Hab leider noch keine Antworten auf eure Reviews bekommen. Ich werd mal nachsehen, was los ist.
Kapitel 4
Judy hatte während des ganzen
Weges zum Waisenhaus den Kopf gesenkt gehalten. Sie war blass, wie
schon seit zwei Wochen, nachdem ihre Mutter gestorben war und unter
ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, die bei einem Kind ihren
Alters derart ungewöhnlich waren, dass sie und Melinda, wenn sie
in diesen Tagen einmal rausgegangen waren, oft abfällig
angesehen wurden und viele Leute Dinge wie „So eine junge Mutter"
oder „Das arme Kind", vor sich hin gemunkelt hatten.
An
Melinda prallten solche Kommentare ab, sie kümmerte sich einen
Dreck darum. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten, sie
hatten sich wirklich um Wichtigeres zu kümmern.
Judy
hatte nach dem Tod ihrer Mutter nur sehr wenig gesprochen. Meistens
hatte sie sich in dunklen Ecken des großen Landhauses ihrer
Eltern versteckt und geweint. Melinda war für die ersten zwei
Wochen ebenfalls dorthin gezogen, doch nun wurde es
zwangsversteigert, denn nach dem Tod der Hausherrin konnte (oder
wollte)es niemand aus der Familie mehr finanzieren. Melindas Onkel
war schon seit Jahren tot und hatte seiner kleinen Tochter kein Erbe
hinterlassen, dass erwähnenswert wäre.
Und nun musste
Melinda wieder ihren Job im Waisenhaus antreten und Judy blieb keine
andere Möglichkeit, als ebenfalls dort zu leben. Immer wieder
hatte sich Melinda darum gekümmert, eine kleine Wohnung zu
finden, die in der Nähe des Waisenhauses lag und in der sie mit
Judy leben konnte, damit ihr das Aufwachsen dort erspart blieb, doch
bei Melindas Gehalt war dies schlichtweg unmöglich. Und so
sollte Judy heute in das Waisenhaus einziehen. Die wenigen
Habseligkeiten, die sie mitgenommen hatten, hatte Melinda in einen
großen Seesack gepackt, den sie über der Schulter trug.
Judy hob kurz den Kopf, um sich nach einem streunenden Hund
umzudrehen. Sie ist so hübsch, dachte Melinda, diese Traurigkeit
passt gar nicht zu so einem hübschen Mädchen. Hoffentlich
würde sie im Waisenhaus neue Freunde finden. Viele dort hatten
Geschichten wie sie hinter sich und würden sie sicher verstehen
können, doch Judys Schmerz war noch so frisch.
Schließlich
standen die beiden vor dem tristen, klobigen Bau des Heims. Judy
strich sacht über die Hausmauer, dort wo der Putz abblätterte.
„Muss ich wirklich?", fragte sie leise und sah Melinda so
traurig an, dass dieser die Tränen in die Augen stiegen. Es tut
mir leid, dachte Melinda, strich ihrer Cousine durchs Haar und
lächelte sie bedauernd an. Es tut mir so leid.
Melinda
hob die Hand und drückte die Klinke herunter. Die beiden
huschten durch die Tür und Melinda führte Judy hoch zu
ihrem Zimmer, dass klein und schäbig, jedoch vollkommen sauber
und ordentlich war. Judy setzte sich auf das kleine Bett, während
Melinda ihre Sachen in den Schrank legte, der in der Ecke stand.
„Es
geht schon...", sagte Judy zaghaft und strich bedächtig über
das blütenweiße Laken, „Es ist schon okay." Melinda
drehte sich um.
„Meinst du wirklich?", fragte sie.
Judy
nickte und erhob sich. Sie sahen sich einen langen Augenblick an.
„Komm her!", sagte Melinda und winkte Judy ans Fenster. Judy
ging mit unbeeindruckter Miene zu ihrer großen Cousine und
stellte sich neben sie. Zusammen spähten sie durch das
schmutzige Glas. Sie sahen unten im Garten einige Kinder ausgelassen
spielten und dann richteten sie den Blick auf das Gebäude, dass
ihnen gegenüber war. Es war der Seitenflügel des
Waisenhauses und Melinda hob die Hand und deutete auf ein Fenster auf
der selben Höhe.
