Kapitel 20
Herbert erwachte am nächsten Morgen sogar noch früher als sonst. Er hatte sehr unruhig geschlafen und von Alfred geträumt, der zitternd und allein in irgendeinem Sarg lag. Heute musste er ihn unbedingt zurückholen. Er würde ihm erklären, dass er ihm nicht wehtun wollte, aber dass das eben zu der Vereinigung dazugehörte. Es ließ sich nun mal nicht vermeiden. Aber das nächste Mal würde er natürlich viel zärtlicher und sanfter zu ihm sein.
Er stand auf und kleidete sich sehr viel schneller als sonst an. Als
er jedoch gerade die Gruft verlassen wollte trat ihm sein Vater in
den Weg. "Ich muss etwas mit dir besprechen Herbert." sagte
er. "Ich werde für ein paar Tage verreisen und es gibt ein
paar Dinge auf die du derweilen achten musst. Außerdem müssen
erste Vorkehrungen zum Ball getroffen werden und Einladungen
verschickt werden. Der Ball am ersten Dezember ist schließlich
etwas Besonderes. Ich möchte dass du eine Einladung an Ludwig
Morgenstern verschickt. Er soll einer der Ehrengäste unseres
Balles sein..."
Herbert folgte seinem Vater widerwillig. Er
musste doch zu Alfred...
Vincent war auf dem Weg zum Friedhof.
Er wollte seinen eigenen Sarg in sein Zimmer holen. Über die
Jahre hatte er sich so an ihn gewöhnt, dass er ihn nicht mehr
missen wollte.
Als er jedoch den Sarg anheben wollte musste er
feststellen, dass dieser nicht leer war. Überrascht öffnete
er ihn. "Wen haben wir denn da?" fragte er und seine Lippen
verzogen sich zu einem hinterhältigen Lächeln.
Alfred schrie gellend auf, als er die Augen aufschlug und Vincents
Gesicht über sich sah. Erschrocken presste er sich die Hände
auf den Mund und richtete sich dann auf, wobei er rückwärts
bis zu der Stelle krabbelte, wo der Sarg zu Ende war.
Er starrte
aus riesigen Augen zu Vincent hoch. "Ich... es tut mir leid, ich
wollte nicht... Ich habe nur... Das ist Ihr Sarg, ich weiß, ich
hab ihn mir nur ausgeliehen, weil..."
Als ihm wieder einfiel,
warum, wich seine Panik einer leisen Traurigkeit, und er stand rasch
auf und trat aus dem Sarg. "Wollen Sie ihn in Ihr Zimmer
tragen?", fragte er eifrig und bückte sich nach dem
Kopfende. "Dann helfe ich Ihnen!"
"Einen Moment, damit ist es nicht so eilig." sagte Vincent, der sich über den völlig verängstigten Alfred köstlich amüsierte. Er hatte Mühe nicht laut heraus zu lachen. "Zuerst möchte ich wissen warum du hier draußen liegst." Er sah Alfred ganz genau an. "Hat Herbert dich etwa rausgeworfen?" Von einem Moment auf den anderen setzte er eine verzweifelt-traurige Miene auf und sah sehnsuchtsvoll zu den Sternen. "Ja, so geht es allen mit ihm. Mich hat er auch eiskalt vor die Tür gesetzt als er dich hatte. Und jetzt habe ich ein Gnadenzimmer im Schloss. Dabei habe ich ihn wirklich über alles geliebt... und jetzt geht es dir also auch so." Er sah Alfred aus den Augenwinkeln aufmerksam an, ob dieser seine Geschichte schluckte. "Darf ich erfahren was der Grund war?" fragte er dann.
Alfred richtete sich wieder auf und sah nervös zu Vincent. Seine
Finger hatten sich vor seinem Bauch ineinander verschlungen.
"Er...
er wollte sich mit mir vereinigen, aber es hat wehgetan",
flüsterte er beschämt. Er kam sich irgendwie blöd vor,
das zu sagen. Und er war verwirrt durch Vincents Worte. Vincent hatte
Herbert also geliebt? Sicher würde Herbert ihn gerne
zurücknehmen, da Alfred ihn ja offenbar nicht lieben
konnte.
