Viel Spaßbei Kapitel zwei, lg, N.Snape

ZWEI

FBI-Hauptquartier
Washington D.C., Virginia
Donnerstag, 17.43 Uhr

Es war ein überraschend kalter Tag für die Verhältnisse von Washington im Dezember. Der Himmel war grau und die Temperaturen waren im Verlaufe des Tages kein bißchen gestiegen, sie blieben seit dem frühen Morgen bei Minus Elf Grad Celsius. Die Winter in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten wurden stets von einem eisigen Wind und andauernder Bewölkung beherrscht, es schneite selten, aber wenn es schneite, kam der Wetterumschlag meist so infernalisch, dass jegliche Bewegung in der Stadt zusammenbrach.

Es war Heiligabend, ein düsterer und unfreundlicher Tag, aber schon in der Eingangshalle des J. Edgar Hoover Buildings wurde Special Agent Dana Scully die Freude und Herzlichkeit dieses Tages bewusst. Da war nichts von der üblichen Geschäftigkeit und dem elitären Bewusstsein zu spüren, das sonst das FBI und alle Agenten in ihrem Verhalten lenkte und beherrschte. Über der Aufzugtür hing sogar eine grüne Girlande aus Kunsttanne mit roten Schleifen daran. Scully konnte nicht umhin zu lächeln.

Der Aufzug hielt im Keller, die Schiebetür öffnete sich und Scully trat hinaus. Sie spürte die Blicke der anderen FBI-Agenten, die auf ihrem Rücken hafteten. Sobald die Aufzugtüren wieder geschlossen waren, würden sie sich ansehen, den einen oder anderen abfälligen Kommentar über sie, ihre Arbeit und ihren Partner abgeben oder einfach nur den Kopf schütteln. Sie war immer eine angesehene Agentin gewesen, vielleicht hatten nicht alle ihren Arbeitseifer verstanden, oder weshalb sie alles, was sie anpackte auch mit Erfolg beenden wollte, aber sie hatte einen guten Ruf gehabt. Man hatte sie respektiert.

Jetzt arbeitete sie mit Fox Mulder zusammen. Mit „Spooky" Mulder, wie ihn die Kollegen gern nannten. Und dieser Spitzname traf die Sache in ihren Augen eigentlich haargenau. Er neigte zu überspannten Ideen, hing Verschwörungstheorien hinterher und hatte sich sogar beruflich dem Übernatürlichen, Außerirdischen, Unerklärlichen und Paranormalen verpflichtet. In den letzten Jahren hatte sich Scully an ihn gewöhnt, sie schätzte ihn und seine Ideen, auch wenn sie nur ungern zugab, wie oft er mit diesen verqueren Einfällen richtig lag. Er schien ihr manchmal wie ein wandelndes Lexikon der Paranormalitäten, denn wann immer man ihm einen auf den ersten Blick noch so gewöhnlichen Fall vor die Nase hielt, den man hieb- und stichfest mit den altmodischen Erklärungen lösen konnte, fand er einen Haken an der Sache, und nicht nur das, er hatte auch sofort eine passende Theorie zur Hand.

Das einzige, was Scully an ihrer Zusammenarbeit nicht gefiel, war, dass er sie mit den Jahren immer öfter dazu gebracht hatte, ihm ein bißchen mehr Glauben zu schenken, sie war leichter zu überzeugen, als am Anfang.

Als sie das Büro betrat, wurden ihr mal wieder einige der Nachteile bewusst, dass Mulder und Scully ihren Kollegen und Vorgesetzten ein Dorn im Auge waren. Dieses Büro war der ehemalige Kopierraum, er lag im Keller, hatte keine Fenster und war nicht beheizt.

„Was tun Sie denn an diesem Tag hier, Scully?" begrüßte Mulder sie mit einem überraschten Gesichtsausdruck. „Sollten Sie nicht eigentlich mit ihrer Familie Weihnachten feiern?"

„Ich weiß auch nicht, warum ich hergekommen bin, vielleicht nur, um Ihnen frohe Weihnachten zu wünschen." Sie setzte sich in ihren Stuhl, ihm gegenüber an den Schreibtisch und zog ihren Mantel enger um sich. „Ich war eigentlich schon auf dem Weg nach Hause. Meine Mutter hat ein großes Abendessen vorbereitet, eigentlich ist alles wie jedes Jahr." Sie machte eine kurze Pause. „Wollen Sie Heiligabend allein hier in diesem kalten Büro verbringen, oder werden Sie zu Ihrer Mutter fahren?"

Mulder legte die Unterlagen, in die er gerade vertieft war, auf den Tisch und lehnte sich zurück. „Es gibt da ein paar sehr interessante Sachen, die ich noch durcharbeiten wollte, und heute ist der ideale Tag dafür. In ein paar Stunden wird auch der letzte von hier verschwunden sein, dann kann ich mich voll und ganz darauf konzentrieren." Er deutete auf den Aktenberg auf seinem Tisch.

Scully wusste, dass Mulder gern allein war, er liebte es, sich in den neuesten Meldungen der Boulevardpresse über unerklärliche Phänomene oder UFO-Sichtungen zu verkriechen, aber heute hatte sie das Gefühl, er solle nicht allein sein.

„Vielleicht..." begann sie, machte dann eine Pause, in der sie auf ihre Hände sah, die unruhig miteinander spielten. „... ich dachte, vielleicht möchten Sie mich ja heute Abend begleiten, dann müssten Sie nicht allein sein."

