Kapitel 17
Herbert seufzte innerlich auf, als Alfred natürlich doch wieder
von Sarah anfing. Aber eigentlich hatte er ja sowieso damit
gerechnet. Trotzdem drehte er sich erst ein wenig aggressiv zu ihm
um. Aber als er sah, wie bedröppelt Alfred dastand tat er ihm
wieder leid und er lächelte ihn freundlich, wenn auch ein wenig
gezwungen an. "Aber natürlich Cherie. Ich verstehe, dass du
noch einmal mit ihr reden möchtest."
Er nahm Alfred an
der Schulter und führte ihn etwas rasant den Gang zurück.
Er wollte dieses Sarah-Gespräch wenigstens schnell hinter sich
bringen. Und natürlich würde er mitkommen, um zu
verhindern, dass es Sarah doch wieder gelang Alfred einzuspinnen.
"Aber denk daran, dass sie dich fast in den Tod geschickt hätte"
schärfte er Alfred ein, während er ihn unsanfter als sonst
durch den Gang zog. "Und du hast selbst gesagt, dass ihr nichts
an dir gelegen hätte!"
"J-ja natürlich", stimmte Alfred zu, etwas überrascht,
mit welcher Schärfe ihn Herbert jetzt durch die Gänge zog.
Einmal stolperte er über seine eigenen Füße, fing
sich jedoch wieder.
Schließlich standen sie vor der Tür,
und bevor Alfred zaghaft anklopfen konnte, tat Herbert das schon,
ungeduldig und laut. Alfred trat nervös von einem Fuß auf
den anderen.
Er wusste gar nicht, was er sagen sollte. Sein Kopf
war auf einmal völlig leer und sein Mund ganz trocken. Sollte er
Sarah nicht vielleicht doch bitten, ihn zu mögen? Vielleicht
konnte sie versuchen, ihn doch wieder so gern zu haben, wie sie es am
Anfang getan hatte...
Die Tür ging auf, und Alfred schluckte
reflexartig, verschluckte sich und hustete. "Sarah",
brachte er etwas erstickt hervor."
Herbert lehnte sich an die Wand neben der Tür und betrachtete
seine Fingernägel. Er war innerlich sehr angespannt, aber er
würde sich auf keinen fall einmischen. Jedenfalls nicht solange
alles nach Plan lief.
Er sah zur Seite auf Alfred, der immer noch
stumm dastand.
Sarah sah Alfred weder besonders überrascht,
noch hocherfreut an. "Alfred" sagte sie sachlich. "Hast
du es geschafft mein Kleid zu bestellen? Und wo warst du überhaupt
so lange?" Sie blickte um die Tür herum auf Herbert. "Etwa
bei ihm?"
Alfred sah zu Herbert, dann wieder zu Sarah und nickte. "Ja",
sagte er, und er sah wieder Hilfe suchend zu Herbert, aber der
betrachtete seine Fingernägel. Von ihm konnte er keine Hilfe
erwarten, und das hier war ja auch seine Sache. Trotzdem war es so
unendlich schwer für ihn.
"Und ich... ich muss dir
sagen, dass..." Er löste seine ineinander verschlungenen
Finger voneinander, ließ die Arme an den Seiten herabhängen,
straffte seine Haltung und holte tief Luft.
"Sarah, ich komme
nicht wieder zu dir zurück", sagte er, und seine Stimme
unternahm den beinahe vergeblichen Versuch, bestimmt zu klingen. "Ich
habe mich im Wald verlaufen und es war dir egal. Herbert hat mich
gerettet. Ich - ich hole dir dein Kleid nicht, und... und die Zimmer
kannst du behalten."
Sarah sah Alfred einen Moment lang empört an. "Wie bitte?" fragte sie dann. "Habe ich das richtig verstanden? Du willst nicht mehr zu mir zurückkommen, sondern bei dem da bleiben?" sie zeigte wütend auf Herbert. "Und das traust du dich mir ins Gesicht zu sagen?" Sie schüttelte den Kopf. "So einer bist du also? Du willst dich von ihm..." sie brach ab. "Na ja was solls. Du wirst sowieso bald wieder angekrochen kommen so wie ich dich kenne. Nicht einmal ins Dorf schaffst du es ohne dich zu verirren. Wenn du ihm langweilig wirst hast du ausgespielt, das weißt du doch oder? Als Vampir taugst du nämlich nichts. Und dass er neben dir noch einige andere hat, weißt du jawohl hoffentlich auch. Gute Nacht." Sie knallte mit voller Wucht die Tür zu, so dass sogar Herbert zusammenzuckte.
Alfred hob die Hand, als Sarah die Tür zuknallte, aber er ließ
sie wieder sinken und drehte sich zerknirscht zu Herbert um. "Das...
das stimmt doch nicht, oder?", fragte er.
