Author's note:
Rosinas Arie „Una voce poco fa" aus Rossinis „Barbiere di Siviglia" handelt davon, wie eine junge Dame es faustdick hinter den Ohren hat...
2. Kapitel
Valjean lachte immer noch, als sie zu ihrer Wohnung zurückkehrten. Javert hatte ihn zwischenzeitlich von den Umständen seines neuen Falles unterrichtet, und die Vorstellung, wie er hinter einem ausgewachsenen weißen Elefanten durch Paris herjagte, war einfach zu schön. Trotzdem sah sich Valjean gezwungen, Javert auf der Treppe noch einmal zu ermahnen. „Sei nett zu ihr, es gibt keinen Grund, weswegen du unhöflich sein mußt."
Javert verdrehte nur die Augen. Trotzdem war es für ihn eine Überwindung, den Salon zu betreten. Er wollte nichts mit seiner Familie zu tun haben, gleichgültig, um wen es sich dabei handelte. Hätte er das gewollt, so wäre es für ihn kein Problem gewesen, selbst festzustellen, wo sie sich befand, dazu brauchte er wirklich diesen Grafen nicht. Er hatte in all den Jahren jedoch nicht einmal daran gedacht, nach seiner Familie zu forschen.
Doch irgendwie hatte Valjean es geschafft, daß er ihm sein Wort gegeben hatte, das Mädchen kennenzulernen, wie er es eigentlich ständig schaffte, daß er Sachen tat, die er nicht tun wollte.
Javert betrat den Salon. Er würde sich jetzt diesem Mädchen stellen, und nach einer Weile konnte er Valjean dann guten Gewissens sagen, daß er kein Interesse an weiterem Umgang mir ihr hätte. Valjean folgte ihm, ließ sich in einem Sessel nieder und betrachtete die sich ihm bietende Szene mit amüsierter Distanz.
„Du bist also meine Nichte Fides," begann Javert sehr zögernd. „Ich werde mit dir Französisch sprechen, meine Fähigkeiten, was die Roma-Sprache angeht, sind mittlerweile sehr beschränkt."
„Wie du willst." Fides schien sich nicht das geringste aus den schroffen Worten ihres Onkels zu machen. „Ich habe gehört, du warst Inspecteur bei der Polizei. Merkwürdige Beschäftigung für einen Rom."
„Ich bevorzuge es, wenn du mich nicht so bezeichnen würdest." Javert hatte diese Maske der Unnahbarkeit aufgesetzt, die ihm so viele Jahrzehnte geschützt hatte. „Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt?"
„Ich bin eine miserable Wahrsagerin, und zu anderen Tätigkeiten tauge ich auch nicht besonders. Es gibt nur eines, was ich wirklich will."
„Und das wäre?"
„Ich will singen," sagte Fides mit soviel Bestimmtheit, daß Javert sich fragte, woher er diesen Tonfall kannte.
„Was singen Sie denn, mein Kind?" fragte Valjean aus den Tiefen seines Sessels freundlich.
„Ich kann gerne eine Kostprobe geben."
Valjean lächelte aufmunternd, während Javert eine Handbewegung machte, die am ehesten ein „Wenn es denn sein muß" darstellen mochte.
Beide Männer hatten erwartet, daß Fides ein Volkslied singen würde, ein Lied der Wagen und Lagerfeuer, doch dies lag nicht in ihrer Absicht. Sie stand auf und sang mit einer apart timbrierten, perfekt ausgebildeten Mezzosopranstimme Rosinas Cavantine „Una voce poco fa". Valjean starrte Fides mit halboffenem Mund an, Javert versuchte, nicht beeindruckt auszusehen.
„Das war... bemerkenswert," sagte Javert mit widerwilliger Anerkennung.
„Mehr als bemerkenswert," lobte Valjean deutlich euphorischer. „Wo treten Sie auf?"
„Ich bin nach Paris gekommen, um hier bei den Compagnien vorzusingen."
