DREI

Maggie Scullys Haus
Irgendwo in Virginia
Mittwoch, 18.53 Uhr

Seit die Kinder aus dem Haus waren, war es bei Scullys Eltern Tradition gewesen, dass alle am Heiligabend wieder zusammenkamen, um miteinander zu essen und ein bisschen zu reden. Mitternacht gingen sie dann alle zusammen in die Kirche zur Christmette.

Doch mit den Jahren waren es immer weniger geworden, die kamen. Zuerst war ihr Vater gestorben, und seit auch Melissa umgekommen war, kam Dana auch nicht mehr gern zu diesen alljährlichen Weihnachtsessen. Melissa hatte ihre Schwester mit ihrer Überzeugung von der New – Age – Religion und ihrer ätherischen, spirituellen Art manchmal an den Rand des Wahnsinns getrieben, aber erst seit sie nicht mehr da war, wurde Scully klar, wie sehr sie in diesem Haus fehlte. Es war so viel stiller geworden, obwohl sich alle bemühten, sich nichts anmerken zu lassen und einander ein perfektes Schauspiel zu bieten, indem sie eine Idylle markierten, und so taten, als habe sich nichts verändert.

Scully hatte sich eingebildet, über den Tod ihres Vaters und ihrer Schwester hinweggekommen zu sein, doch immer wenn sie das Haus ihrer Eltern betrat, merkte sie, wie allgegenwärtig die beiden noch in ihr waren, und wie sehr sie ihr fehlten.

Scully war lange nicht mehr hier gewesen, aber es hatte sich nichts verändert, sogar der Geruch in der Wohnung war noch der gleiche wie immer. Als sie noch klein gewesen war, hatte sie es nie bemerkt, aber jetzt, wo sie dieses Haus endlich wieder betrat, in dem sie aufgewachsen war, stieg der Duft von Vertrautheit und Geborgenheit wieder in ihre Nase.

„Dana, schön, dass du da bist", begrüßte ihre Mutter sie und schloss sie in die Arme.

„Hi Mom!" Sie erwiderte die Umarmung ihrer Mutter. Sie gab ihr Sicherheit und das Gefühl, an einen Ort gekommen zu sein, an dem sie nichts leisten musste, an dem sie einfach nur da sein konnte.

„Die anderen sind schon da, aber wir haben auf dich gewartet."

„Es tut mir leid, ich musste noch etwas erledigen." Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe.

Mrs. Scully betrachtete ihre Tochter eindringlich, dann streichelte sie ihr über die Wange. „Du siehst blass aus, Dana. Geht es dir nicht gut?"

„Ist schon in Ordnung, Mom. Ich glaube ich brüte nur eine Erkältung aus, nichts weiter!"

„Wie wäre es, wenn du schon ins Esszimmer gehst, ich verschwinde in der Küche, ja?" schlug ihre Mutter vor und wand sich ohne auf eine Antwort zu warten auch schon zum Gehen.

Als Scully das Esszimmer betrat, ergriff sofort ihr großer Bruder Bill jr. das Wort.

„Bringen die euch bei der Regierung nicht bei, pünktlich zu sein? Oder was gab es da wichtiges, dass du uns hast warten lassen?" Bill stand auf und drückte seine Schwester fest an sich.

„Weißt du, ich hatte noch eine Verabredung mit einem geheimen Informanten, der mich davon in Kenntnis gesetzt hat, dass jemand ein Attentat auf die Navy plant."

Bills Frau Tara lachte, und er selbst wusste darauf nichts zu sagen. „Setz dich", forderte er Dana stattdessen auf und rückte ihr einen Stuhl zurecht.

Matthew, das einjährige Baby von Bill und Tara, dass in seinem Kinderstühlchen und gluckste zufrieden vor sich hin. Es streckte die kleine Hand nach Tante Dana aus. Sie hatte das Kind ihres Bruders nach seiner Geburt nur noch ein weiteres Mal gesehen, weil Bill auf dem Marinestützpunkt lebte und sie ihn dort nur sehr selten besuchte. Seit dem letzten Mal war Matthew enorm gewachsen, die roten Haare waren immer noch ziemlich dünn, aber sie kringelten sich unter dem kleinen Mützchen hervor.

„Wie sieht's denn aus auf Washingtons Straßen? Kann ich mich in der Dunkelheit noch raus trauen oder hat sich wieder ein UFO in unsere Stadt verirrt?" Bill beugte sich über den Tisch hinweg zu seiner Schwester.

„Mach dir keine Sorgen, ich glaube nicht, dass gerade Jagdsaison auf kleine Marineoffiziere ist", erklärte Scully in einem nüchternen Ton.

„Wo hat es denn deinen Mulder heute Abend hin verschlagen? Hat es ihn wieder nach Kanada gezogen, um dort nach Außerirdischen zu suchen?"

„Warum hast du mir nicht vorher gesagt, dass du heute Abend nur darauf aus bist, meinen Partner zu kritisieren? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich mehr angestrengt ihn zu überreden, mich heute Abend zu begleiten, und dann könnte er sich selbst verteidigen." Scully hasste es, wenn ihr Bruder auf Mulder herum hackte.