Eigentlich hatte er
ja kein Recht das zu fragen. Aber er konnte es sich nicht vorstellen,
dass Herbert zu jemand anderem so war wie zu ihm. Er hatte ihn immer
fühlen lassen, dass er wichtig für ihn war, dass er der
einzige war. Und das war ein so schönes Gefühl
gewesen.
Außerdem verbrachte Herbert doch seine gesamte Zeit
mit ihm. Außer natürlich, als er böse gewesen war.
Aber da hatte er ja geweint, weil er ihn vermisst hatte. Das hatte
Alfred sehen können.
"Natürlich stimmt das nicht" sagte Herbert entrüstet.
"Ich hatte selbstverständlich andere vor dir. Was hätte
ich denn auch machen sollen... aber es war bei niemandem so wie mit
dir Alfred. Das schwöre ich dir." Er nahm Alfreds Hand in
seine. "Du machst mich betrunken, wenn ich dich nur
ansehe..."
Er warf einen Blick auf die verschlossene Tür.
"Diese Frau ist eine undankbare Furie. Kein Wort des Dankes
wegen der Zimmer, die wir ihr großzügig überlassen.
Ich kann sie jederzeit rauswerfen wenn du möchtest." Er
drehte sich auf der Stelle um und zog Alfred hinter sich her. "Jetzt
muss ich noch etwas auf dem Friedhof erledigen und dann gehört
uns die Nacht."
Alfred war noch immer ziemlich mitgenommen, aber er nickte und ließ
sich von Herbert durch die Gänge führen. Als sie aus dem
Schloss traten, zog er seinen Pelzmantel ganz fest um sich und zog
die Schultern hoch. Er war neugierig, was Herbert auf dem Friedhof
tun wollte, aber er wollte nicht aufdringlich sein.
"Soll ich
hier auf dich warten?", fragte er höflich, als sie den
Anfang des Friedhofs erreicht hatten.
"Wie du möchtest. Wenn du keine Angst hast, kannst du hier
warten." Herbert sah Alfred an und merkte, dass er sich sehr
wohl ein wenig fürchtete in der Dunkelheit und ihm unwohl war.
"Komm ruhig mit" sagte er deshalb lächelnd und nahm
wieder Alfreds Hand.
Ohne sich ein einziges Mal orientieren zu
müssen fand Herbert den Weg zu Vincents Grab. Er ließ
Alfred los und kniete davor nieder, um den Sargdeckel zur Seite zu
schieben. Dort lag Vincent blass und schön, wie er ihn schon so
oft gesehen hatte. Er rüttelte ihn an der Schulter. "Vincent"
flüsterte er.
Alfred erschrak ein wenig und machte einen Schritt zurück, als
Herbert ein Grab öffnete. Das bereitete ihm immer ein wenig
Übelkeit. Seiner Meinung nach sollten Gräber geschlossen
bleiben.
In dem Sarg lag jedoch nichts Übelkeit erregendes.
Im Gegenteil lag ein schöner junger Mann darin, aber Alfreds
Unwohlsein blieb. Er fragte sich unruhig, was Herbert von ihm
wollte.
Vincent schlug die Augen auf, und das erste was er sah,
war Herbert. So sollte es immer sein, dachte er.
"Herbert,
mein Schöner", sagte er lächelnd und hob eine Hand, um
sie an Herberts Wange zu legen. Er richtete sich auf - und erstarrte
für einen Moment. Da stand doch tatsächlich dieser kleine
Bauerntölpel einige Schritte entfernt und sah zu ihnen herüber
wie ein verschrecktes Eichhörnchen. Hatte Herbert ihn immer noch
nicht aufgegeben?
Er hielt sich jedoch zurück und sagte
nichts, sondern sah lediglich weiterhin lächelnd zu Herbert. Wer
wusste, was der von ihm wollte? Grundlos würde er ihn ja nicht
geweckt haben. Vielleicht wollte er ja einen Dreier mit dem Knirps,
aber da würde er nicht mitspielen. Obwohl... vielleicht doch.
"Vincent" Herbert nahm lächelnd seine Hand. Vincent
hatte immer noch nichts von seinem Charme verloren. Das bemerkte er
auch jetzt, wo er Alfred liebte. Vincent war noch immer attraktiv.
"Du kennst ja Alfred bereits, nicht wahr?" Er wusste,
dass Vincent nicht besonders gut auf Alfred zu sprechen war und
Alfred wusste es vielleicht auch, jedenfalls sah er verlegen auf
seine Stiefel.
"Ich wollte mit dir reden Vincent. Du hast
eine lange Zeit einige Vorteile hier genossen und ich möchte
nicht, dass du sie alle aufgeben musst weil ich jetzt Alfred habe.