Eigentlich hätte er Vincent prima fragen können,
ob so wirklich eine Vereinigung ging. Der war schließlich
Herberts früherer Liebhaber gewesen. Aber hatte Herbert ihm
nicht erzählt, dass Vincent ihn nie geliebt hatte?
Alfred
dachte konzentriert nach, und seine Stirn runzelte sich dabei. Log
nun Herbert oder Vincent? Wie sollte er das je herausfinden?
"Soso" sagte Vincent und sah zur Seite, damit Alfred nicht
sehen konnte, dass er beinahe laut herausgelacht hätte. Alles
verlief wunderbar nach Plan. Herbert würde sicher nicht gerade
angetan davon sein, dass Alfred es nicht einmal schaffte mit ihm zu
schlafen. Der Junge war wirklich eine solche Witzfigur... sicher
würde Herbert bald so ausgehungert sein, dass er ganz von selbst
zu ihm zurückkam und ihn anflehte, ihn zu...
Wieder an Alfred
gewand seufzte er leise. "Ja, Herbert liebt es Menschen weh zu
tun. Je mehr er sie verletzt, umso besser fühlt er sich. Auch
mein Herz ist gebrochen..." Er sah plötzlich auf. "Dich
verstehe ich allerdings ganz und gar nicht. Du hast doch jemanden,
der dich von Herzen liebt. Und sie ist ein so wunderschönes
liebes Mädchen. Wie kannst du sie nur so behandeln? Ich habe
Sarah gestern ein wenig getröstet, aber die Arme war gar nicht
zu beruhigen. Ich verstehe nicht, wie du ihr das antun kannst..."
"Was?" Alfred sah ungläubig auf. "Aber... aber
als ich das letzte Mal bei ihr war, hat sie überhaupt nicht den
Eindruck gemacht, als würde sie mich nur ein bisschen
mögen..."
Er biss sich auf die Lippe und war hin- und
hergerissen. Das Bild in seinem Kopf von Sarah, die kreuzunglücklich
war weil er nicht bei ihr war, ließ sein Herz schmelzen. Aber
er wusste nicht, ob es wirklich so war. Wie konnte sie ihn vermissen
wenn sie letztes Mal so zu ihm gewesen war?
Und Herbert liebte es,
Leute zu verletzen? Das passte doch so gar nicht zu ihm! "Herbert...
Herbert hat gesagt, du hast ihn gar nicht geliebt", sagte er
zaghaft. "Er hat gesagt, er hätte es sich gewünscht.
Und er hat mir Gedichte vorgelesen und Klavier für mich
gespielt... Er hat sich um mich gekümmert..."
Aber jetzt
hat er dir wehgetan, sagte sein Hirn, und er schwieg kläglich.
Er wollte so gerne glauben, dass Herbert ihm nicht wehtun wollte,
aber er hatte es doch getan. Wieder einmal wusste er überhaupt
nicht, was er denken sollte.
Vincent lachte trocken. "Ja, das hat er für mich auch alles
gemacht. Und mir ewige Liebe geschworen." Dazu musste er nicht
einmal lügen. Herbert hatte ihm tatsächlich seine
langweiligen Gedichte vorgelesen und manchmal hatte er sich Stunden
lang das Geklimper auf dem Klavier anhören müssen, wenn er
eigentlich nur eins gewollt hatte... und ewige Liebe hatte Herbert
ihm auch mehr als einmal geschworen. Meistens wenn sie zusammen
geschlafen hatten. Dann war Herbert immer förmlich in seinen
Armen geschmolzen.
"Und was hat es mir gebracht? Kaum kommt
der Nächstbessere bin ich abgeschrieben. Herbert hat mich ganz
sicher nie geliebt."
Betont melancholisch sah er zu Boden.
"Und er versucht ja auch nicht dich zurück zu holen nicht
wahr? Soll ich dich zu Sarah bringen? Sie würde sich so sehr
freuen..."
