Der Hogwartsexpress stand wie ein
schnaubendes Untier vor ihr, seine blutig roten Flanken troffen vor
öligem Dampf. Aus den Nähten der Maschine flossen teerige
Schlieren und die blinden Fenster waren wie Reihen von Käfigen,
hinter denen verdammte Seelen das Ende der Welt erwarteten. Die
Pfeife kreischte grell über das Gleis, während Lilys
Fingernägel sich in ihre Handflächen bohrten. Sie wollte
dieses elende Ding vernichten, es in Stücke sprengen, seine
Existenz ein für alle mal auslöschen. Ihr Hals schnürte
sich schmerzhaft zu und durch den feuchten Schleier, der sich vor
ihre Augen legte, schien die Dampflok sie auszulachen. Lily wünschte
sich, nie eingestiegen zu sein, nie von Hogwarts erfahren zu haben,
nie eine Hexe geworden zu sein. Vielleicht läge ihr Leben dann
nicht in Trümmern vor ihr.
Ein Arm legte sich um ihre
verkrampften Schultern, doch sie blickte nicht mal auf. Sie wusste,
dass es keiner war, der sie hätte trösten können.
„Komm,
Lily, lass uns gehen", flüsterte Frank ihr ins Ohr und zog sie
vorsichtig von der Lok weg. Ihre Hand krampfte sich um ihren
Zauberstab. Gehen, wohin? Er hatte gut reden! Es gab keinen Ort, an
den sie gehen konnte, keinen Menschen, zu dem sie gehörte. Kurz
wehrte sie sich. Sie wollte hier bleiben, sich dem Monster stellen,
um ihr verlorenes Leben kämpfen. Doch Alice trat ihr in den Weg
und als Lily in ihre geröteten Augen sah, wusste sie, dass dies
nichts bringen würde.
Es war vorbei, sie waren
gescheitert.
Wie in Trance ließ sie sich durch das Tor
führen, über den Bahnsteig zur Eingangshalle. Der Lärm
der Reisenden war nur ein fernes Rauschen ohne Bedeutung - bis auf
diesen einen Schrei. Es war vielleicht ein Kind, das auflachte, weil
es den geliebten Großvater wiedersah, oder ein lautes
Schluchzen einer jungen Frau, die ihren Geliebten verabschiedete. Für
Lily klang es wie der Todesschrei ihrer besten Freundin. Sie hatte
ihn vor drei Tagen, während des Angriffs des Dunklen Lords,
nicht gehört, sie hatte sie nicht sterben sehen, hatte ihre
Leiche nicht gefunden und doch hörte sie diesen Schrei seitdem
immer wieder, überall, vor allem nachts, wenn sie aufwachte und
im Schlafsaal - selbst bei tiefster Dunkelheit - das leere Bett sah.
Sie begann zu zittern und Frank drückte sie zärtlich an
sich, doch es war ihr kein Trost. Sie hatte in dieser einen Nacht
alles verloren, nicht nur die beste Freundin. Der Schülerwiderstand
von Hogwarts, dem sie vorgestanden hatte, war gefallen, sie hatte
James angelogen und sein Vertrauen wohl für immer verloren, drei
Schüler waren gestorben und es war ihre Schuld. In der
Manteltasche hatte sie den Brief von Petunia, sie nannte ihr die
Adresse des Pflegeheims, in dem ihre Mutter untergebracht war, und
teilte ihr mit, dass sie selbst nicht von Lily besucht werden
wollte.
Sie traten durch die alten Tore des Bahnhofs und die
tiefstehende Sonne stach schmerzhaft in Lilys brennende Augen. Sie
blinzelte, während kleine Funken vor ihren Augen tanzten, und da
sah sie ihn. Sein Haar war strähniger denn je zuvor, das Gesicht
wie aus Wachs, die Augen mehr tot als lebendig.
Er hob gerade
seinen Koffer in ein Taxi.
Frank sagte etwas, doch Lily verstand
es nicht.
Die Welt um sie herum verschwand.
Severus blickte
auf, trat einen Schritt auf sie zu und streckte ihr die offene Hand
entgegen.
„Komm mit mir!" Es klang fast wie eine Bitte.
Und
dann war Lily wach. Sie übersprang den Vorgang des Aufwachens.
Da war kein Irren zwischen Traum und Realität, keine Verwirrung
darüber, wo sie war. Eben hatte sie noch auf Severus'
ausgestreckte Hand geblickt und jetzt sah sie zur unregelmäßigen
Decke ihres Schlafzimmers.
Sie wusste auf den Tag genau, wann sie
es sich abgewöhnt hatte aus Träumen, wie schrecklich sie
auch sein mochten, aufzuschrecken: Es war die Nacht ihres ersten
Hochzeitstages gewesen. Zwei Abende zuvor hatte sie sich mit Freunden
im Eberkopf getroffen, um den Jahrestag ihrer Junggesellinnenfeier zu
begehen und ihrer längst verlorenen Freiheit nachzutrauern. Man
meinte das Trauern nicht ernst, die Freundinnen hatte sich sehr über
Lilys Hochzeit mit James gefreut, doch für Lily hatte es an
diesem Abend einen merkwürdig wahren Klang gehabt.