Ich habe deine ... Gesellschaft immer mehr als genossen. Darum möchte
ich dir ein Zimmer im Schloss anbieten. Du müsstest nicht mehr
mit allen hier draußen auf dem kalten Friedhof liegen."
Herbert
hatte sich das überlegt, weil Sarah jetzt eigene Räume
hatte. Wenn es jemand verdient hatte, dann Vincent. Seinem Vater
würde er das schon erklären. Er würde eben sagen, dass
ihm das Schloss zu einsam war.
Vincent wusste sofort, dass das eine Chance war, die er ergreifen
musste. Und er wusste auch, wie er Herbert behandeln musste, um ihm
wieder ein wenig näher zu kommen. Natürlich würde er
das langsam angehen lassen, aber auf Dauer würde er ihn völlig
für sich gewinnen. Wieder einmal. Es war ausgeschlossen, dass
der sich auf Dauer für dieses Muttersöhnchen entscheiden
würde.
"Das ist sehr freundlich von dir!", sagte er
immer noch lächelnd. "Dazu werde ich natürlich nicht
nein sagen. Ich hoffe nur, dein Vater hat nichts dagegen. Aber wenn
er jetzt schon Gesindel hereinlässt, wird er wohl nichts dagegen
habe, wenn ich diese Gesellschaft wieder etwas aufwerte." Er
warf einen eiskalten Blick zu Alfred, unter dem dieser sich krümmte,
strich aber gleichzeitig mit seiner Hand Herberts Hals entlang, bis
seine Finger die sensible Stell in dessen Nacken fanden. So oft hatte
er Herbert unter dieser Berührung erschauern fühlen, so wie
auch jetzt wieder. Oh ja, er kannte ihn, er kannte ihn gut. Und das
würde er ausspielen.
Herbert sagte sich, dass es nur natürlich war, dass Vincent ihn immer noch erregte. Schließlich hatten sie so oft miteinander geschlafen, dass er Herberts sensible Punkte auswendig kannte. Und er hatte schon immer gewusst wie er ihn...
Herbert schob den Gedanken zur Seite.
"Ja da hast du recht"
antwortete er auf Vincents Aussage seufzend und dachte dabei
natürlich an Sarah. "Ich denke nicht, dass er etwas gegen
deine Gesellschaft hat. Er mochte dich immer." Das war nur die
halbe Wahrheit. Er hatte seinen Vater sogar im Verdacht, dass er
Alfred vor allem hierher gebracht hatte, damit Herbert endlich ganz
von Vincent loskam. Damals als der Graf Vincent für Herbert
mitgebracht hatte, war er tatsächlich sehr angetan von dem
geheimnisvollen stolzen jungen Mann gewesen, aber ihm war auch nicht
entgangen, wie sehr Herbert darunter gelitten hatte, dass Vincent
seine Gefühle nicht erwiderte. Herbert hatte ihn sogar im
Verdacht, dass er Alfred vor allem deswegen zu Herbert gebracht
hatte, damit dieser Vincent vergaß. "Du kannst dir ein
schönes Zimmer auswählen" sagte er lächelnd zu
Vincent. Dann stand er auf und trat wieder neben Alfred.
Vincent erhob sich aus seinem Grab. Auf seinem Gesicht stand ein
Lächeln, das gleichzeitig gewinnend und eiskalt aussah, und er
bedachte Herbert und Alfred je mit der entsprechenden
Eigenschaft.
"Das werde ich tun, vielen Dank, Herbert",
sagte er und bückte sich, um seinen Sargdeckel zu schließen.
"Ich hoffe doch, dass du mich dann einmal besuchen kommst, um
dir mein neues - Heim anzusehen."
Er nahm Herberts Hand, hob
sie an seine Lippen und küsste sie. Dann sah er Alfred an, hob
leicht die Augenbrauen und drehte sich dann um, um ins Schloss zu
gehen. Sein Gang war aufrecht und stolz. Er war sich ganz sicher,
dass er diesen blonden Verlierer schon in der Tasche hatte. An so
einem Mäuschen konnte Herbert auf Dauer keinen Gefallen finden.
Das war schlicht unmöglich.
Alfred sah Vincent hinterher und
drängte sich an Herbert. "Wer war das denn?", fragte
er ängstlich. Dieser Vampir hatte ihn so angesehen wie früher
die großen Jungen, die sich immer über ihn lustig gemacht
und ihm Beine gestellt hatten. Er kannte diesen Blick, und er
bedeutete absolut nichts Gutes.
Herbert sah keinen Grund Alfred etwas zu verschweigen. Wahrscheinlich
würde er es früher oder später sowieso über
Gerüchte erfahren. "Mein früherer Liebhaber"
sagte er deshalb und sah Vincent nach, als der zum Schloss ging, ohne
sich ein einziges Mal umzudrehen. So wie früher immer...
