch heute Nacht. Nach dem Angriff von Chris Hobbs hatte er sie regelmäßig gehabt. Seine Mutter war hilflos gewesen, nur Brian hatte ihn beruhigen können. "Du solltest nochmal mit ihm reden," meinte sie schließlich. Justin schüttelte heftig den Kopf. "Wozu?" Daphne zuckte mit den Schultern. "Ich finde, er schuldet dir eine Erklärung." Wieder schüttelte Justin den Kopf. "Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns eine Weile nicht sehen. Vielleicht nie mehr." Daphne seufzte. "Was hast du jetzt vor?" "Meine Mum besuchen und dann zurück nach Chicago. Ich... ich muss Ethan sagen, was passiert ist." Daphne nahm seine Hand. "Und dann?" Justin zuckte mit den Schultern. "Wenn ich das wüsste..."

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Brian stand am Fenster, eine Zigarette in der Hand, eine halbleere Scotch-Flasche in der Anderen. Es war kurz vor Morgengrauen und ein angenehmer Wind strich über seine nackte Haut. Er starrte hinaus auf die leere Straße. Vor ein paar Stunden war Justin hier gewesen und er hätte alles ändern können. Er hätte Justin sagen können, wie sehr er ihn vermisste, ihn liebte. Statt dessen hatte er ihn weggestoßen - wieder einmal. Brian schluckte schwer und versuchte die Tränen in seinen Augen zu verdrängen. Brian Kinney weinte nicht, Brian Kinney bereute nichts, Brian Kinney hatte keine Beziehungen. Er lachte auf. Selbst nach über 2 Jahren, versuchte er sich noch selbst zu belügen. Alles hatte sich geändert, als er Justin unter der Straßenlaterne vorm Babylon gesehen hatte. Er hatte den Jungen bei sich aufgenommen, als niemand ihn wollte. Er war zu seinem verdammten Abschlussball gegangen und hatte versucht, sich zu ändern. Für ihn!

Das schrille Klingeln seines Telefons unterbrach den Gedanken. Es klingelte zweimal, dreimal, viermal, ehe der Anrufbeantworter ansprang. Es war Mikey. "Hey Bri, wir haben dich gestern vermisst. Warum warst du nicht im Woodys? Na ja, meld dich bei mir, ja"
Brian nahm einen Schluck aus der Flasche. In zwei Stunden musste er bei Vangard sein und irgendeinen Kunden verzaubern.

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"Ja?" beantwortete er genervt die Gegensprechanlage. Er war vor 10 Minuten nach Hause gekommen und hatte sich auf eine heiße Dusche gefreut. "Brian? Hier ist Daphne. Ich muss mit dir sprechen." Brian verdrehte die Augen. Das Exekutionskommando war da. "Komm rauf." sagte er schließlich und drückte den Türsummer. Er lockerte seine Krawatte und schenkte sich ein Glas Whiskey ein.

"Hi," sagte Daphne, als sie schließlich in Brians Wohnung stand. Der Dunkelhaarige sah müde aus. "Ich nehme an, du weißt, warum ich da bin." Brian trank den Rest seines Whiskeys und schenkte sich nach. Dann sah er Daphne auffordernd an. "Ich finde, du schuldest Justin eine Erklärung. Und eine Entschuldigung!" "Findest du?" fragte Brian ruhig. Daphne nickte. "Er sitzt bei mir zu Hause und fragt sich, was er falsch gemacht hat." Brian seufzte und fuhr sich durch seine Haare. "Er hat nichts falsch gemacht." Daphne sah ihn wütend an. "Das sieht er ganz anders. Er fühlt sich beschissen und daran bist du schuld! Er denkt, du fändest ihn abstoßend." "Wie...?" Aber Daphne ließ Brian nicht zu Wort kommen. "Denk mal nach. Du stößt ihn weg, dann tust du alles, damit ihr euch wieder nah seid, nur um ihn dann wieder wegzustoßen." "Ich..." versuchte Brian sich zu verteidigen, doch Daphne war viel zu wütend, um ihm eine Chance dazu zugeben. "Du! Ganz genau. Es geht immer nur um dich! Denk doch mal an Justin. Er ist bei seinen Eltern rausgeflogen, wegen dir! Er ist nach New York abgehauen, wegen dir! Und jetzt die Sache mit Ethan. Willst du nicht, dass er endlich glücklich ist?" Brian seufzte. Natürlich wollte er, dass Justin glücklich ist. Das Problem war nur, dass Justin nicht glücklich war. Nicht mit Ethan, nicht in Chicago. Daphne sah ihn aus blitzenden Augen an. Sie hatte immer hinter Brian gestanden, aber diesmal war der Mann zu weit gegangen. Und sie würde nicht eher gehen, bis er das erkannte.

