Kapitel fünf
„Ähm,
alles okay mit dir?", fragte Melinda und wunderte sich über
Judys seltsam verklärten Gesichtsausdruck.
„Och... ja, mir
geht's gut", antwortete diese etwas verwirrt und schüttelte
sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Ihre Wangen waren leicht
gerötet.
„Also, ich wollte fragen, ob du Lust hast mit
runter zum Essen zu kommen", sagte Melinda und fragte sich im
Stillen, was geschehen sein könnte, das erklärte, weshalb
ihre kleine Cousine sich so seltsam benahm.
„Nein, ich denke
nicht...", antwortete Judy vage, obwohl ihr damit wohl auch die
Chance entging, Tom an diesem Tag noch ein Mal wieder zu sehen , aber
sie fühlte sich noch nicht bereit um von den anderen beäugt
und ausgefragt zu werden.
Melinda, die diese Antwort erwartete
hatte, nickte und verließ das Zimmer wieder, um unten in der
Küche zu helfen.
Nachdem die Tür hinter ihr zugefallen
war, setzte sich Judy wieder auf ihr Bett und lehnte sich mit dem
Rücken an die kahle Wand an. Gedankenverloren sah sie aus dem
Fenster und fragte sich, was Tom wohl gerade machte.
Eine Weile
saß sie still da, dann kam ihr ein Gedanke. Wenn jetzt alle
anderen Kinder beim Essen waren, müsste sie eigentlich genug
zeit haben das Haus und den Garten ein wenig zu erkunden, ohne
jemandem zu begegnen, der ihr lästige Fragen und Blick zuwarf.
Judy glitt von ihrem Bett und öffnete ihre Tür einen
Spalt breit. Der Gang lag vollkommen ausgestorben vor ihr. Sie
durchquerte ihn und nahm eine steinerne Treppe nach unten in eine
schäbige Eingangshalle, von der mehrere Türen ausgingen.
Hinter einen, ganz am Ende der Halle, sah Judy durch eine milchige
Scheibe, dass sie nach draußen führte.
Nach kurzem
überlegen, entschied sie sich gegen diese Tür, weil sie die
Vermutung hatte, dass man vom Speisesaal in diese Richtung nach
draußen sehen konnte und sie hatte keine Lust von anderen
beobachtet zu werden. So nahm sie die kleinste Tür, gleich zu
ihrer Linken. Judy huschte hindurch und fand sich gleich darauf in
einem engen, schwach beleuchtetem Gang wieder in dem ein großer,
hagerer Junge stand und sich eine selbst gedrehte Zigarette
ansteckte. Als er Judy bemerkte, fing er an zu grinsen und ging,
betont lässig, auf sie zu.
„Na, meine kleine?", fragte
er Judy mit rauer Stimme, „Verlaufen?"
„Ich wollte nur mal
sehen", sagte sie und blickte dem Jungen argwöhnisch an. Er
mochte vielleicht dreizehn sein, trug eine ausgebeulte Fliegermütze
und einen rostigen Siegelring am Finger.
„Nur mal sehen, ja?"
Er kam ihr näher. Sein dunkles Haar war lang genug, dass es
unter der Mütze hervor guckte.
„Ganz unter uns, ich würde
dir raten, dich hier lieber nicht all zu oft... umzusehen, kleine.
Unangenehme Typen, kann ich nur sagen, unangenehme Typen..." Sein
Grinsen wurde breiter.
„Ach ja?", fragte Judy, die zu ihrer
eigenen Verwunderung nicht einen Hauch Angst verspürte, obwohl
der Junge sie um mindestens zwei Köpfe überragte, „Schön.
Gehörst du dazu?"
Er lachte.
„Vielleicht", meinte
leise und drängte Judy etwas an die Wand. Er stellte sich vor
sie, legte stützte die Hände neben Judys Schultern an die
Wand und versperrte ihr somit den Ausweg nach links und rechts.
„Was
willst du?", fragte sie.
„Du bist ein hübsches Mädchen",
stellte er trocken fest, „Wie heißt du?"