„Glauben Sie, unsere Beziehung ist schon so weit, dass Sie mich Ihrer Mutter vorstellen sollten?" scherzte Mulder.

Scully erwiderte sein Lächeln. „Mhhmm. Es ist immerhin Weihnachten, ich bin heute wohl ein bißchen sentimental."

„Danke für das Angebot, aber ich glaube, ich bleibe doch besser hier. Ich käme mir wie ein Eindringling vor, so als hätte ich mich aufgedrängt."

Sie nickte, nicht weil sie ihm zustimmte, sondern weil sie ihn verstand.

„Wer weiß, vielleicht fahre ich ja doch noch zu meiner Mutter und wünsche Frohe Weihnachten", zog er in Erwägung, wohl wissend, dass er das sehr wahrscheinlich nicht tun würde.

„In Ordnung." Scully stand auf und schob den Stuhl wieder näher an den Tisch. Auch Mulder erhob sich von seinem Stuhl und eilte zur Tür, um sie ihr aufzumachen.

„Dann wünsche ich Ihnen frohe Weihnachten, Mulder!"

„Danke Scully, wünsche ich Ihnen auch. Und essen Sie nicht zu viele Weihnachtskekse!" Er lächelte sie schelmisch an, drückte ihr noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie die Tür hinter sich schloss.

Kaum saß Mulder wieder an seinem Schreibtisch und hatte sich in ein paar Augenzeugenberichte über Abduktionen vertieft, als die Tür aufging, und Assistant Director Walter Skinner in das Büro trat.

„Ich habe mir schon gedacht, dass Sie heute Abend hier anzutreffen sind." Er lehnte sich gegen den silbernen Aktenschrank, der neben der Tür stand, und betrachtete Mulder. Skinner war etwas über einen Meter achtzig groß, kräftig, aber nicht dick. Er ging auf die fünfzig zu und seine Haare hatten sich bereits zu einer Halbglatze gelichtet. Auf der Nase trug er wie üblich seine Brille mit dem dünnen, dunkelbraunen Rand. Seine dunklen Augen waren rege und freundlich.

Mulder mochte Skinner, und er vermutete, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Skinner hatte ihnen schon mehr als einmal aus einer brenzligen Situation herausge­holfen, indem er für sie eingetreten war, ohne auf eventuelle Konsequenzen für sich selbst zu achten. Schon mehrfach hatte er für sie sein Leben riskiert.

„Es ist nicht gut, wenn Sie Weihnachten hier im Büro verbringen. Sie sollten lieber nach Hause zu Ihrer Mutter fahren, und mit ihr feiern. Für sie ist es mit Sicherheit auch nicht leicht an diesem Tag."

„Ich habe noch etwas zu tun."

„Das kann ja wohl bis Montag liegen bleiben. Ich weiß, dass es in letzter Zeit in Ihrer Familie nicht leicht war. Es gab viele Probleme, aber Sie sollten nicht vergessen, dass Sie noch eine Familie haben." Er nahm seine Brille von der Nase, was für Mulder ein Zeichen war, dass er seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen ließ. „Wissen Sie, als ich noch ein Kind war, war es bei uns zu Hause Tradition, jedes Jahr an Weihnachten ein großes Familienfest zu veranstalten. Alle Verwandten und Anverwandten kamen zusammen, wir trafen uns immer in unserem Haus und dann haben wir gemeinsam an einem sehr langen Tisch gegessen. Als ich klein war, habe ich diese Feste geliebt, die ganze Familie war da, wozu auch viele Kinder gehörten. Aber als ich dreizehn wurde, fing ich an, diese ständigen Familienfeste zu hassen. Meine Tanten kamen dann immer auf mich zu, kniffen mich in die Wange und tätschelten mir den Kopf, wie groß ich doch schon geworden sei. Also beschloss ich in diesem Jahr Weihnachten nicht zu Hause zu verbringen, sondern verdrückte mich zu einem Klassenkameraden, dessen Familie Weihnachten aus religiösen Gründen nicht feierte. Meine Eltern haben einen Tobsuchtsanfall bekommen, und meine Großmutter hat, wie ich später gehört habe, geweint. Ich hatte danach ein ziemlich schlechtes Gewissen, aber ich dachte mir, nächstes Jahr Weihnachten könnte ich es wieder gut machen." Er sah ziellos in die Ferne, als wäre die Erinnerung daran noch immer schmerzlich gegenwärtig. „Im November des nächsten Jahres ist sie gestorben."

„Aber Ihre Großmutter hat Sie nicht belogen", warf Mulder an dieser Stelle ein.

„Nein, aber sie war immer für mich da, wenn ich sie gebraucht habe, genauso wie Ihre Mutter für Sie. Sie war bei Ihnen, nach dem schweren Verlust Ihrer Schwester, und ich bin sicher, Sie können auch heute noch zu ihr gehen, wenn Sie Probleme haben. Denken Sie an Ihre Familie, Agent Mulder. Sie arbeiten tagaus – tagein, das ganze Jahr lang, Ihr letzter Urlaub ist schon eine ganze Weile her, nehmen Sie sich wenigstens diesen einen Tag, um mal abzuspannen und Ihrer Mutter zu helfen."

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ den Raum.

Mulder blickte ihm noch eine Weile nach, bevor er kurz entschlossen sein Jackett von der Stuhllehne nahm. Warum eigentlich nicht? Er löschte das Licht und machte sich auf den Weg zu seiner Mutter.