VIER
Graceful Lady Fruchtbarkeitsklinik
Seattle, Washington
Donnerstag, 19.18 Uhr
Jetzt war es schon wieder geschehen. Zum zweiten Mal hatte man Dr. Lisa Ransome an einem Feiertag, den man eigentlich im engsten Familienkreis verbringen sollte, in die Klinik gerufen, weil ein vermeintlich wichtiger Zwischenfall ihre sofortige Anwesenheit erforderte. Am frühen Nachmittag war der Anruf gekommen – von Dr. Norfolk persönlich. Er hatte ihr auf unmissverständliche Weise klargemacht, dass sie ihren Job vergessen konnte, wenn sie nicht zu dem kurzfristig anberaumten Meeting erschien. Mehr hatte er ihr nicht gesagt, er schien es nicht einmal für nötig zu erachten, sie wenigstens im Ansatz darauf vorzubereiten, was auf sie zukam.
Lisa saß also in ihrem Büro und blätterte unaufhörlich in den Akten, die ungeordnet auf ihrem Schreibtisch lagen. Eigentlich wollte sie gar nicht hier sein, und erst recht nicht zu diesem Meeting gehen. Die Beweggründe dieser Ärzte erschienen ihr einfach falsch, und sie war nicht sicher, ob sie das noch länger mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Sicher, es war eine andere Zeit gewesen, die Situation war brenzlig gewesen und hatte so einiges gerechtfertigt, doch mittlerweile müssten sogar diese Idioten mitbekommen haben, dass sich so einiges verändert hatte.
Wenn sie heute darüber nachdachte, fragte sie sich häufig, wie es überhaupt so weit hatte kommen können. Wie war sie da nur rein geraten? Aber eigentlich traf sie gar keine Schuld, sie hatte am Anfang nicht geahnt, was da auf sie zukommen würde, nicht in ihren schrecklichsten Träumen hätte sie sich früher auch nur ausmalen können, dass es so etwas überhaupt gab, das irgend jemand auf die Idee kommen könnte sich ein derartiges Projekt ausdenken zu können. Es lag fern von den Dingen, die sich ein vernünftig denkender Mensch vorstellen konnte.
Lisa war jung gewesen, voller guter Absichten und hehrer Ziele, idealistisch – und sehr naiv. Deshalb dachte sie sich auch gar nichts dabei, als Doktor Richard Norfolk sie auf der Abschlussfeier nach der Überreichung des Diploms angesprochen hatte und ihr dieses verlockende Angebot unterbreitet hatte. Im ersten Augenblick war es ein wenig seltsam gewesen, einfach so angesprochen zu werden und dann auch noch ein derart reizvolles Angebot geliefert zu bekommen, aber dann hatte Lisa reagiert, wie viele Collegeabsolventen es getan hatten. Sie war von dem Gedanken, eine steile Karriere vor sich zu haben, berühmt zu werden und viel Geld zu verdienen, geblendet worden. Und es war ja auch nicht gerade so, als wäre der Job das Schlechteste, was ihr hätte passieren können. Sie arbeitete genau in dem medizinischen Bereich, in dem sie immer hatte tätig sein wollen. Schon in ihrer Abschlussarbeit am College hatte sie sich mit dem Thema der künstlichen Befruchtung, mit ihren Vor- und Nachteilen, den Risiken und Gefahren auseinandergesetzt. Da kam ihr dieses Angebot gerade recht.
Sie war so dumm gewesen. Heute dachte sie sich fast täglich, wie unüberlegt die schnelle Entscheidung für diesen Job gewesen war. Jeder vernünftige Mensch, der ein Stück weiter denken konnte als bis zur Nasenspitze, hätte selbst auf die Idee kommen können, dass da irgend etwas nicht stimmte, dass da irgend etwas faul war. Aber sie hatte man wirklich erst mit der Nase darauf stoßen müssen. Natürlich war es schon irgendwie verdächtig, dass sie nur mit einem bestimmten, äußerst geringen Anteil der Patientinnen in Kontakt kam. Für dieses Projekt hatten sie sogar ihre eigene, medizinische Abteilung, zu der man nur durch einen bestimmten, regelmäßig wechselnden Zahlencode Zutritt hatte. Und dann war da noch die Tatsache, dass sie die einzige neue Mitarbeiterin war, die innerhalb der letzten zehn Jahre eingestellt worden war. Heute konnte sie über ihre eigene Naivität eigentlich nur noch verständnislos den Kopf schütteln. Wenn sie darüber nachdachte, wie lange es gedauert hatte bis sie zum ersten Mal nach Antworten gefragt hatte, wurde ihr bewusst, wie leicht sie an der Nase herumzuführen war. Geschlagene zwei Jahre waren vergangen bis sie zum ersten Mal bei Dr. Norfolk auf der Matte gestanden hatte und die entscheidenden Fragen gestellt hatte.
Heute wünschte sie sich fast, sie hätte diese Fragen niemals gestellt. Es wäre so leicht gewesen, einfach weiter zu arbeiten ohne sich zu kümmern, ohne dieses verdammte, bohrende Gewissen. Aber nein, sie hatte sich einmischen müssen. Schön, Lisa war aufgrund ihres Wissens in der Kommandokette weiter nach oben gestiegen, ihr Jahreseinkommen hatte sich um eine Null vor dem Komma vermehrt, aber das alles war es wirklich nicht wert gewesen.