„Welch außergewöhnlicher Zufall," erwiderte Valjean, und Javert ahnte bereits Übles, bevor er weitersprach. „Ihr Onkel hat zur Zeit einen Auftrag von der Oper. Er kann Sie ja vielleicht dorthin mitnehmen, und, wer weiß, es ergibt sich eine Gelegenheit für Sie."
Javerts Lippen formten lautlos in Valjeans Richtung: „Du weißt, ich liebe dich, aber manchmal machst du mich wahnsinnig."
Valjean neigte statt einer Antwort nur lächelnd den Kopf.
„Ehrlich, das würdest du tun, Onkel?" fragte Fides aufgeregt.
„Sicher," antwortete Javert und ein „Habe ich denn eine andere Wahl?" blieb unausgesprochen, doch deutlich hörbar. „Du mußt allerdings versprechen, mir nicht im Weg herumzustehen. Ich habe zu arbeiten und keine Zeit, für dich das Kindermädchen zu spielen."
„Ich werde so leise sein, daß du gar nicht merken wirst, daß ich da bin."
Valjeans Lächeln wurde womöglich noch breiter, während er außerordentlich belustigt von Javert zu dessen Nichte und zurückblickte. Wie lange es wohl dauern würde, bis den beiden auffiel, daß die Ähnlichkeit sich nicht allein auf die Augen beschränkte?
XXX
„Dein Freund scheint sehr nett zu sein," sagte Fides, als sie eine Stunde später versuchte, mit Javerts energischen Schritten mitzuhalten. Sie waren auf dem Weg zurück zur Oper, wo Javert hoffte, noch vor Beginn der Vorstellung einige Ermittlungen durchführen zu können.
„‚Nett' wäre nicht so ganz das Wort, was ich benutzen würde, um Jean Valjean zu beschreiben," erwiderte Javert trocken, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.
„Was denn dann?" wollte Fides wissen.
„Du bist ein bißchen zu neugierig dafür, daß wir uns gerade einmal eine Stunde kennen," antwortete Javert abweisend. „Wo wohnst du eigentlich in Paris?"
„Ich habe ein Zimmer in Montparnasse. Der Graf hat mir ein bißchen Geld gegeben. Fünfzig Francs."
„Der Graf bezahlt meine Nichte, damit sie mich besucht?" Javert schnaubte verächtlich. „Ich sollte vielleicht einmal ein paar Worte mit diesem Grafen reden."
„Warum tust du es nicht? Er ist seit einigen Wochen in Paris."
„Du kannst dich darauf verlassen, daß ich es tue." Dieser sogenannte Graf würde einsehen müssen, daß es sehr ungesund war, sich in sein Leben einzumischen!
Sie erreichten die Oper, wo Javert begann, sich die Stallungen genauer anzusehen. Dort, wo Napoleone gelebt hatte, war ein großer, leerer Stall. Drumherum befanden sich Pferdeställe, Hundezwinger und alle Arte von Wagen und Karren. Ein großes, breites Tor führte aus dem Hof in eine kleine Seitenstraße. Es war hoch und breit genug, um einen Elefanten durchzulassen.
Javert verbrachte einen ermüdenden Nachmittag damit, die Anwohner der Seitenstraße zu befragen, ob ihnen in den vergangenen Tagen etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei, denn er konnte sie ja schlecht fragen, ob sie gesehen hatten, daß der Elefant einen Spaziergang unternommen habe. Die erhellendste Antwort war diejenige einer älteren Frau, die Javert darauf aufmerksam machte, daß das gegenüber das Opernhaus sei, wo ständig ungewöhnliche Dinge vor sich gingen.
Fides war ihm tatsächlich still wie ein Mäuschen gefolgt, hatte sich alles angehört und fragte Javert, als sie die Oper wieder betraten: „Wo versteckt man einen Elefanten?"
„Das werde ich wissen, wenn ich weiß, wer das Tier entführt hat."
In diesem Moment kam M. Biscrome ihnen entgegen. „Es ist etwas Schreckliches passiert, eine Katastrophe!"
„Schon wieder eine?" fragte Javert. „Was ist diesmal verschwunden, das Theaterschaf?"