„Dort ist mein Zimmer", sagte sie
leise, „Du kannst du mich immer sehen, wenn du dich umdrehst und
wenn du willst kannst du mich abends besuchen. Du musst nur durch den
Korridor hinter deiner Tür immer nach rechts gehen. Es ist die
letzte Tür."
Judy nickte langsam, dann schloss sie Melinda
in die Arme.
„Danke", flüsterte das kleine Mädchen,
„Ich weiß, dass du nicht wolltest, dass ich hier hin muss.
Aber es geht schon, wirklich. Es ist ja nicht deine Schuld, dass Mum
gestorben ist."
Melinda lächelte sanft. „Ich hab dich
lieb."
Sie ist viel älter, dachte Melinda, sie ist viel
älter, viel stärker, als ich.
Bis zum Nachmittag
blieb Judy in ihrem Zimmer. Melinda war gegangen und hatte sich
wieder ihren normalen Aufgaben gewidmet. Judy hatte sich auf das Bett
gesetzt und starrte die weiße Wand an. Sie dachte über
alles nach, was geschehen war. Das sie in das Waisenhaus eingezogen
war, bedeutete nicht, dass sie dort bleiben musste, bis sie erwachsen
war. Wenn Melinda einen besser bezahlten Job fände, könnte
sie sich vielleicht doch schon bald etwas anderes leisten können.
Wenn ich doch nur erwachsen wäre, dachte Judy, dann könnte
ich ihr helfen.
Es waren Stunden vergangen, als sie sich das
erste mal wieder regte. Jemand klopfte an ihre Tür. Einen Moment
lang überlegte Judy, ob sie einfach schweigen solle, doch dann
rief sie: „Ja?"
Die Tür öffnete sich und ein
blasser Junge mit schwarzem Haar stand vor der Tür. Er war in
ihrem Alter. Einen Moment lang sahen sie sich ohne ein Wort an, dann
erhob der Junge die Stimme.
„Bist du neu hier?" Er klang
abweisend und unbeteiligt, als würde ihn seine Frage eigentlich
gar nicht interessieren und etwas, Judy konnte nicht recht einordnen,
ob es an seiner Stimme lag oder daran, wie er sich benahm, etwas
machte ihr an diesem Jungen Angst.
„Ja", sagte sie steif in
dem Versuch sich nichts von ihrem Unbehangen anmerken zu lassen. Er
ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, dann taxierte er sie
wieder.
„Ja, also ich wollte nur wissen, ob es stimmt, die
anderen sagen Melinda wäre deine Cousine!"
„Ja",
sagte sie erneut, „ja, das ist richtig." Wieder versuchte sie, so
gleichgültig zu klingen, wie er, doch wieder scheiterte sie.
„Na dann...", sagte er langsam und für einen winzigen
Augenblick, hatte Judy das Gefühl, die Kälte wäre aus
seinen Augen gewichen. Der Junge zuckte die Achseln und wollte sich
wieder umdrehen, um zu gehen, doch Judy hielt ihn zurück.
„Warte!", sagte sie. Er blickte sich um und sah sie fragend
an.
„Wie heißt du?", fragte sie. Erstaunt weiteten sich
seine Augen, er schien überrascht über ihre Frage.
„Tom",
sagte er schließlich und fügte nach kurzem Zögern
hinzu: „Und du?"
„Judy", sagte Judy. Es schien, als
ließen die beiden den jeweiligen Namen auf sich wirken, dann
wandte sich Tom abermals zum gehen, doch erneut hielt er inne.
„Mein
Zimmer ist das neben diesem hier", sagte er leise, als habe er
Angst, dass jemand anderes mithörte und als er ihr ein letztes
Mal in die Augen sah, bevor die Tür entgültig ins Schloss
fiel, spürte Judy kein Unbehangen mehr, es war anders. Sie hatte
das Gefühl in eine metertiefe Schlucht zu fallen und als einige
Minuten später Melinda vor ihrer Tür stand klopfte ihr Herz
immer noch.