Könnte Lisa die Zeit zurückdrehen, hätte sie zweifellos einiges anders gemacht. Zum Beispiel würde sie keine Sekunde zögern und ihren Job kündigen, nachdem sie von dem wirklichen Ausmaß des Projektes erfahren hatte. Aber nur wenige Wochen nachdem Lisa die Dinge erfahren hatte, von denen sie heute am liebsten nie etwas gewusst hätte, war ihre Schwangerschaft festgestellt worden. Also war sie wohl oder übel geblieben, denn sie und David brauchten das Geld, und wer würde schon eine junge Frau einstellen, die schwanger war und in der nächsten Zeit häufiger ausfallen würde? Mit dem Wissen, das sie heute hatte, wäre sie nie in der Graceful Lady Klinik geblieben. Denn kaum war Sam geboren, hatten Dr. Norfolk und seine Hintermänner auch endlich ein Druckmittel, um ihr Schweigen zu garantieren.
Lisa ließ die Akten sinken und stützte ihren Kopf in die Handflächen. Wozu diese Besprechung an Heiligabend? Sie wollte viel lieber zu Hause sein und mit ihrer Familie zusammen Weihnachten feiern. Einen Moment dachte sie an David und daran, wie viel er schon hatte in Kauf nehmen müssen, wie oft er sie ihres Jobs zuliebe hatte entbehren müssen... und wie oft sie ihn wegen dieses wahnsinnigen Projektes hatte belügen müssen. Geheimhaltungsstufe Eins, Top Secret und so weiter.
Lisa zuckte heftig zusammen, als sie eine schwere Tür zufallen hörte. Sie sah auf und stellte fest, dass Dr. Norfolk ihr Büro betreten hatte und jetzt vor ihrem Schreibtisch stand.
„Oh, Dr. Norfolk!" Lisa setzte sich aufrecht hin und fuhr sich mit der linken Hand einmal über das Haar, um zu testen, ob ihre Frisur wenigstens noch einigermaßen saß.
„Schön, dass Sie sich auch endlich zu uns gesellen können, Dr. Ransome! Ich hatte schon gedacht, Sie kommen gar nicht mehr, bei Ihnen kann man ja nie sicher sein."
Lisa musste erst einmal tief Luft holen, um sich von der kurzen, aber wirkungsvollen Tirade zu erholen. Doch auch jetzt, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, wusste sie nicht genau, was sie darauf erwidern sollte, ohne sich noch mehr Ärger einzuhandeln. Also beschloss sie, seinen Anflug von oberlehrerhafter Arroganz einfach zu ignorieren. Stattdessen wandte sie sich dem eigentlichen Thema zu. Schließlich war sie an Heiligabend nicht wie ein geölter Blitz zur Arbeit gefahren, nur um sich eine Gardinenpredigt abzuholen, sondern um produktiver Arbeit zu leisten.
„Entschuldigen Sie bitte, Dr. Norfolk, aber ich musste meinen Schwiegereltern erklären, warum ich an Heiligabend plötzlich zur Arbeit muss. Doch jetzt bin ich ja da."
Sie stand auf und ging um ihren Schreibtisch herum, um Doktor Norfolk direkt ansehen zu können.
„Also, warum bin ich hier?"
Dr. Norfolk sah ihr mit seinen kalten grauen Augen direkt ins Gesicht.
„Wir haben die Spur von einem Exemplar des ‚Glorious Future 126' Projektes."
Es dauerte einige Augenblicke bis Lisa das ganze Ausmaß dieses Satzes voll begriffen hatte. Sofort beugte sie sich über die Akte, die Dr. Norfolk auf ihren Tisch gelegt hatte. Die Gedanken an ihre Familie waren wie weggeblasen, und sie konzentrierte sich nur noch auf die Ausführungen, die sie zu lesen begann. Es war eine Zeitungsnotiz der New York Times, die von dem grauenerregenden Mord an einer jungen Frau in dem Craving-Building handelte. In dem Artikel hieß es, die Leiche sei wie ein Tier ausgeschlachtet worden, und dann in einem Keller abgelegt worden. Lisa zwang sich weiter zu lesen. Das Opfer war gerade frisch verheiratet, hatte eine viel versprechende Karriere vor sich und war außerdem noch schwanger gewesen. Der Mörder, über den man noch nichts Konkretes in Erfahrung gebracht hatte, wurde als gefährliche, bösartige Bestie charakterisiert.
„Ich wusste gar nicht, dass ‚Glorious Future' - Kinder zeugungsfähig sind", meinte Lisa, nachdem sie den Artikel zu Ende gelesen hatte, und sich mit Grauen in den Augen ihrem Vorgesetzten zuwandte. Dieser machte nur ein nachdenkliches Gesicht und schien sich zu fragen, wie er nur so eine Frau hatte einstellen können.
Lisa spürte, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Deshalb fing sie noch einmal an, den Artikel zu überfliegen. Ungefähr nach der Hälfte blickte sie Dr. Norfolk überrascht an.
„Sie war ja erst vierundzwanzig!" verwirrt flog ihr Blick noch einmal zu dem Foto, das von der lebenden Sandra McAllister neben dem Artikel zu sehen war und wieder zu Dr. Norfolk zurück.
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Kommentare und Anregungen werde gerne entgegen genommen :) N.Snape
