Author's note:

In „Lucia di Lammermoor" wird die Titelheldin unter anderem deswegen wahnsinnig, weil man ihr weisgemacht hat, ihr Liebster habe sie vergessen. Sie heiratet daraufhin einen Anderen, den sie in der Hochzeitsnacht umbringt...

3. Kapitel

Javert blieb wie betäubt mitten im Raum stehen. Valjean war gegangen, einfach so, mit mehr als einem verletzenden Wort auf den Lippen und hatte damit zwei Dinge getan, die nicht seinem sonstigen Wesen entsprachen: Er war seit den Barrikaden, seit er Javert seine Adresse gegeben hatte, nicht mehr vor irgend etwas davongelaufen, und jemanden absichtlich zu verletzen, lag ihm fern.

Und genau dieses Verhalten machte Javert schreckliche Angst, größere Angst, als ihm irgend etwas jemals gemacht hatte. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. Was war, wenn es das jetzt gewesen war, wenn Valjean nicht zurückkäme? Wie sollte er das ertragen können?

Er hatte vor sechs Jahren auf dieser Brücke gestanden, weil ihm sein Lebenszweck abhanden gekommen war. Valjean war da gewesen, um die Leere zu füllen, und hatte dabei Teile von Javerts Seele mit Liebe erfüllt, von denen er gar nicht gewußt hatte, daß sie leer waren.

Den Impuls, Valjean nachzulaufen, kämpfte Javert nieder. Welchen Zweck hätte es gehabt? Valjean war ein Meister des Untertauchens, er konnte überall sein, bei seiner Tochter, in seiner Stiftung, bei den Danois'... Er hatte viele Orte, an die er sich zurückziehen konnte, nicht nur eine Brücke wie Javert selbst.

Ganz langsam hob Javert den Kopf, sein Blick fiel auf das Kaminsims und blieb dort hängen. Zwei silberne Kerzenleuchter standen dort, und solange sie dort standen, mußte Valjean zumindest zurückkehren, um sie zu holen. Er würde die Leuchter niemals irgendwo zurücklassen. Javert mußte lediglich warten.

Lediglich? Warten war eine Qual, zumindest wenn es um etwas derart persönliches ging, war es kaum erträglich, selbst wenn er sonst stundenlang an einer Ecke geduldig auf einen Verdächtigen warten konnte.

Zwei Stunden lang rührte er sich kaum. Er setzte sich nur in einen Sessel, Valjeans Sessel, und blieb bewegungslos dort sitzen. Er starrte blicklos vor sich hin und bemerkte erst weit nach Mitternacht, daß die Kerzen heruntergebrannt und ausgegangen waren.

Die Ungewißheit nagte an ihm, er war es nicht gewohnt, mit einer derartigen Situation umgehen zu müssen. Zweiundfünfzig Jahre hatte er jede emotionale Bindung, jeden engen Kontakt zu andere Menschen vermieden, auch um zu verhindern, daß jemand sein Herz brach, und jetzt nach sechs Jahre war es geschehen, war er so von Angst besessen, daß sie ihn lähmte.

Javert stand mühsam auf und begann, in der Wohnung ziellos umherzuwandern. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, sich soweit zusammenzureißen, daß er sich zur Ruhe zwingen konnte. Aus Ermangelung anderer Ideen legte er sich, vollständig angekleidet, aufs Bett.

Das half selbstverständlich auch nichts, eher im Gegenteil. Sie hatten, seit sie in dieser Wohnung lebten, jede Nacht gemeinsam in diesem Bett verbracht, seit seiner Flucht nach Toulon waren sie niemals eine Nacht getrennt gewesen. Und jetzt war da neben ihm diese Leere, nur ein kaltes Kissen; es war nicht zum Aushalten!

Javert erhob sich, ging zurück in den Salon, griff nach einem Teller von dem für das längst vergessene und erkaltete Souper gedeckten Tisch und schleuderte ihn quer durch den Raum gegen die Wand, wo er in zahlreiche Scherben zerbrach.

„Fühlst du dich jetzt besser?" fragte Valjean von der Tür aus mit einem Blick auf den Teller.