„Was? Nein, natürlich nicht, wir haben nur eine Ziege," wehrte Biscrome ab. „Nein, unsere Alisa ist krank. Sie sitzt in ihrer Garderobe und ist stockheiser. In zehn Minuten geht der Vorhang auf. Was soll ich nur tun?"
„Lassen Sie es mich probieren," stieß Fides hervor.
„Was?" machte Biscrome irritiert. „Wer sind Sie überhaupt?"
„Das ist meine Nichte," antwortete Javert.
„Ihre Nichte, so, so," antwortete der Direktor argwöhnisch und ungläubig. „Kann sie denn singen?"
„Wenn sie etwas kann, dann singen." Javert war Herablassung pur, so daß Fides ihn anfunkelte.
Statt etwas zu sagen, begann sie zu singen, zunächst hörbar nervös, dann immer sicherer. Biscrome starrte sie an, dann unterbrach er sie. „Das reicht mir, versuchen wir es. Machen Sie, daß Sie in ein Kostüm kommen." Der Direktor wandte ihnen den Rücken zu und verschwand in irgendeinem Seitengang.
„Ich habe ein Engagement," quietschte Fides los.
„Sieht wohl so aus," sagte Javert lakonisch.
„Onkel Javert, das habe ich nur dir zu verdanken." Sie fiel ihm um den Hals.
Javert hatte in den vergangenen Jahren gelernt, mit derartig emotionalen Attacken umzugehen – solange sie von Valjean oder einem der Kinder kamen. So jedoch ließ er die Umarmung einfach über sie ergehen.
Fides schien es nicht zu merken, denn sie quietschte schon wieder. „Mein Gott, da ist Patrice Arthur, und er kommt direkt auf uns zu."
Javert befreite sich von ihren Armen und warf einen Blick über seine Schulter. Für einen Moment glaubte er, das Theaterschaf stünde hinter ihm, doch dann erkannte er einen ganz in Weiß gekleideten Mann mit etwas auf dem Kopf, das entfernt an einen Wischmob erinnerte. „Wer ist Patrice Arthur?" raunte er Fides zu.
„Na, der berühmte lyrische Tenor," flüsterte Fides schockiert über die Unwissenheit ihres Onkels zurück. „Und, Gott steh mir bei, ich werde gleich mit ihm auf einer Bühne stehen."
„Was stehst du hier herum?" fuhr Arthur Fides mit leiser Stimme an; er schonte die Stimmbänder für die Bühne. „Mach, daß du ins Kostüm kommst, für das Herumpoussieren mit deinem Beschützer hast du nach der Vorstellung noch genug Zeit." Mit einer unendlich arroganten Bewegung warf Arthur seinen Umhang zurück und marschierte davon.
„Warum denkt hier eigentlich jeder, ich sei etwas anderes als dein Onkel?" beschwerte Javert sich.
„Weil ein reifer Mann, der eine Sängerin protegiert, immer der ‚Onkel' ist," antwortete Fides, während sie durch die Gänge hasteten.
„Dann muß ich wohl andere Onkel zukünftig von dir fernhalten."
Statt einer Antwort schnitt Fides eine Grimasse. Sie verschwand schließlich in einer Garderobe, um sich umzuziehen. Javert blieb im Gang davon stehen und bemühte sich, die allgemeine Hektik zu ignorieren.
„Morgen abend hat der Graf von Monte Cristo eine Loge gemietet," hörte er ein Chormädchen, das in der Nähe stand, ihrer Kollegin erzählen. „Der Mann soll Geld wie Heu haben, vielleicht sucht er ja noch eine Maîtresse." Die Kollegin kicherte laut, während sich beide entfernten.
Javert überlegte nicht lange, sondern beschloß, daß er am nächsten Abend auf jeden Fall in die Oper gehen würde, um ein paar sehr ernste Worte mit dem Grafen zu wechseln.
Fides kam wieder aus der Garderobe heraus, nur stark verändert und gar nicht mehr wie Esmeralda, sondern wie eine altjüngferliche Gesellschafterin aussehend. Javert begleitete sie zur Bühne; auf dem Weg dorthin quietschte Fides noch einige Male, als sie berühmte Sänger erkennte, insbesondere die Dame, die Javert im blutigen Nachthemd den Weg in die Direktionsbüros gewiesen hatte.