Alfred sah betreten auf seine Schuhe. Dann nickte er. "Gut",
sagte er leise. Er musste erst einmal alles verdauen, was er jetzt
erfahren hatte, und eigentlich war ihm in diesem Moment ausnahmsweise
einmal gar nicht nach Gesellschaft. Nicht mal nach der von Sarah.
Jetzt hätte er sich gerne an eins der großen Fenster
gesetzt und stundenlang hinausgestarrt.
Er bückte sich wieder
nach dem Sarg, und Vincent hob ihn am anderen Ende an. So trugen sie
ihn in Richtung Schloss, und Alfred stolperte natürlich einmal,
wobei er Vincent den Sarg in den Rücken rammte und sie beide zu
Boden gingen. Aber Vincent sagte nichts zu ihm. Vielleicht hatte er
sich getäuscht und er wollte ihm gar nichts Böses.
Vielleicht war in Wahrheit er auf seiner Seite und Herbert...
Alfred
wollte gar nicht weiterdenken. Er konzentrierte sich darauf, nicht
mehr zu stolpern und schaffte es auch, bis er den Sarg in Vincents
Gemächern abstellte. Es war schön hier, und bewundernd sah
er sich um.
Herbert schwirrte der Kopf von all den Dingen, die sein Vater ihm
aufgetragen hatte. Er war immer sehr gut darin die Dekoration für
einen Ball anzuordnen, oder die Liste der Tänze und Musikstücke
zusammenzustellen, aber andere organisatorische Dinge lagen ihm gar
nicht. Allerdings freute er sich darauf Ludwig von Morgenstern wieder
zu sehen. Sie verstanden sich außerordentlich gut und Ludwig
verzierte wirklich jeden Ball, da er ein ausnehmend schöner
Vampir war. Er nahm sich vor ihn um einen Tanz zu bitten.
Aber
jetzt musste er unbedingt Alfred finden. Er hatte schon ein
schlechtes Gefühl, weil er ihn so lange hatte warten lassen.
Hoffentlich ging es ihm gut...
Er sah zuerst auf dem Friedhof
nach, aber dort war Alfred nicht. Wo konnte er also sein...?"
Sarah
kam aus dem Schlafzimmer, während Alfred gerade in die andere
Richtung sah. Vincent machte ihr ein paar Zeichen und sie verstand
sofort. Sie wusste, dass Alfred die Sarah von früher wiederhaben
wollte. Sein Idealbild eines unschuldigen liebreizenden Mädchens.
Nun, sie war eine gute Schauspielerin.
"Oh Alfred!" rief
sie und fiel ihm in die Arme. "Endlich sehe ich dich wieder. Ich
habe dich so vermisst. Es tut mir so leid, dass ich dich allein in
den Wald geschickt habe. Ich wusste nicht, dass es so schlimm für
dich ist."
Alfred schloss sofort die Arme um Sarah, und er konnte sein Gesicht
nicht davon abhalten, zu strahlen. Diesmal klang sie wieder ganz
anders, wieder viel mehr so wie damals...
Er strahlte sie an und
hielt sie fest. "Sarah", sagte er glücklich, und er
konnte seine Augen gar nicht von ihr nehmen. "Lass uns das
vergessen und noch mal von vorne anfangen, ja? Ich liebe dich,
Sarah!"
Ja, er war sich jetzt ganz sicher, dass er sie
wiederhatte. Vielleicht war sie das letzte Mal nur verwirrt gewesen,
vielleicht hatte sie selbst nicht genau gewusst, wen sie wollte...
Aber jetzt wollte sie ihn. Ganz sicher. Er sah über ihre
Schulter und warf Vincent einen dankbaren Blick zu.
Vincent war mehr als überrascht darüber, wie einfach das
gewesen war. Und er war über sich selbst überrascht, dass
er sogar einen winzigen Stachel des Mitleids für Herbert in
seinem Herzen fühlte. Offensichtlich hatte diesem Alfred so gut
wie gar nichts an ihm gelegen... er selbst mochte Herbert immerhin.
Und er schlief gern mit ihm. Mit ihm war Herbert wirklich besser dran
als mit diesem Jungen...
Sarah zwinkerte ihm über Alfreds
Schulter hinweg zu und er blinzelte zurück. Der Sex mit ihr
gestern Nacht war gar nicht schlecht gewesen. allerdings nicht zu
vergleichen mit Herbert...