Ein entsetzter Gesichtsausdruck machte sich in Bills Zügen bemerkbar. Er wusste nicht, ob es ein Scherz gewesen war, oder ob sie es ernst gemeint hatte.

„Es ist Weihnachten, ihr beiden, findet ihr es richtig, das ausgerechnet heute auszudiskutieren?" meinte Tara tadelnd.

Scully schluckte. Sie würde jetzt nichts sagen, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Sie hatte es ein für alle mal satt, dass ihr Bruder ständig etwas an Mulder auszusetzen hatte. Er musste ja nicht gerade Bruderschaft mit ihm trinken, aber wenigstens ein bisschen Anerkennung und Respekt seinerseits wäre ihrer Meinung nach durchaus angebracht. Immerhin war es Mulder zu verdanken, dass sie noch lebte. Hätte er sich nicht auf die Suche nach einem Heilmittel gegen ihren Krebs gemacht, wäre sie jetzt schon tot. Doch Bill sah nur, dass Mulder die Ursache für ihre Erkrankung gewesen war. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass sie sich ihren Beruf selbst ausgesucht hatte und ihr die damit verbundenen Risiken vorher bekannt gewesen waren.

Das Essen verlief wesentlich ruhiger, als Scully erwartet hatte, sie retteten sich in belanglose Gespräche über Matthew, das Wetter und den neuen Pfarrer, der Father McGue letzten Sommer abgelöst hatte. Danach half Dana ihrer Mutter, das Geschirr in die Küche zu bringen und abzuwaschen, während Bill, Tara und Danas jüngster Bruder Charles sich im Wohnzimmer über die Pläne für das nächste Jahr unterhielten. Es war möglich, dass Bill befördert wurde, so dass ihre Planung davon abhing.

Als Scully aus der Küche zurückkam, blieb sie im Esszimmer vor der Wand stehen, an der die Familienfotos hingen, und betrachtete sie, eins nach dem anderen. Es waren Bilder aus einer anderen Zeit, sie waren noch Kinder gewesen, spielten im Wald oder waren friedlich und gut gelaunt um den Weihnachtsbaum versammelt. Damals hatten sie viel gelacht, und eigentlich war Dana das ganze Leben in diesen Jahren unglaublich leicht und wundervoll vorgekommen. Heute kam es ihr manchmal so vor, als seien diese Bilder nicht nur aus einer anderen Zeit, sondern aus einem anderen Leben.

Ihr Blick blieb schließlich an dem Foto ihres Vaters hängen, es war nicht lange vor seinem Tod aufgenommen worden. Das Bild zeigte Captain William Scully in seiner blendend weißen Uniform, mit den vielen Auszeichnungen an seiner linken Brust und dem selbstbewussten Lächeln, nicht den Ehemann und Vater, der dunkle Hosen und karierte Flanellhemden getragen hatte. Dieses Bild war typisch für ihn, es spiegelte seine ganze Lebenseinstellung wider. Captain Scully hatte sein Leben auf der Überholspur verbracht, sein ganzer Ehrgeiz war es immer gewesen, der Beste und Erfolgreichste zu sein. Das Privatleben kam bei ihm meistens erst an zweiter Stelle, und manchmal hatte er über seine Verliebtheit in den Beruf seine Familie vergessen.

Dana war immer seine kleine Tochter gewesen, er nannte sie Steuermann und sie ihn Ahab. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, hatten Geheimnisse und lachten über Dinge, die ein anderer Mensch nie verstanden hatte. Als Dana Scully noch ein Kind gewesen war, war sie ihrem Vater näher, als eines ihrer Geschwister es je hätte sein können, vielleicht, weil sie sich so ähnlich waren. Sie hatte nicht nur sein rotes Haar und die blauen Augen geerbt, nein, sie glichen sich auch emotional. Und sie hatte seinen fast schon krankhaften Ehrgeiz. Sie wollte so erfolgreich werden wie ihr Vater es war, sie wollte ihm gefallen und ihr innigster Wunsch war es, dass er stolz auf sie war, doch als sie sich entschied zum FBI zu gehen, zerbrach etwas zwischen ihnen. Aus diesem Grund, den Scully nicht verstanden hatte, hatte ihr Vater es ihr nie verziehen, dass sie diese berufliche Richtung eingeschlagen hatte. Sie waren sich nie wieder so nahe gewesen wie vorher, und als er schließlich starb, waren so viele Dinge offen geblieben, die sie ihm noch hatte sagen wollen, die sie ihm hatte erklären wollen. Doch sie hatte nie den Mut aufgebracht, bis es schließlich zu spät gewesen war.

„Dana, du solltest nicht über so traurige Dinge nachdenken. Es ist schließlich Weihnachten", riss Charles sie aus ihren Gedanken. Er strahlte sie auf diese für ihn typische Weise an, die es Dana schon als Kind unmöglich gemacht hatte, sein Lächeln nicht zu erwidern.

„Na, komm wieder ins Wohnzimmer, große Schwester, ich will schließlich auch noch etwas von dir haben." Er legte seinen Arm um ihre Taille und sie gingen zusammen zurück ins Wohnzimmer.