Endlich war der Moment gekommen, als Fides auf die Bühne mußte. Javert beobachtete sie aus der Gasse, wie sie ihre kurzen Einwürfe sehr ernsthaft sang, und zu seiner Überraschung spürte er so etwas wie... Stolz? Nein, Stolz war es nicht, denn er hatte keinen Anteil daran, was sie war, aber es war tatsächlich so etwas wie Zuneigung.
XXX
Nach der Vorstellung bot Direktor Biscrome Fides einen lächerlich gering dotierten Vertrag an, den sie, ohne zu zögern, freudestrahlend unterzeichnete. Javert brachte sie nach Hause, wo er sie erleichtert ablieferte, um dann, ihrem pausenlosen, seligem Geplapper glücklich entronnen, seinerseits heimzugehen.
Valjean wartete in ihrem Schlafzimmer auf ihn. Er saß im Bett, hatte seine Augengläser auf der Nase und las ein Buch über die Situation von Fabrikarbeitern, wobei er gelegentlich ob des dargestellten Elends seufzte.
Javert ließ sich neben ihn aufs Bett fallen. „Was für ein Tag!" stöhnte er leise.
„Warst du denn erfolgreich?"
„Ja und nein." In kurzen Worten schilderte Javert seine erfolglosen Befragungen sowie Fides' Engagement an der Oper. „Weißt du, was verrückt ist? Ich habe fast so etwas wie Stolz empfunden, als sie sang. Ich dachte, das erste Mitglied meiner Sippe, die aus ihrem Leben etwas macht."
„Du meinst, nach dir." Valjean legte Buch und Brille beiseite.
Javert lächelte müde. „Auch wenn sie morgen nicht singt, muß ich in die Vorstellung. Würdest du mich begleiten?"
„Bittest du mich gerade um ein Rendezvous?" neckte Valjean ihn und löschte die Kerze auf seinem Nachttisch.
„Vielleicht."
„Theater, danach Essen zu zweit, und dann sehen wir weiter? Klingt sehr verlockend." Ihre Händen fanden im Dunkeln zusammen.
„Ich freue mich, daß du dich damit abgefunden hast, daß Fides ein nettes Mädchen ist, und damit nicht deine ganze Familie verdorben zu sein scheint," sagte Valjean nach einer Weile schläfrig. „Manchmal hoffe ich, daß ich doch noch eines Tages herausfinde, was aus meiner Schwester und ihren Kindern geworden ist."
Javert, der bereits fast eingeschlafen war, erstarrte und war sofort wieder hellwach. Er fand in dieser Nacht keinen Schlaf, sondern starrte ins Dunkel.
XXX
Der Javert, der am nächsten Morgen das Haus verließ, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem gutgelaunten Mann, der dies vierundzwanzig Stunden zuvor getan hatte. Er hatte den gesamten Morgen geschwiegen, ebenso war ein grüblerischer Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen. Valjean kannte ihn gut genug, um ihn nicht darauf anzusprechen. Offenbar brütete Javert über einem Problem, und er würde, sobald er wußte, woran er war, sowieso darüber sprechen.
Javerts Schritte führten ihn nicht sofort in die Oper, sondern in eine Anwaltskanzlei nahe dem Justizpalast – und beunruhigend nahe der Brücke.
„Bon jour, M. Javert," begrüßte ihn der Sekretär ein wenig zu untertänig. Javert war in dieser Kanzlei ein häufig gesehener Gast, denn der Rechtsanwalt beauftragte ihn oft mit Ermittlungen.
Javert nickte zur Begrüßung nur kurz. „Hat er ein paar Minuten für mich Zeit?" fragte er und deutete auf die Tür.
„Er hat für die nächste halbe Stunde keine Termine," antwortete der Sekretär. „Gehen Sie nur herein."