Javert fuhr herum, wollte auf ihn zustürmen, besann sich jedoch anders und beschränkte sich darauf, ihn anzustarren. „Bist du zurückgekommen, oder willst du nur die da holen?" brachte er schließlich hervor und deutete mit einem Nicken auf die Kerzenleuchter.

„Ach, Javert," erwiderte Valjean in einem sehr nachsichtigen Tonfall, „denkst du wirklich, daß es, nach allem, was wir hinter uns haben, irgend etwas gibt, was mich auf Dauer von deiner Seiten reißen könnte?"

Vor lauter Erleichterung versagten Javerts Knie ihren Dienst. Er ließ sich in den nächsten Stuhl sinken.

„Ich war wütend, ich war sogar fürchterlich wütend, aber nach einer Weile stellte ich fest, daß ich gar nicht so sehr auf dich wütend war, sondern auf mich selbst," sprach Valjean weiter. „Ich meine, hätte ich nicht das erste Mal versucht, aus Toulon zu fliehen, wäre ich frei gewesen und hätte vielleicht meine Schwester und zumindest das letzte Kind retten können. Und ich habe nicht nur etwas Unverzeihliches zu dir gesagt, ich habe sogar noch ein Versprechen gebrochen, was wir uns gegeben haben, nämlich nicht mehr voreinander wegzulaufen."

„Bitte, Valjean, tue uns das nicht an, daß du so tust, als sei ich an all dem unschuldig," erwiderte Javert mühsam seine verschiedenen Emotionen analysierend. „Ich hätte mit dir darüber sprechen müssen, das steht außer Frage. Ich habe immer gewußt, wie wichtig dir deine Familie ist."

„Wenn du das so sehen willst, sind wir beide wohl zwei störrische, alte Idioten." Valjean war hinter Javerts Stuhl getreten, und ohne daß es irgendeines weiteren Wortes bedurfte, begann Valjean mit einer hundertfach zuvor ausgeübten, vertrauten Bewegung, das schwarze Samtband aus Javerts inzwischen sehr durcheinander geratenen Haaren zu entfernen. „Du mußt mir schon soweit vertrauen, daß ich nicht einfach so gehen würde."

Javert lehnte sich zurück und genoß diese intime Geste, von der er gefürchtet hatte, sie nie wieder erleben zu dürfen. „Weißt du eigentlich, wie groß, einsam und kalt unser Bett ist, wenn du nicht da bist?"

„Einsam und kalt war die Bank im Garten der Rue Plumet auch, nur groß ist sie nicht wirklich," antwortete Valjean mit einem Lächeln in der Stimme.

„Dort bist du gewesen? Bei Cosette?"

„Nein, nicht bei Cosette. Ich habe sie gar nicht gesehen. Ich habe mich nur in den Garten geschlichen, mich auf die Bank gesetzt und nachgedacht."

Unwillkürlich hatte Javert das Bild vor Augen, wie Valjean auf der Bank saß, ins Dunkel starrte und in der kühlen Nachtluft fröstelte. Er fand es irgendwie tröstlich, daß sie beide unter der Auseinandersetzung gelitten hatten. „Du hättest dich erkälten können."

„Ich bin mir sicher, du hättest mich aufopfernd gepflegt." Obgleich die Haare nun frei im Nacken hingen, fuhren Valjeans Hände weiter durch sie hindurch. „Übrigens glaube ich, daß ich auf etwas gekommen bin, daß dir bei deinem Fall helfen wird."

„Was?" Der Themenwechsel war irritierend, aber Valjean konnte ja auch ein irritierender Mann sein.

„Du siehst alles zu sehr schwarz und weiß, anstatt die Grautöne zur Kenntnis zu nehmen."

„Du kannst dir die Predigt sparen, das ist nicht gerade eine neue Erkenntnis."

„Nein, ich meine das ganz wörtlich diesmal. Was ist, wenn der weiße Elefant gar nicht weiß ist, sondern ein ganz normaler Elefant? Den könnte man leicht in einem Zirkus oder einer Menagerie verstecken."

Javert fuhr herum und starrte Valjean an. „Du hast recht. Das ist eine Möglichkeit. Aber du mußt zugeben, daß es sogar für den heiligen Jean zu stark ist, zu Recht hier wütend auf mich herauszustürmen, zurückzukommen, mir meinen Fehler großmütig zu verzeihen, und dann auch noch meinen Fall zu lösen, so ganz nebenbei."