"Alfred. Endlich" flüsterte
Sarah, ihre Rolle perfekt spielend. Dieses Mal musste sie eine Weile
durchhalten, bis sie Alfred wirklich sicher hatte. Und fast machte es
ein bisschen Spaß die Unschuld vom Lande zu spielen...
"Du
musst mich doch verstehen. Ich war so verwirrt. plötzlich war
ich zum Vampir geworden. ich wusste kaum was ich sagen oder tun soll.
aber dich zu verlieren, das war ... einfach furchtbar. Ich habe es
kaum ausgehalten ohne dich." Schniefend lehnte sie sich an ihn.
Alfred drückte Sarah an sich und setzte sich mit ihr auf das
Sofa, wo er ihr etwas unbeholfen über den Rücken
streichelte. "Nun wein doch nicht", sagte er etwas nervös.
"Ich bin doch jetzt da. Ich habe das nicht so gemeint das letzte
Mal. Ich war nur verwirrt, weil... Ach, lassen wir das."
Er
löste sich etwas von Sarah und lächelte sie an. Er war so
froh, dass er sie wieder hatte. Bestimmt würde jetzt endlich
alles gut werden.
Er musste nur aufhören, dauernd an Herbert
zu denken...
Vincent verließ das Zimmer und ging beschwingt
die Gänge entlang. Er lehnte sich in eine Fensternische und
betrachtete zufrieden seine Fingernägel. Sicher suchte Herbert
bereits nach Alfred. Und er würde dafür sorgen, dass er ihn
nicht fand. Beziehungsweise dass er ihn, Vincent, zuerst fand...
Sicher würde er bald hier vorbeikommen, wenn ihm dämmerte,
dass Alfred zu Sarah gegangen war. Oh, und wie sehr er dann Trost
brauchen würde...
Herbert lief Vincent tatsächlich regelrecht in die Arme. Nachdem
Alfred nicht auf dem Friedhof gewesen war, war in ihm die Angst
aufgestiegen, er könne wieder bei Sarah sein. Ziemlich
verzweifelt lief er die Gänge entlang. Aber das würde
Alfred ihm doch nicht antun, nicht wahr? Nur weil gestern etwas
schief gelaufen war, würde er doch nicht...
denn wenn er
wirklich wieder zu Sarah gegangen war, dann hieß das, dass
Alfred ihn wirklich nicht liebte. Sein Herz schlug wie ein
aufgeregter Schmetterling in seiner Brust.
In diesem Zustand
begegnete er Vincent. Er lief in ihn hinein, als er um eine Ecke kam.
"Lass mich vorbei, ich suche Alfred" sagte er gehetzt.
"Hast du ihn gesehen? Ich habe Angst, dass ihm etwas passiert
ist."
"Ihm ist nichts passiert", sagte Vincent sanft und hielt
Herbert an den Schultern fest. "Und ich glaube nicht, dass du
ausgerechnet jetzt zu ihm möchtest - es sei denn, du möchtest
dir dein zartes Herz brechen."
Er lächelte leicht und
drehte sich um, um zu Sarahs Tür zu sehen. Einen Arm legte er um
Herberts Schultern. "Dein kleiner Freund ist nicht schwul,
Herbert. Das musst du einsehen, fürchte ich."
"Er ist nicht bei Sarah, oder?" flüsterte Herbert.
aber er wusste, dass es so war, ohne dass Vincent es ihm sagen
musste. Kraftlos sackte er in Vincents Armen zusammen. Jetzt brauchte
er einfach jemanden der ihn stützte. Sein Gesicht war
schmerzverzerrt. "Nein, das ... das kann nicht sein. Er hat
gesagt ... er mag mich..."
Aber er wusste, dass Alfred Sarah
in seinen Armen nie wirklich vergessen hatte. Er war so glücklich,
wenn Alfred bei ihm gewesen war, dass er seine eigenen Gefühle,
auf ihn übertragen hatte.
"Nein!" sein Schrei
hallte an den Wänden wieder und er klammerte sich an Vincent
fest.