Mit einem sehr ernsten Gesicht betrat Javert, ohne eine Antwort abzuwarten, nachdem er zuvor angeklopft hatte, das Anwaltsbüro. Marius saß mit einer Akte am Schreibtisch, die ihn offenbar nicht sonderlich interessierte. „Javert, welch willkommene Ablenkung," sagte er erfreut. „Was kann ich für Sie tun?"
„Ich brauche einen Rat," antwortete Javert niedergeschlagen, was Marius sofort alarmierte.
„Meinen Rat als Anwalt oder als Familienmitglied?"
„Letzteres."
„Oh," machte Marius nur und wurde noch besorgter.
Mit ein paar kurzen, knappen Worten, als würde er einen Ermittlungsbericht erstatten, berichtete Javert von seiner wiedergefundenen Nichte. „Gestern abend, als wir darüber sprachen, sagte Valjean plötzlich, daß er noch Hoffnung habe, herauszufinden, was aus seiner Familie, ich meine, aus seiner leiblichen Familie geworden sei. Sie wissen, daß damals, als wir beide nach Paris kamen, und ich ihn im Haus Gorbeau erkannte, obgleich er als tot galt, er mir entkam, indem er und Madame la Baronne in das Konvent flohen.
Ich suchte ihn jahrelang, stellte Nachforschungen an, versuchte, seine Familie aufzuspüren, falls er Kontakt mit ihnen aufnehmen würde... Dabei fand ich heraus, daß alle Neffen und Nichten bis auf einen Jungen bereits vor 1800 an Unterernäherung oder Krankheiten gestorben waren. Seine Schwester und das letzte Kind sind laut meinen Erkenntnissen etwa 1804 an der Cholera gestorben, hier in Paris. Ich habe ihm das nie gesagt, wahrscheinlich bin ich davon ausgegangen, er wüßte es. Und dann sagte er mir gestern abend, daß er hoffe, herauszufinden, was aus ihnen geworden sei." Javert fuhr sich mit der Hand durch das Haar und schaffte es, eine Strähne aus dem Zopf zu lösen. „Was soll ich tun? Schweigen und ihn so anlügen? Oder es ihm sagen, und nicht nur seine Hoffnung zerstören, sondern ihm auch Grund geben, mich zu hassen, daß ich es ihm nicht vorher gesagt habe?"
Marius blickte ihn ernst an. „Sie fragen mich, ob Sie meinem Schwiegervater die Wahrheit sagen sollen? Sie, der in der Taverne nicht eine Sekunde lang versucht hat, sich durch eine Lüge zu retten?"
„Es ist viel Zeit seit den Barrikaden vergangen, und es hat sich viel geändert," murmelte Javert.
„Ja, aber Sie haben sich nicht soweit verändert, daß Sie beginnen würden, meinen Schwiegervater anzulügen."
„Würden Sie es Cosette sagen, wenn Sie an meiner Stelle wären?"
Marius schwieg für einige Sekunden und nickte dann. „Ich verstehe Ihr Dilemma, aber ich würde es ihr sagen, und wissen Sie, weswegen? Weil sie alles, was sie über Verstehen und Verzeihen weiß, von ihrem Vater gelernt hat. Mein Schwiegervater ist ein Mann mit vielen Fähigkeiten, und eine seine ausgeprägtesten ist die Fähigkeit, jedem jederzeit alles vergeben zu können."
„Dann habe ich nur die Möglichkeit, darauf zu hoffen, diese Fähigkeit nicht überstrapaziert zu haben in den letzten fünfunddreißig Jahren," entgegnete Javert niedergeschlagen.
XXX
Javert verbrachte einen sehr fruchtlosen Tag in der Oper, befragte Bühnenarbeiter, Choristen, Tänzerinnen, Sänger und Orchestermusiker, doch keiner wußte etwas über den Verbleib des Elefanten zu sagen oder benahm sich in irgendeiner Weise verdächtig.