„Du meinst, ich übertreibe?" Valjean tat zerknirscht.

„Maßlos."

„Ich werde versuchen, mich zu bessern."

„Alles, nur das nicht."

Valjeans Hand fuhr über Javerts Nacken. „Sollen wir versuchen, noch ein wenig Schlaf zu finden, bevor es Tag wird? Vielleicht können wir feststellen, ob unser Bett immer noch zu groß, kalt und einsam ist."

XXX

Es war später Vormittag, als Javert sich, wieder einmal, auf den Weg zur Oper machte. Valjean und er hatten die verbleibenden Stunden der Nacht miteinander verbracht, einfach nur dicht aneinandergeschmiegt, ohne viel zu tun oder zu sagen. Javert war sich nicht hundertprozentig sicher, ob die Krise, die sie so unvermittelt umfangen hatte, tatsächlich endgültig beigelegt war. Würde Valjean ihm je wieder einen so vertrauensvollen Blick zuwerfen, wie er das im Garten der Rue Plumet getan hatte von wenigen Tagen? Konnten sie dieses blinde Vertrauen wirklich vollständig wiederherstellen? Er mochte nicht darüber nachdenken.

Er hatte eigentlich auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn er mußte sich auf seinen Fall konzentrieren, den er ein wenig aus den Augen verloren hatte. An der Oper angekommen, ging Javert schnurstracks ins Büro des Direktors, diesmal tatsächlich ohne sich zu verlaufen.

„M. Biscrome," begann Javert ohne jede Einleitung, „Sie hätten mir sagen müssen, daß Ihr Elefant gar nicht weiß ist."

Biscrome wurde bleich. „Ich... Sie... Wie kommen Sie darauf?" stammelte er.

„Halten Sie mich für einen Idioten, M. Biscrome?" fragte Javert höflich zurück. „Ihr Elefant mit dem höchst unpassenden Namen ist kein weißer Elefant, sondern ein ganz gewöhnlicher Elefant mit grauer Haut."

„Wie kommen Sie darauf?"

„Ich habe meinen Verstand benutzt." Nein, verbesserte Javert sich im Stillen, mein Liebhaber hat seinen Verstand benutzt. „Also?"

Biscrome seufzte. „Ja, natürlich, Sie haben recht, aber erzählen Sie es bitte, in Gottes Namen, nicht weiter. Dieser Skandal würde uns alle ruinieren."

„Das scheint bei Skandalen in Ihrem Haus die Regel zu sein," warf Javert trocken ein.

„Wenn Maestro Meyerbeer davon erfährt, daß ich den weißen Elefanten, den er verlangte, nicht besorgen konnte, sondern einen normalen Elefanten gefärbt habe, wird er seine Opern zurückziehen."

„Das ist keine Entschuldigung dafür, daß Sie mir nicht die Wahrheit gesagt haben."

„Sie müssen Napoleone Gisquet finden, die Compagnie ist sonst ruiniert, und das betrifft dann natürlich auch Ihre Nichte."

„Natürlich finde ich Ihren weiß-, Ihren Elefanten wieder." Javert verließ das Büro wieder ebenso grußlos, wie er es betreten hatte.

Beim Versuch, den Weg zurück nach draußen zu finden, stieß er mit Fides zusammen. „Oh, du bist ja schon wieder hier," bemerkte sie.

„Dir auch einen guten Tag, Fides," erwiderte Javert reserviert. Dann fiel ihm noch etwas ein. „Sag einmal, gastiert eigentlich in Paris im Moment ein Zirkus?"

„Wieso meinst du, daß ich das wüßte? Einmal Zigeuner, immer Zigeuner?"

„Wenn ich davon ausginge, mein Kind, müßte ich mich eigentlich selbst befragen, oder?" Er konnte es kaum glauben, daß er diese Worte gesagt hatte. Hatte er sich jemals gegenüber jemandem dazu bekannt, woher er kam? „Aber ich gehe einfach davon aus, daß du da besser informiert bist als ich."