Er
würde nachher nachsehen, welches Zimmer Vincent sich ausgesucht
hatte und dafür sorgen, dass ein Sarg hineingestellt werden
würde.
"Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Er hat
mich nie geliebt und wird es leicht haben darüber hinweg zu
kommen. Er hatte immer andere neben mir." Herbert lächelte
traurig und beugte sich dann vor, um Alfred auf die Lippen zu küssen.
"Es macht dir doch nichts aus, dass ich ihm ein Zimmer im
Schloss gebe?"
"N-nein, natürlich nicht", log Alfred. In Wirklichkeit
machte es ihm sehr viel aus. Von jetzt an würde er noch mehr
Angst haben, wenn er einmal alleine im Schloss war. Denn er merkte
genau, dass Vincent ihm nichts Gutes wollte. Er konnte sich sehr gut
vorstellen, wie er ihm auf einem dunklen Flur ein Bein stellte und
ihn dann auslachte, wenn er eine Treppe hinunterpolterte.
Er
hoffte nur, dass Vincent sich kein Zimmer aussuchen würde, das
sehr nah bei der Gruft lag.
Er griff nach Herberts Arm und
lächelte leicht, weil dieser ihn auf die Lippen geküsst
hatte. Es war eine schöne Nacht, und weil Herbert bei ihm war,
fürchtete er sich auch fast gar nicht. Er sah hinauf zum Mond
und zu den Sternen.
"Eine schöne Nacht", sagte er
andächtig.
"Ja und sie gehört nur dir. Ich schenke sie dir."
Herbert umarmte Alfred von hinten und sah zum Mond hoch. Er war
glücklich. Wirklich glücklich. Zum ersten Mal seit langer
langer Zeit. Alfred hatte Sarah eben sehr deutlich zu verstehen
gegeben, dass er sie nicht mehr zurück wollte. Er wollte
wirklich bei ihm bleiben. Er liebte ihn. Oder?
"Alfred?"
fragte er leise. "Liebst du mich?"
Alfred blinzelte und drehte den Kopf leicht in Herberts Richtung.
Sein Körper bewegte sich, als wolle er sich zu ihm umdrehen,
stockte dann aber. Er sah auf den weißen Schnee zu seinen
Füßen, und er hatte die Hände auf Herberts Arme um
ihn gelegt.
Diese Frage kam überraschend für ihn. Selbst
jetzt, wo er wusste, dass zwei Männer sich lieben konnten, war
er noch nicht auf die Idee gekommen, sich selbst zu fragen, ob er
Herbert lieben könnte. Irgendwie drückte er sich davor.
Er
starrte auf den Schnee, als könnte der ihm eine Antwort geben,
aber diese reine Weiße schien seinen Kopf noch leerer zu
machen. Allerdings musste er dort ja auch nicht suchen.
Wo er
suchen musste, wusste er, und er tat es gründlich und doch
nervös. Seine Augen kniffen sich zusammen vor Anstrengung, als
er versuchte, herauszufinden, ob er für Herbert so empfand wie
für Sarah. Aber wenn er an Sarah dachte und dann an Herbert,
dann fühlte es sich doch sehr unterschiedlich an.
Sicher ließ
er sich gerne von ihm küssen und berühren. Sehr gern sogar.
Und er bekam auch Herzklopfen, wenn er ihm so nahe war wie jetzt,
aber...
Bei Sarah war es noch anders gewesen. Das hatte sich zwar
jetzt gelegt, seit sie so zu ihm gewesen war, aber er erinnerte sich
noch gut an den Anfang. Da war dieses überwältigende Gefühl
gewesen, und er hatte sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Er hatte
ununterbrochen an sie gedacht, von ihr geträumt...
So war das
bei Herbert nicht. Aber vielleicht nur, weil er den ja immer um sich
hatte...? Er erinnerte sich auch, wie leer er sich gefühlt
hatte, als Herbert nicht bei ihm gewesen war. Aber es fiel ihm so
schwer, diese Gefühle zu deuten.
"Ich... ich weiß
nicht", sagte er ein wenig kläglich. "Ich weiß
nicht, ob das Liebe ist. Ich war nur einmal verliebt, und...
vielleicht fühlt sich das bei einem Mann anders an...?"
Er
drehte sich jetzt doch vorsichtig in Herberts Armen zu ihm um und
umarmte ihn fest, damit er ihn nicht etwa von sich stoßen
konnte, wenn ihm diese Antwort nicht gefiel. Und er wollte auch
nicht, dass er traurig wurde.
"Wie finde ich das heraus,
Herbert? Es ist so schwer zu sagen..."