Allerdings mußte man auch feststellen, daß Javert nicht halb so aufmerksam war, wie er dies üblicherweise von sich erwartete. Erstmals in seinem Leben erlaubte er, einem privaten Problem die Oberhand gegenüber einer Ermittlung zu gewinnen. Er hatte sich entschlossen, bis zum Ende der Vorstellung zu warten, bis Valjean und er wieder zu Hause waren. Es war nichts, was man zwischen Tür und Angel besprechen konnte, was er ihm zu sagen hatte.
Als er die Wohnung betrat, um sich umzukleiden, kam ihm Valjean entgegen, der natürlich ihm wieder einen Schritt voraus gewesen und bereits fertig war. Javert blickte ihn fast eine Minute lang an, und zum ersten Mal hatte er Angst, panische Angst, ihn zu verlieren.
„Du solltest dich beeilen, wir sind nicht hochwohlgeboren genug, um erst während der Vorstellung zu kommen, sondern müssen pünktlich erscheinen bei den Plätzen im Parkett. Wie bourgeois!" Valjean lachte, und Javert konnte sich nicht erinnern, daß er jemals besser ausgehen hatte.
Es war ein gezwungenes Lächeln, das Javert erwiderte, als er im Schlafzimmer verschwand, um sich umzukleiden. Seit einigen Jahren besaß er tatsächlich einen Abendanzug, um bei Einladungen im Hause Pontmercy angemessen gekleidet erscheinen zu können. Er erinnerte sich nur zu gut an den Tag, an dem er seine Uniform endgültig ausgezogen hatte. Valjean hatte einen sehr vergnügten Tag damit zugebracht, ihn zu einem Schneider zu schleppen, damit dieser ihn neu einkleidete. Verrückt, daß er jetzt zugeben konnte, daß er tatsächlich Spaß daran gehabt hatte, während er sich vor sechs Jahre lieber hätte schlagen lassen...
Er war nur einen flüchtigen Blick in den Spiegel, bevor er hinüber in den Salon ging. Valjean saß mit einem Glas Rotwein in seinem Sessel und lächelte ihn an. Javert zwang sich, das Lächeln zu erwidern.
Sie sprachen nicht viel auf dem Weg zur Oper, aber es war kein belastetes Schweigen, sondern ein sehr vertrautes. „Was genau tun wir eigentlich in der Oper?" fragte Valjean, kurz bevor sie dort angelangt waren. „Sehen wir nach, ob sich der weiße Elefant unter einem Sitz versteckt hält?"
„Nein," Javert schüttelte den Kopf; trotz seiner Sorgen war er amüsiert.
„Und es wird auch niemand auf dich schießen?"
„Voraussichtlich nicht."
„Warum gehen wir dann in ‚Robert le diable', da ja noch nicht einmal Fides auftritt?"
„Ich muß mit jemandem sprechen."
„Du bist heute sehr geheimnisvoll."
„Das hält mich interessant." Es war so leicht, so gewohnt, mit Valjean in dieser Weise zu sprechen, wie sie es immer taten, wenn man die Sorgen einfach verdrängte.
Ihre Plätze lagen, wie Valjean gesagt hatte, im Parkett, wie es sich für diejenigen von Junggesellen gehörte. Javerts Blick suchte immer wieder die Loge des russischen Botschafters, doch diese war leer, als die Vorstellung begann.
Es war schwer, der abstrusen Handlung zu folgen, und die Musik vermochte nicht hundertprozentig zu fesseln, obwohl Valjean einen sehr konzentrierten Eindruck erweckte. Gegen Ende des ersten Aktes erfaßte Unruhe den Zuschauerraum. In der Loge des russischen Botschafters war ein hochgewachsener Mann um die Vierzig, der große Autorität ausstrahlte, aufgetaucht, neben ihm eine junge, schöne Frau im griechischen Gewand. „Wer ist das?" fragte Valjean leise.
„Der Graf von Monte Cristo," antwortete Javert einsilbig.
„Der, dem wir die Bekanntschaft mit Fides verdanken?"
„Genau der."
„Er ist derjenigen, mit dem du sprechen willst." Das war eine Feststellung, keine Frage. „Ist er ein Verdächtiger oder ein Zeuge im Falle des verschwundenen weißen Elefanten?"