„Der Zirkus ‚Pont d'or' ist in der Stadt," sagte Fides, ohne weiter nachzudenken. „Ich bin mit ihnen hergekommen. Der Maestro des Orchesters ist mein Gesangslehrer gewesen."

„‚Pont d'or'?" Waren die Brücken denn ein ständiger Begleiter in seinem Leben? „Wo gastiert er?"

„Im Bois de Boulogne, noch bis morgen."

„Ich danke dir, das war sehr hilfreich." Javert drückte seiner Nichte einen Kuß auf die Stirn – was war eigentlich mit ihm los? – und stürmte davon. Statt sich jedoch sofort auf den Weg in den Bois de Boulogne zu machen, ging er nach Hause, wo er Valjean traf, der gerade das Haus verlassen wollte, um in die Stiftung zu gehen. „Willst du mit mir in den Zirkus kommen?" fragte Javert.

„In den Zirkus?" fragte Valjean ungläubig. „Mit dir?"

„Ich glaube, du hast recht, der Elefant ist dort versteckt. Und ich habe herausgefunden, daß er tatsächlich nicht weiß ist."

„Hätte ich früher gewußt, daß ich so genial bin, hätte ich vielleicht eine Karriere bei der Polizei ins Auge gefaßt, anstatt ein erfolgloser Dieb zu werden."

Javert dachte eine Sekunde lang darüber nach, was in diesem Fall aus ihnen geworden wäre, und hatte keine Antwort. „Und, begleitest du mich?"

„Ich würde um nichts in der Welt verpassen wollen, wie du den Elefantenentführer entlarvst."

Sie nahmen eine Droschke und ließen sich in den Bois de Boulogne bringen. Schon von weitem war das Zelt zu erkennen, bunt und groß schimmerte es in der Septembersonne. „Zirkusvolk," sagte Javert leise. „Ich habe nicht allzuviel für es übrig."

„Auch so ein Stück Vergangenheit?"

„Nicht wirklich, aber ein genauso verdächtiges Völkchen wie meine eigenen Leute. Weißt du, wie häufig ist fahrendes Volk aus der Stadt entfernen mußte?"

„Jetzt geht es eher darum, einen Elefanten von hier zu entfernen," erinnerte Valjean sanft. „Hast du mich eigentlich mitgenommen, damit ich Napoleone von hier zurückentführe?"

„Nein, ich habe dich mitgenommen, weil du den Fall gelöst hast, und weil ich nach heute nacht gern etwas Zeit mit dir verbringen wollte."

„Schade, ich sah uns schon auf dem Rücken eines Elefanten als Triumphatoren durch Paris reiten."

„Keine Meyerbeer-Opern mehr für dich."

Sie machten sich daran, im Gewühl der Wagen den Eingang zum Zelt zu finden. Im Inneren des Zeltes war Musik von einer goldenen Empore zu hören, die gleich darauf mit einem heftigen Fluch endete. „Das ist übelste Schlamperei, was Sie hier spielen, meine Herren," brüllte ein hagerer Mann mit grauer, langer Mähne das Zirkusorchester an. „Mit so einem Dilettantentum kommen Sie vielleicht an der Oper durch, aber nicht hier bei mir."

Javert und Valjean blickten sich irritiert an, hatten dafür jedoch herzlich wenig Zeit, da der Mann nunmehr auf sie losging.

„Ich dulde keine Unterbrechung meiner Probe," donnerte er.

Javert konnte es nicht gut vertragen, in dieser Weise angeblafft zu werden und reagierte auf seine Art. „Und ich dulde es nicht, daß man hier Diebesgut versteckt hält."

„Diebesgut? In meinem Zirkus?" Der Mann kletterte von der Empore herunter. „Welcher dieser Dummköpfe hat etwas gestohlen?"

„Das weiß ich noch nicht, aber Sie halten hier einen Elefanten," fast hätte Javert das Wörtchen „fest" ergänzt, „der der Oper gehört, Monsieur, äh?"

„Enrico Guardiani, ich bin hier der Musikdirektor," antwortete der Mann in einem Tonfall, als stellte es einen nicht wieder gutzumachenden Affront dar, ihn nicht zu kennen. „Und natürlich haben wir hier einen Elefanten, der früher der Oper gehörte. Er wurde uns von dort geschenkt."

