Author's note:
Im Klappentext einer deutschen „Les Mis"-Ausgabe stand, es handele sich um den berühmtesten französischen Roman des 19. Jahrhunderts neben dem „Grafen von Monte Cristo" – und das Plot-Bunny war geboren und hoppelte munter hinter mir her...
4. Kapitel
Javert und Valjean hielten sich nicht allzu lange in ihrer Wohnung auf, sondern kleideten sich lediglich um und machten sich auf den Weg zur Wohnung des Grafen von Monte Cristo. Keinem von beiden war bewußt, daß noch niemand in Paris von dem Grafen zu einem intimen Souper eingeladen worden war. Hätte die Gesellschaft gewußt, welche Ehre hier einem Ex-Sträfling und einem Ex-Polizisten, der eine inzwischen ein Philanthrop, der andere ein privater Ermittler, widerfuhr, sie wäre vor Neid geplatzt.
Die Wohnung des Grafen lag in einer der vornehmsten Häuser der Champs-Elysée, die Tür wurde ihnen von dem nubischen Diener Ali geöffnet, der sie sogleich in den Salon führte.
Der Graf erhob sich aus seinem Sessel und ging den beiden älteren Männern entgegen. „Ich freue mich, daß Sie mir die Ehre Ihres Besuches erweisen."
„Die Ehre ist ganz auf unserer Seite," erwiderte Valjean, und Javert bewunderte wieder einmal die Fähigkeit an dem anderen, sich jederzeit auf jeden Gesprächspartner einstellen zu können.
„Man hat mir berichtet, daß Ihre Nichte einen Vertrag an der Oper erhalten hat," wandte sich der Graf an Javert.
„Sie ist tatsächlich auf dem Wege, ihren Lebensunterhalt selbst und ehrlich zu verdienen," antwortete Javert. „Das ist mehr, als man von den meisten Personen sagen kann."
„In der Tat," erwiderte der Graf und schien den letzten Satz in keiner Weise auf sich zu beziehen. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn Haydée mit uns speist?"
„Die jung Dame, die Sie gestern begleitet hat?" fragte Valjean und fuhr fort, als der Graf nickte, „Wer ist sie?"
„Eine Griechin aus Janina. Ich habe sie gekauft," antwortete der Graf.
Unwillkürlich machte Valjean einen Schritt zurück. Ihm war jede Form von Sklaverei zuwider. Die Vorstellung, daß diese junge Frau eine Sklavin war, ekelte ihn geradezu an. Beinahe hätte er seine Abscheu dem Grafen ins Gesicht geschrieen, aber er riß sich zusammen. Wenn er jetzt eine Szene machte, konnte er der jungen Frau nicht helfen.
„Sklaverei ist in Frankreich seit fünfundvierzig Jahren in jeglicher Erscheinungsform illegal," bemerkte Javert regungslos.
„Natürlich ist mir das bekannt." Der Graf lächelte. „Aber ich gehe davon aus, daß keiner von Ihnen Haydée davon unterrichten wird."
Javert und Valjean wechselten einen Blick, der dem anderen versicherte, daß keiner von beiden bereit war, tatsächlich den Mund zu halten.
Der Graf führte sie hinüber ins Speisezimmer, gab Ali einige Anweisungen in einer unbekannten Sprache, und wenige Augenblicke später betrat Haydée den Raum. Ihre Erscheinung war von dichtem noch wesentlich beeindruckender als aus der Entfernung.
„Darf ich dir die Herren Valjean und Javert vorstellen, meine Liebe?" sagte der Graf sehr höflich, und in seinen Augen war eine Wärme abzulesen, die zuvor nicht dort gewesen war.
„Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen," sagte Haydée in fließendem, aber nicht ganz akzentfreien Französisch.
Valjean beugte sich über ihre Hand. „Die Freude ist ganz auf unserer Seite," sagte er, während Javert sie durch ein verbindliches Neigen des Kopfes stumm grüßte.