„Weder noch. Ich konnte ihm bei einer Ermittlung behilflich sein, es war nichts, wofür ich mich habe bezahlen lassen, und er ist offenbar der Meinung, mir etwas schuldig zu sein."
Der Vorhang öffnete sich zum zweiten Akt, doch das Gemurmel im Zuschauerraum verstummte nicht. Der zweite Akt ging daher fast zweistimmig über die Bühne. Kaum war der letzte Ton verklungen, war Javert auf den Füßen. „Komm," forderte er Valjean auf, der ihm kaum folgen konnte, so schnell und geschickt bewegte Javert sich durch das Theater; wenigstens die Wege hatte er sich in den vergangenen zwei Tagen eingeprägt.
Trotzdem benötigten sie eine ganze Weile, bis sie den Logengang erreichten. Dort verabschiedete sich der Graf gerade von einem jungen Mann, den Valjean vom Sehen her als den jungen Albert Morcerf kannte. Morcerf eilte davon, der Graf war gerade dabei, in seine Loge zurückzukehren, als Javert auf ihn zutrat. „Monsieur le Comte," sagte er in einem Tonfall, als habe er vor, seinen Gegenüber zu verhaften.
Der Graf wandte sich irritiert um und blickte Javert an; es kam nicht häufig vor, daß ihm jemand in die Augen blicken konnte, ohne den Kopf heben zu müssen. „Sie wünschen?"
„Wir sind uns nie begegnet, aber Sie haben mir einmal einen Brief geschrieben, woraufhin ich Ihnen antwortete. Sie schickten mir gestern eine... äußerst ungewöhnliche Entlohnung."
Der Graf brauchte nur eine Sekunde, um zu begreifen, wovon der Mann sprach. „M. Javert, vermute ich."
„In der Tat."
„Sie erscheinen nicht sehr erfreut."
„Ich habe meine Gründe, keinen Kontakt mit meiner Familie zu pflegen."
„Dann bitte ich um Verzeihung für meine Einmischung." Der Graf neigte den Kopf. „Vielleicht haben Sie ja Lust, morgen bei mir zu soupieren? Zusammen mit Ihrem Freund?" Er blickte zu Valjean hinüber.
Jener hatte die Unterhaltung verfolgt wie ein Tennisspiel, dessen genaue Regel ihm nicht bekannt waren. Es erschien Valjean, als hätte er irgendein entscheidendes Detail nicht mitbekommen.
Javert besann sich auf seine Manieren, die er in den letzten Jahren beständig verfeinert hatte. „Darf ich bekannt machen, M. Jean Valjean, der Graf von Monte Cristo."
„Sind Sie nicht der Vorstand der Fantine-Stiftung?" fragte der Graf interessiert.
„Ich bin erfreut, daß Sie von uns gehört haben." Valjean war überrascht. „Selbstverständlich nehmen wir Ihre Einladung gern an."
„Wunderbar, dann ist es also abgemacht." Der Graf deutete eine Verbeugung an. „Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen, ich habe meine Begleiterin schon so lange vernachlässigt." Ehe sich die beiden älteren Männer versahen, war er wieder in seiner Loge verschwunden.
„Wie kommst du darauf, daß ich morgen mit ihm soupieren will?" fragte Javert ungnädig.
„Nun, du vielleicht nicht, aber ich. Der Mann ist reich, unermeßlich reich. Und er kennt die Stiftung. Es wäre doch gelacht, wenn ich ihn nicht dazu bringen könnte, eine größere Summe zu spenden." Ohne eine Pause zu machen, wechselte Valjean das Thema. „Was hast du eigentlich für ihn getan?"
„Ich erzähle es dir nachher."
„Versprochen?"
„Ja, versprochen."
Sie kehrten zu ihren Plätzen zurück und lauschten dem dritten Akt der Oper. In der Pause zwischen dem dritten und vierten Akt tauchte der Graf in der Loge des Barons Danglars auf, um dann bei Beginn des vierten Aktes zusammen mit seiner Begleiterin das Theater fast fluchtartig zu verlassen. Javert beobachtete das alles mit Argusaugen; irgend etwas ging hier vor, was er nicht verstand, und das gefiel ihm nicht.