„Warum sollte die Oper ihren Elefanten verschenken?" fragte Valjean.

„Sie haben es nun einmal getan. Einer der dortigen Mitarbeiter war früher hier als Clown. Er kam mit dem Elefanten an."

„Wer war es?" Javert wirkte wie ein Raubtier vor dem Sprung.

„Na, Patrice Arthur, der Tenor, ich habe ihn selbst ausgebildet."

„Im Elefantenstehlen?"

„Natürlich nicht. Als Tenor. Und er hat die Karriere gemacht, die wir ihm hier alle vorausgesagt haben." Guardiani klang stolz.

„M. Guardiani, ich habe keine Ahnung, welchen Zirkusbären Ihnen Arthur aufgebunden hat, aber der Elefant ist Ihnen keineswegs geschenkt worden. Die Oper hat mich beauftragt, den Elefanten zu finden und zurückzubringen."

„Sind Sie von der Polizei?" Guardiani wurde plötzlich bleich.

„Fast." Es war nicht nötig, dem Musikdirektor genaueres zu erklären. „Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Sie schaffen den Elefanten bis heute um Mitternacht zurück in die Oper, und es wird kein Wort mehr über die Sache verloren."

„Gut," Guardiani entspannte sich sichtlich, „ich werde sehen, was ich machen kann."

XXX

Als Javert und Valjean an der Oper angelangten, waren die Vorbereitungen für die abendliche Vorstellung, wiederum „Lucia di Lammermoor" mit Fides in der Rolle der Alisa bereits in vollem Gange. Zunächst suchten sie Biscrome in seinem Büro auf.

Javert stellte Valjean vor und übersah Biscromes Unbehagen darüber, daß nun noch eine Person von dem falschen weißen Elefanten wußte, großzügig, „Ich gehe davon aus, daß Ihr Elefant bis Mitternacht wieder in seinem Stall stehen wird."

„Aber wer hat ihn entführt? Und warum?"

„Die erste Frage kann ich Ihnen beantworten, die zweite hoffe ich in Kürze beantworten zu können."

„Nun spannen Sie mich nicht so auf die Folter."

„Der Elefant wurde entführt von Ihrem Tenor Patrice Arthur."

„Ach du meine Güte," stöhnte Biscrome, „und jetzt wollen Sie mir meinen Tenor entführen und verhaften lassen? Sie haben nicht zufällig noch einen Neffen, der seine Rollen übernehmen könnte?"

„Nein, leider nicht."

„Was bekommt man eigentlich für die Entführung eines Elefanten?" fragte Valjean interessiert.

Für einen Moment wußte Javert darauf keine Antwort. „Das hängt ein bißchen davon ab, weswegen er es getan hat, denke ich." Gab es überhaupt im Strafgesetzbuch einen passenden Paragraphen dafür? Ein Elefant fiel sicher nicht unter Viehdiebstahl.

„Es sieht ja fast so aus, als müßte ich zwischen einem Tenor und einem Elefanten wählen," jammerte Biscrome, „und Tenöre sind heutzutage doch so teuer."

„Vielleicht ließe sich ja eine... interne Lösung finden," schlug Valjean vor. „Sie kürzen ihm seine Gage oder lassen ihn Wohltätigkeitskonzerte zugunsten der Oper geben."

„Und eines zugunsten der Fantine-Stiftung," fügte Javert hinzu und tat mit den folgenden Worten etwas gegen seinen Ruf, unbestechlich zu sein. „Das können Sie als Gegenleistung dafür betrachten, daß Sie von einem Skandal verschont bleiben."

Valjean warf ihm einen kurzen Blick zu, der irgendwo zwischen Verwunderung und Stolz lag.

„Wunderbar, das erspart mir tatsächlich eine Entscheidung," freute sich Biscrome. Er wollte fortfahren, als die Tür aufflog, und Fides, ohne anzuklopfen, hereinstürmte. „Monsieur le Directeur, Sie müssen hinunterkommen und sich das ansehen. Oh, Onkel Javert, M. Valjean, ihr seid ja auch hier."

In einem Theater sind Katastrophen ständige Begleiter, und Fides hatte noch nicht ausgesprochen, da war Biscrome schon auf den Beinen und aus der Tür. Valjean und Javert folgten zusammen mit Fides langsamer.