Man begab sich zu Tisch. Das exquisite, aber nicht übertriebene Mahl wurde aufgetragen, und die Unterhaltung drehte sich zunächst um „Robert le diable" und Musik im Allgemeinen, wobei Haydée überraschend genaue Kenntnisse über die französische Musik offenbarte.
Es dauerte bis zum zweiten Gang, daß sich das Gespräch anderen Themen zuwandte. „Ich habe erfahren, daß Sie eine sehr bewegte Vergangenheit hatten, M. Valjean, bevor Sie Ihre derzeitige Tätigkeit entfalteten," begann der Graf vorsichtig. „Sie sagen mit bitte, wenn ich zu indiskret bin."
„Meine Vergangenheit ist ein offenen Geheimnis," erwiderte Valjean, wobei seine Stimme kühler klang als gewöhnlich.
„In all den Jahren muß es doch zahlreiche Menschen gegeben haben, die Ihnen entsetzliches Unrecht getan haben," sprach der Graf weiter. „Wie haben Sie Ihnen das vergolten? Welche Art Rache haben Sie geübt?"
„Ich habe ihnen verziehen," antwortete Valjean schlicht.
„Aber es muß doch einen Menschen gegeben haben, der Ihnen das Leben mehr nur Hölle gemacht hat als jeder andere," insistierte der Graf. „Was haben Sie mit dem gemacht?"
„Ja, was habe ich mit dem gemacht?" murmelte Valjean gedankenverloren und sah über den Tisch hinweg Javert aufmerksam an.
„Das einzige, was dich davon abhält, schon zu Lebzeiten heilig gesprochen zu werden, Valjean," antwortete Javert und prostete mit seinem Wasserglas Valjean über den Tisch hinweg zu, während seine Augen dessen Blick suchten.
„Sie haben ihn umgebracht." Die Stimme des Grafen klang irgendwie befriedigt.
„Oh, Herr, wie kannst du nur so blind sein," rief Haydée aus. „Natürlich hat er ihn nicht umgebracht. Er sitzt doch hier mit am Tisch."
Der Graf warf einen Blick von Valjean zu Javert und wieder zurück. „Das allerdings ist bemerkenswert."
„Eher ein Wunder," bemerkte Javert lakonisch.
„Wie war das möglich?"
„Alles ist möglich," entgegnete Valjean. „Man muß es nur zulassen."
Den Rest des Essens hielt sich der Graf auffällig bei der Konversation zurück. Dieses merkwürdige Männerpaar bewies jeden Tag aufs Neue, daß Vergebung möglich war, während er selbst so von Rache erfüllt war.
Nach dem Dessert äußerte Haydée den Wunsch, etwas frische Luft zu schnappen, und Valjean erhob sich sofort und begleitete sie auf den Balkon hinaus. Er sah so die Gelegenheit, mit ihr allein zu sprechen. „Wenn Sie Hilfe benötigen, Mademoiselle Haydée, dann sagen Sie es mir jetzt," begann er leise.
„Hilfe? Ich verstehe nicht..."
„Muß ich wirklich deutlicher werden? Der Graf hat uns berichtet, daß er Sie gekauft hat." Valjeans Lippen kräuselten sich vor unübersehbarem Mißfallen. „Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Sie in dem Moment, in dem Sie Ihren Fuß auf französischen Boden setzten, frei wurden."
„Aber, M. Valjean, das ist mir selbstverständlich bekannt." Haydée sah ihn offen an.
„Jetzt verstehe ich nicht. Sie sind frei, Sie wissen, daß Sie frei sind, und sind noch immer hier?"
„Bitte," sie griff nach seiner Hand, „er darf nicht wissen, daß ich dies weiß."
„Warum nicht?"
„Weil er dann darauf bestünde, daß ich ihn verlasse." Ihr Blick wanderte durch die Balkontür ins Innere des Hauses. „Und das könnte ich nicht."
„Oh," machte Valjean und schalt sich selbst einen blinden Trottel. Natürlich, wie hatte er nur den Ausdruck in ihren Augen mißdeuten können?