"Er hatte gestern Nacht einen Alptraum - von Hobbs," sagte sie schließlich leise. Brian sah sie scharf an, bevor er den Blick senkte. Sie hatte ihn gesehen, damals als Justin verletzt wurde. Der Blick in seinen Augen hatte sie lange Zeit verfolgt. Sie hatte noch nie solche Trauer und Angst gesehen. "Was willst du, Daphne? Was soll ich deiner Meinung nach tun?" fragte er schließlich leise. Daphne legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Du solltest mit ihm reden. Ihm erklären, was in dir vorgeht und ihm sagen, dasd er nach Hause kommen soll. Er ist mit Ethan nickt glücklich." Ach nein! dachte Brian sarkastisch. "Justin ist erwachsen. Er muss seine Entscheidungen selber treffen"xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

"Ich vermisse dich so," Jennifer lächelte ihren Sohn an. "Warum hat Ethan dich nicht begleitet?" Justin zuckte mit den Schultern. Ethan war das Letzte, über das er reden wollte. Jennifer bemerkte die Anspannung in Justins Blick, als sie Ethan erwähnte. "Hat Brian dich vom Flughafen abgeholt?" Justin stöhnte innerlich auf. Dann doch lieber Ethan. Er nickte nur kurz. "Ich habe Hunger," wechselte er schnell das Thema. Jennifer sah ihren Sohn besorgt an. Die dunklen Ringe unter den Augen und die blasse Haut... Sie wünschte, er würde sich ihr anvertrauen. "Wie wär's, wenn wir zu Marco gehen. Da waren wir schon ewig nicht mehr." Marco war Justins Lieblings-Italiener. Vielleicht würde ihn eine große Portion Spagetti Bolognese aufheitern. Justin lächelte leicht und nickte.

Das Essen war, wie immer, gut. Die Beiden unterhielten sich über allgemeine Sachen, Mollys Schule, sein Job in der Galerie, die skurrilen Kunden seiner Mutter. Während sie auf das Dessert warteten, beschloss Jennifer einen neuen Versuch in Richtung Ethan zu unternehmen.
"Ethans Konzert ist bald, oder?" Justin nickte und trank einen Schluck Cappuccino. "Ist alles in Ordnung zwischen euch?" bohrte sie weiter nach. Genervt stellte Justin seine Tasse ab. "Nein, ist es nicht. Wir hatten Streit. Nein, es ging nicht um Brian. Ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll. Ja, Brian hat mich abgeholt. Wir haben geredet, uns gestritten und ich bin zu Daphne abgehauen. Nein, ich habe nicht vor in der nächsten Zeit mit Brian zu reden. War das alles?" Jennifer nickte und Justin starrte wieder in seine Tasse.

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Von: B. Justin starrte auf die Mail. Einen Moment wollte er sie ungelesen löschen, aber er brachte es nicht übers Herz. Er atmete tief ein und öffnete die Mail.

"Was wäre, wenn wir uns damals nicht vor dem Babylon getroffen hätten? Würdest du noch immer bei deinen Eltern leben, verstecken, wer du wirklich bist? Was wäre, wenn ich dir nicht nach New York gefolgt wäre? Wärst du ein erfolgreicher Künstler geworden, oder ein weiteres namenloses Opfer in einer dunklen Seitengasse? Was wäre, wenn Chris Hobbs dir nicht in die Tiefgarage gefolgt wäre? Wäre es anders zwischen uns gewesen? Was wäre, wenn es nie einen Ethan gegeben hätte?"

Justin schluckte. Genau diese Fragen hatte er sich letzte Nacht gestellt. Ohne zu zögern, tippte er seine Antwort. Für: B. "Die Nacht, in der ich dich getroffen habe, war der Anfang meines neuen Lebens. Um nichts in der Welt würde ich sie vergessen wollen. Du hast mir gezeigt, wer ich wirklich bin. Dafür habe ich dir nie gedankt. Du warst immer für mich da. Deshalb war ich so sicher, dass du mir nach New York folgst. Ich hoffte, du würdest mich genug vermissen, um mir zu verzeihen.
Ich wünsche mir nichts mehr, als mich endlich erinnern zu können. Manchmal träume ich von Bruchstücken, du im schwarzen Anzug, der Kuss. Hättest du mir gesagt, dass du mich liebst?
Es ging nie um Ethan. Es ging um uns. Die Dinge, die ich wollte, waren nicht die Dinge, die du wolltest. Aber all die Romantik, die Blumen und schönen Worte können nichts daran ändern, das ich dich vermisse. Ich liebe Ethan nicht und habe es nie."

Mit Tränen in den Augen schickte er die Mail ab und schaltete den Computer aus. Seine Tasche stand gepackt neben ihm. Es wurde Zeit mit Ethan reinen Tisch zu machen.