„Judy",
sagte diese kühl und verschränkte die Arme vor der Brust,
um sich ein wenig Abstand zu dem Jungen zu beschaffen.
„John",
sagte er, „erfreut dich kennen zu lernen." Er streckte ihr die
Hand entgegen. Judy wußte in diesem Moment selbst nicht so ganz
was sie da eigentlich tat, doch einer spontanen Eingebung folgend,
nahm ergriff sie seine Hand.
Auch John schien von ihrer Reaktion
überrascht.
„Wie alt bist du?", fragte er argwöhnisch,
doch der Spott war fast gänzlich aus seiner Stimme gewichen.
„Sieben", antwortete sie.
John sah sie erstaunt an,
stemmte sich von der Wand weg, damit sie sich wieder frei bewegen
konnte und sagte dann:
„Ehrlich? Du hast so eine Art...",
händeringend suchte er nach dem passenden Wort, „ so wissend,
so, als ob du von Anfang an gewusst hättest, das ich dir nie ein
Haar krümmen würde."
„Würdest du nicht?"
John lachte erneut.
„Niemals."
Eine Weile standen die
beiden einfach so da.
„Soll ich dir mal den Garten zeigen?",
fragte John, machte mit dem Kopf eine ruckende Bewegung zur Tür
hin und als habe er Judys Gedanken gelesen, „Die anderen sind
längst alle oben." Judy sah in kurz von der Seite an, nickte
und so machten die beiden sich auf den Weg.
Die letzte
Abendsonne beschien die Bäume, als sie in den Garten traten und
sich in das weiche Gras sinken ließen. Judy gefiel der Garten,
irgendwie mochte sie die Stimmung, aber vielleicht lag auch nur an
John. Sie fühlte sich plötzlich seltsam verstanden von ihm,
obwohl er so viel älter war.
„Hast du viele Freunde
hier?", fragte Judy schließlich in die Stille hinein.
„Nein", antwortete er gleichmütig, nahm seine Mütze
ab und fuhr sich durch das Haar, „Als ich das letzte Mal
nachgezählt habe, waren es genau... null. Aber ich zähle
auch nicht so oft nach."
„Ich glaube, ich werde hier auch
keine Freunde finden", sagte Judy nachdenklich, außer
vielleicht Tom, fügte sie in Gedanken hinzu, doch sie war sich
nicht sicher, ob dieser überhaupt mit ihr befreundet sein
wollte.
„Und was ist mit mir, du blöde Kuh?", fragte
John gespielt beleidigt.
Einen Moment lang, sah sie ihn an, nicht
sicher, ob er das ernst gemeint hatte, doch seinem Gesichtsausdruck
zu schließen, musste es wohl so sein.
„John", fragte
sie, legte den Kopf schief und sah in seine dunklen Augen, „Meinst
du das ernst?"
„Na klar, kleine", sagte er ernst und Judy
war in diesem Moment so unglaublich überrascht, dass ihr die
Worte fehlten.
Lange saßen sie schweigend da und sagten
kein Wort.
John mochte das kleine Mädchen, das ihm da
über den Weg gelaufen war wirklich. Sie war direkt und hatte
eine seltsame Unbekümmertheit, die ihm gefiel. Er brauchte in
ihrer Gegenwart nicht das Gefühl haben, sich verstellen zu
müssen.
Auch Judy empfand eine seltsame Sympathie für
John. Sie hatte seit, er das erste mal den Mund auf gemacht hatte,
fast kein einziges Mal an ihre Mutter gedacht. Er war älter,
aber im Grunde waren sie sich irgendwie ähnlich. Während
sie so da saßen, musste Judy wieder an Tom denken und nahm sich
vor, John irgendwann ein mal nach ihm zu fragen.
Und die Dunkelheit kam und ging und als sie am nächsten Morgen vom Gesang der Vögel aufwachten und sich stillschweigend von einander trennten, wußten beide, dass sie diese Nacht wohl nicht so schnell vergessen würden.