„Aber ich danke Ihnen für Ihr Angebot. Sie sind der Erste, der mir, ohne nach Gründen oder Vorteilen zu fragen, von selbst seine Hilfe angeboten hat. Das bedeutet mir, gerade aufgrund meiner Vergangenheit, sehr viel."
XXX
„Ihr Freund und Haydée scheinen sich ja prächtig zu verstehen," sagte der Graf drinnen im Speisezimmer, während er düster auf den Balkon hinausstarrte.
Javerts zunächst verwunderte Blick wurde schnell ein amüsierter. War da etwas wie Eifersucht in den Augen des Grafen zu lesen? Auf einen Mann, der dreißig Jahre älter war als er selbst und fünfzig Jahre älter als Haydée? „Valjean hat eine Vorliebe für Mädchen in Bedrängnis und sie für ihn. Das war schon sein ganzes Leben lang so."
„Haydée ist nicht in Bedrängnis."
„Wie Sie meinen, M. Dantès."
Der Graf fuhr herum und starrte Javert an. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen." Das Leugnen war schon fast eher ein Reflex als glaubwürdige Aussage.
„Wissen Sie," Javert lehnte sich zurück und betrachtete den Grafen distanziert, „ich war in meiner Jugend Wärter im Bagno von Toulon. Da hört man so einiges, unter anderem auch von dem Fall des jungen Bonapartisten Edmond Dantès." Valjean würde es natürlich nicht billigen, doch Javert fand, daß er eine kleine Rache verdient hatte. „Meiner Kenntnis nach war er der einzige Gefangene, dem es jemals gelang, aus dem Chateau d'If zu fliehen. Man sagt, die Flucht habe nicht lange gedauert, er sei ertrunken. Ich bin mir nicht so sicher, ob dies wirklich stimmt."
„Und wie kommen Sie darauf, daß ich dieser Edmond Dantès wäre?"
„Die Namen der Männer, über die Sie damals Informationen von mir erbaten, finden sich auch in der Akte Dantès."
„Ich verstehe," sagte der Graf. „Ich weiß auch, daß Sie Ihren Ruf weiß Gott nicht zu Unrecht tragen. Was werden Sie jetzt tun?"
Javert tat, als würde er das Gesicht des Grafen eingehend studieren. Er zögerte den Moment noch etwas hinaus. „Nichts," sagte er dann.
„Nichts?" Der Graf hob die Augenbrauen. „Der Ruf, der Ihnen vorauseilt, würdigt nicht nur Ihre Nase, sondern auch Ihre Gesetzestreue. Wenn ich also jener Dantès wäre, müßten Sie mich anzeigen."
„Wären Sie dieser Dantès, und wäre ich noch der gleiche Mann, der ich vor einigen Jahren war, würde ich Sie auf der Stelle persönlich festnehmen." Javerts Blick wanderte auf den Balkon, wo Valjean und Haydée noch immer dicht nebeneinander standen und sich intensiv unterhielten. „Aber die Dinge ändern sich. Die Menschen ändern sich." Es war einer dieser Momente, in denen Valjean sich, ohne zu wissen, daß Javert ihn beobachtete, zu ihm umwandte. Javert war sich nie ganz sicher, ob es das Überbleibsel einer jahrzehntelangen Flucht war oder einfach das Wissen um seine Anwesenheit. „Doch es würde sicherlich meinen Freund Valjean sehr erfreuen, wenn Sie eine angemessene Spende an die Fantine-Stiftung machen würden."
XXX
„Ich habe einmal gesagt, an dem Tag, an dem du für die Stiftung Spenden sammelst, würden sie Eiscreme in der Hölle servieren," sagte Valjean, als sie auf dem Rückweg nach Hause waren. Er tastete nach dem hohen Wechsel, den er in der Rocktasche trug, wie um sich zu versichern, daß er noch da war. „Heute gibt es wohl ein kaltes Dessert für die Teufel."
„Ich fand, wir sollten den Abend nicht verschenken," antwortete Javert mit einem schiefen Lächeln. „Hast du den Abend genossen?"