Schließlich nahm auch ein sehr langer Opernabend sein Ende, und Valjean und Javert machten sich auf den Heimweg. „Du hast wirklich stundenlang Meyerbeer gehört, nur um ein paar unfreundliche Worte mit diesem Grafen zu wechseln?" fragte Valjean nach einer Weile.
„Ich mußte ihm einfach sagen, daß ich seine Einmischung nicht schätze," murmelte Javert.
„Was genau hast du denn nun für ihn getan?"
„Ich habe ihm vor einigen Jahren einige Informationen zukommen lassen, die ich aus reinem Zufall besaß."
„Worüber? Hör auf, mir auszuweichen."
„Über Staatsanwalt de Villefort."
Valjean starrte Javert ungläubig an. Natürlich kannte er den Namen des Staatsanwaltes, so wie er jedes Wort auf seiner Begnadigungsurkunde auswendig kannte. „Wie genau hast du noch einmal die Unterschrift des Staatsanwalts erlangt?"
Javert seufzte. Er hatte Valjean nie erzählt, was er Villefort gesagt hatte. „Ich habe ihn auf einen alten Vorfall aufmerksam gemacht, von dem er unbedingt vermeiden wollte, daß ich ihn untersuche. Ich habe es auch nicht getan, ich habe lediglich dem Grafen mitgeteilt, daß Villefort ein Geheimnis hat, was ihn interessieren dürfte. Offenbar hat der Graf es gelöst. Sonst hatte er keinen Anlaß gesehen, sich bei mir zu bedanken."
„Wieso überrascht du mich jedes Mal aufs Neue genau dann, wenn ich glaube, dich in- und auswendig zu kennen?" Valjean warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie hatten ihre Wohnung erreicht, stiegen die Stufen zum Salon hinauf und sahen, daß Marguerite sorgfältig den Tisch gedeckt hatte für ein intimes, kleines Souper für zwei. „Was gibt es noch für Dinge, die du vor mir verbirgst?"
Die Frage kam selbst für einen Verhörspezialisten mit jahrzehntelanger Erfahrung, wie es Javert war, vollkommen überraschend. „Nur eine einzige Sache," sagte er resignierend. Es gab keine andere Möglichkeit, denn Valjean anzulügen auf eine direkte Frage, war außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. „Und ich möchte, daß du weißt, daß ich es nicht absichtlich vor dir verborgen habe. Ich habe geglaubt, du wüßtest es." Warum klang nur jedes Wort, das seinen Mund verließ, nach billiger Rechtfertigung? „Als du mir das erste Mal im Haus Gorbeau entkamst, versuchte ich, jede Spur, die mich zu dir bringen könnte, zu verfolgen. Ich suchte auch nach deiner Familie, falls du Kontakt mit ihnen aufnehmen würdest. Sie sind tot, Valjean, deine Nichten und Neffen starben nacheinander bis 1800. Ein Junge blieb übrig, er ging mit deiner Schwester nach Paris, wo sie beide 1804 an der Cholera starben. Es tut mir leid."
Valjean schloß die Augen. „Du hast es gewußt?" flüsterte er heiser. „Die ganze Zeit, vierzehn Jahre lang, und hast nicht daran gedacht, daß mich diese Erkenntnisse interessieren könnten? Daß es wichtig für mich sein könnte zu erfahren, was aus meiner Familie wurde, während ich neunzehn Jahre im Bagno verschwendete, anstatt mich um sie zu kümmern, wie es meine Pflicht gewesen wäre?"
Javert konnte sich nicht erinnern, Valjeans Stimme jemals so voller Bitterkeit, voller ätzendem Sarkasmus gehört zu haben.
„Aber das ist doch sowieso völlig fruchtlos," fuhr Valjean fort. „Mit wem versuche ich denn hier, über Familie zu sprechen?" Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich ab, verließ den Salon, nicht ohne die Tür heftig zuzuschlagen, und stürmte dann ebenfalls mit lautstarkem Türenschlagen aus dem Haus.