Im Hof bot sich ihnen ein unglaubliches Bild. Napoleone Gisquet stand auf dem freien Platz zwischen den Stallungen. Er war sehr unfachmännisch mit weißer Farbe bemalt worden und sah wie ein weiß gestrichener Elefant, statt wie ein weißer Elefant aus. Der Rüssel des Tieres steckte in einem Trog mit Wasser. Man mußte neidlos zugestehen, daß Napoleone über das perfekte Timing eines echten Bühnentieres verfügte.

Als habe er nur auf das Erscheinen eines größeren Publikums gewartet, zog er den Rüssel aus dem Trog, wandte sich zu Patrice Arthur, der bereits vollständig in jenem albernen weißen Kostüm nebst Perücke gekleidet fassungslos im Hof stand und sich zu fragen schien, wo dieser Elefant plötzlich hergekommen war.

Mit sichtbarer Freude entlud Napoleone das Wasser direkt auf Arthur, welcher rückwärts taumelte, über seine eigenen Füße fiel und unsanft auf seinem Hinterteil landete. Das Wasser tropfte von dem traurigen Rest, der vorher einmal eine Perücke gewesen war, auf das Kostüm und ins Gesicht des Tenors, der gar nicht zu wissen schien, was gerade mit ihm geschehen war.

„Warum haben Sie das gemacht?" fragte Biscrome den tropfenden Tenor.

„Was?" fragte dieser zurück und versuchte, auf die Füße zu kommen, was ihm das erste Mal aufgrund des sehr glitschigen, nassen Bodens mißlang.

„M. Arthur, beleidigen Sie doch bitte nicht unsere Intelligenz," mischte sich Javert ein. „Warum haben Sie den Elefanten entführt?"

„Schauen Sie sich das Mistvieh doch an," stieß Arthur hervor. „Ich singe mir die Seele aus dem Leib, gebe alles, und dieses dumme Rüsseltier läuft einmal über die Bühne, trötet blöde, und die Leute brüllen ‚Bravo' wie irre. Das ist nicht fair."

„Sie haben Napoleone entführt, weil Sie eifersüchtig auf ihn sind?" fragte Valjean irritiert.

Arthur nickte gequält.

„Aber das müssen Sie doch nicht." Fides kniete neben der ausgesprochen unglücklichen Figur des Tenors nieder. „So, wie Sie singen, lassen Sie sich doch nicht von einem Elefanten die Show stehlen. Napoleone ist ein Spektakel, Sie sind ein echter Künstler."

„Meinen Sie wirklich?" fragte Arthur unsicher und schien Fides zum ersten Mal bewußt anzusehen.

„Natürlich."

Der Tenor wandte sich an Javert. „Ich hoffe, Sie gestatten mir noch, die Vorstellung zu singen. Danach stehe ich zu Ihrer Verfügung." Er verneigte sich knapp und marschierte mit energischem Schritt ins Theater hinein.

„Du wirst ihn doch nicht verhaften, Onkel?" fragte Fides besorgt.

„Nun," begann Javert, und sein Blick streifte beiläufig Valjean, „es hat eine gewissen Tradition, daß ich, wenn ein Straftäter mir erklärt, er wolle noch etwas erledigen, dann könne ich ihn verhaften, nicht mehr anwesend bin, wenn ich ihn verhaften könnte."

„Ich persönlich hätte die Vorstellung ja gerne gesehen," meinte Valjean, als sie auf dem Weg nach Hause waren.

„Du vergißt, daß wir eine Einladung zum Souper haben, die du unbedingt annehmen wolltest," erinnerte Javert ihn.

„Himmel, den Grafen hätte ich ja fast vergessen," gab Valjean zu.

„Außerdem habe ich bereits vorgestern ‚Lucia di Lammermoor' sehen müssen, und ich verstehe es einfach nicht," erwiderte Javert. „Wieso vertraut dieses Mädchen ihrem Geliebten so wenig, daß sie glaubt, er komme nicht zurück, und sogar darüber wahnsinnig wird?"

Der Blick, den Valjean ihm zuwarf, war ausgesprochen vielsagend.