„Irgendwie schon. Ich mag Haydée." Valjean erwiderte das Lächeln. „Meinst du, daß er jemals begreifen wird, was sie für ihn sein könnte?"
„Irgendwann sicher. Er hatte einen veritablen Eifersuchtsanfall, als du mit ihr auf dem Balkon warst."
„Gut, er benötigt jemanden, der ihn erlöst."
Javert schwieg, bis sie zuhause angekommen waren. Er war noch immer nicht vollkommen sicher, ob wieder alles zwischen ihnen in Ordnung war. Sie waren den ganzen Tag über so beschäftigt gewesen, daß es keine Gelegenheit gegeben hatte, tatsächlich in Ruhe allein miteinander zu sprechen.
Erst, als sie die Wohnung betreten hatten, merkte Javert, wie zerschlagen er sich eigentlich fühlte nach der vorangegangenen schlaflosen Nacht, der Rückführung des Elefanten zur Oper und dem Souper beim Grafen von Monte Cristo. Während Valjean den Wechsel sorgfältig in seinem Schreibtisch einschloß, ging Javert schon vorweg ins Schlafzimmer, kleidete sich aus und streckte im Bett aus.
„Wieso war der Graf so überraschend großzügig?" fragte Valjean, als er ebenfalls das Schlafzimmer betrat.
„Er und du haben etwas gemeinsam," antwortete Javert und sah Valjean beim Auskleiden zu. „Auch er hat ein Gefängnis verlassen, sagen wir, ohne im Besitz eines Entlassungsscheins zu sein. Und er weiß, daß ich das weiß."
„Das ist Schweigegeld?" Valjean überlegte sofort, wie er den Wechsel retournieren konnte.
„Nein, ich hatte ihm schon vorher zugesagt, nichts zu unternehmen. Danach bemerkte ich, daß Dich eine Spende sicherlich erfreuen würde."
„Hhm," machte Valjean nicht ganz überzeugt und kroch ins Bett. „War er auch in Toulon? Ich erinnere mich nicht."
„Nein, er war ein politischer Gefangener. Chateau d'If."
Valjean dachte nach. „Man sagt, daß die Gefangenen dort praktisch lebendig begraben wurden." Er schauderte. „Ich könnte verstehen, wenn er vorhätte, sich an den Leuten zu rächen, die ihn dorthin gebracht haben."
„Das klingt jetzt aber gar nicht nach dir, mein unheiliger Jean." Javert grinste.
Ehe er sich versah, hatte Valjean sich mit für sein Alter überraschender Behendigkeit blitzschnell über ihn gerollt und hielte seine Handgelenke rechts und links neben seinem Kopf fest. Ein wenig fühlte es sich an wie in jener Nacht in dem schmalen Bett in Marius' Studentenbude – nur ohne Handschellen und mit umgekehrten Vorzeichen.
„Das war aber nicht nett, so etwas zu sagen," beschwerte sich Valjean.
Javert reagierte so, wie es Valjean damals getan hatte. Er küßte ihn. Valjean reagierte nicht, wie es Javert damals getan hatte, sondern erwiderte den Kuß.
„Gibt es noch mehr Geheimnisse, die du vor mir hast?" fragte Valjean nach einer halben Ewigkeit atemlos.
„Nein, keine Geheimnisse mehr," antwortete Javert ernsthaft, um sich gleich darauf zu verbessern. „Abgesehen von solchen wie deinem nächsten Geburtstagsgeschenk."
„Du weißt, was du mir zum Geburtstag schenkst? Mein Geburtstag ist erst in sechs Monaten, jetzt mache mir nicht älter als ich bin."
„Ich bin eben großartig organisiert." Javert dachte mit einem Lächeln an den Pachtvertrag für das kleine Stück Garten hinter dem Haus mit seinen Rosenbeeten, den er vor einigen Wochen überzeichnet hatte, bevor er sich wieder in Valjeans Küssen verlor...