Dann, in
der Nacht des Hochzeitstages, an dem sie erst spät ins Bett
gekommen waren, war sie zum ersten Mal lautlos aufgeschreckt. Und
während ihr Atem langsamer geworden war, war ihr klargeworden,
dass sie sich einen Aufschrei verkniffen hatte. Sie wollte aus dem
Traum, in dem sie Frank und Alice wie Zombies durch ein kahles Zimmer
mit zu vielen flatternden Vorhängen hatte schlurfen sehen,
aufwachen, doch sie wollte nicht getröstet werden. Sie wollte
den Schreck, den Schmerz und die Übelkeit, die die Bilder
verursacht hatten, voll auskosten. Sie wollte nicht, dass James das
Zittern aus ihrem Körper wegstreichelte, wollte nicht, dass
seine Stimme die Stille des Traums durchbrach.
Seitdem
verteidigte sie ihre Alpträume immer effektiver, holte beim
Aufwachen nicht mal mehr tief Luft, bewegte sich nicht im Schlaf und
fuhr auch nicht hoch. James hatte sie schon mehrmals grundlos
geweckt, weil er das Gefühl gehabt hatte, der starre,
verkrampfte Körper neben ihm sei mit einem Fluch belegt.
Doch
dies war kein Alptraum. Es war eine Erinnerung. Dieser Tag, der
Bahnhof und der Sonnenschein, alles war so passiert, doch in
Wirklichkeit hatte Severus nichts gesagt, nicht einmal zu ihr
aufgesehen. Er war in das Taxi gestiegen und weggefahren. Hatte sie
alleine gelassen. Da war nur dieses kurze Nicken, diese kleine
Bewegung, bei der Lily sich nie sicher war, ob sie sie gesehen hatte
oder sich nur einbildete. Das Zeichen dafür, dass alles richtig
war, dass es so und nicht anders sein musste. Sie hatte ihn in diesem
Moment gehasst.
Erst einige Jahre später hatte sie diese
Geste wieder gesehen. Auf Franks Hochzeit. Lily war zufällig in
der Vorhalle gewesen, da hatte Severus im Schatten der
Blumendekoration Alice' Hand geküsst und sie mit diesem Nicken
an Frank übergeben.
Severus, der fünf Jahre lang Alice
wie ein großer Bruder beschützt und getröstet hatte,
gab sein Einverständnis zu ihrer Ehe mit Frank, einem Mann, der
sich Severus' Freundschaft hart und schmerzensreich erkämpft
hatte. Und wie zufrieden Severus diesen Dienst erfüllte, so
dankbar war ihm Frank dafür und so erleichtert und glücklich
war Alice.
Lily war weinend weggerannt. Sie verstand nicht
richtig, wieso diese Szene sie so verletzte, aber es war, als hätte
jemand ihr Herz in der Faust gehalten und immer fester zugedrückt.
Sie waren in Hogwarts Freunde gewesen, sie alle, hatten zusammen
gelacht, gelernt und gekämpft. So viel hatte sie verbunden, doch
seit jener verhängnisvollen Nacht hatte sie nicht mehr mit
Severus gesprochen.
Sie hatte einige Monate bei den Longbottoms
gewohnt, nach einigen Bewerbungsgesprächen eine
Ausbildungsstelle im Ministerium bekommen und dann war sie zu James
gegangen, um ihn um Verzeihung zu bitten.
Ein bitterer Geschmack
stieg in ihrem Hals hoch, als sie jetzt daran dachte. Sie hatte darum
gebettelt, er möge ihr verzeihen, dass sie ihm nicht die
Wahrheit über den Schülerwiderstand gesagt hatte.
Gebettelt, er möge ihr vergeben, dass sie ihn zum Unbrechbaren
Schwur gezwungen hatte, versucht ihm zu erklären, dass davon
Leben abhingen. Doch er hatte nur wissen wollen, ob sie Severus
wiedergesehen hatte. Es hatte ihr damals merkwürdig Leid getan,
mit 'Nein' antworten zu müssen.
Sie vermisste Severus.
Lily
strich über ihren dicken Bauch unter der Decke, dachte über
das Baby nach. Harry würde er heißen, James' zweiter
Vorname.
Wie egozentrisch – dachte Lily, und strich noch mal
über ihr ungeborenes Kind. Sie wusste, dass Harry gerne ein
Harry sein wollte, daher hatte sie nicht mit James darüber
diskutiert.
Ein merkwürdiger Gedanke ergriff sie. Plötzlich
wusste sie, dass sie jetzt mit einer Tochter schwanger wäre,
wenn sie damals nicht zu James, sondern zu Severus gegangen wäre.
Sie wusste auch, wie diese Tochter geheißen hätte, und
dass sie sich beide bei diesem Namen sofort einig gewesen wären.
Doch sie hatten über jene furchtbare Nacht nicht zueinander
gefunden, im Gegenteil, sie konnten sich nicht mehr ansehen, weil es
zu sehr wehtat.
