A/N: Dieses ist das letzte von drei Kapiteln, die ich heute hochgeladen habe.
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SECHS
Contentment Inn
Staten Island, New York
Freitag, 18.12 Uhr
Es war zum Verzweifeln! Eine Metropole wie New York, mit 8,37 Millionen Einwohnern, zehntausend Motels, und kein einziges von ihnen hatte zwei freie Zimmer. Eigentlich waren gar keine Zimmer mehr frei. Mulder hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als er in Staten Island an dieser gemütlichen, kleinen Pension mit dem Schild „Zimmer frei" vorbeigefahren war. Seine Suche nach einer Unterkunft hatte schon länger gedauert, als er es für möglich gehalten hatte, und er war sicher, Scully war schon seit Stunden fertig, so dass sie es kaum erwarten konnte, ihre Ergebnisse in ihren Laptop einzugeben.
Er war überrascht, wie gemütlich die kleine Pension von innen aussah. Abigail Morten, die Besitzerin, war eine kleine stämmige Person, die auf die siebzig zuging. Sie trug ihre langen, grauen Haare stets zu einem Knoten im Nacken zusammengefasst, um ihren Hals hing an einer goldenen Kette eine dicke Lesebrille, und wenn sie jemanden erblickte, erschien auf ihrem freundlichen Gesicht ein strahlendes Lächeln.
Nachdem ihr Mann vor sechs Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte sie ihre fünf Jahre jüngere Schwester Martha gebeten, zu ihr zu ziehen, weil sie meinte in New York allein nicht klarzukommen. Da Martha allein lebte, war sie ohne Zögern auf den Vorschlag ihrer Schwester eingegangen. In Kansas hatte sie sich noch nie wohl gefühlt, die Leute waren aus irgend einem Grund immer der Ansicht gewesen, dass eine alte Frau, die ihr Leben lang allein lebte und auch so gut wie nie das Haus verließ, wenn man mal von Gartenarbeit und den allwöchentlichen Einkäufe absah, nicht ganz normal sein konnte. Ihre einzige Freundin Ruth war von deren Tochter schon vor Jahren nach Los Angeles in ein Altersheim gebracht worden, in dem sie ihr Leben jetzt tagein tagaus mit dummen Kartenspielen und Bingo verbrachte, obwohl sie geistig noch völlig rege war.
Mit einem herzlichen Lächeln ging die alte Dame um die Rezeption herum auf Mulder zu, ergriff die ihr dargebotene Hand mit ihren beiden und begrüßte ihn als sei er ein alter Freund, der nach langen Jahren endlich mal wieder zu Besuch war.
Sie führte ihn in ein großes, rustikales, anheimelnd wirkendes Wohnzimmer, wo sie sich beide setzten.
„Sie suchen doch bestimmt ein Zimmer für sich und ihre junge Frau! Ich habe da ein besonders hübsches Zimmer für Flitterwöchner, und ich bin sicher, dass Sie beide sich dort sehr wohl fühlen werden", begann sie überschwänglich.
Mulder musste an sich halten, um nicht loszulachen. „Mrs. Morten, eigentlich bin ich auf der Suche nach zwei Einzelzimmern. Meine Partnerin und ich sind vom FBI und leiten eine Untersuchung. Wir werden wohl einige Tage bleiben."
„Oh, ich verstehe." Sie stand auf, um ihr Gästebuch zu holen, und nachzusehen, was sie ihm anbieten konnte. „Sie haben Glück, Mr. Mulder, ich hätte hier zwei nebeneinander liegende Einzelzimmer mit Verbindungstür. Allerdings liegen sie im zweiten Stock. Wollen Sie sie sehen?"
„Das wird nicht nötig sein, wir nehmen die Zimmer."
Er war schon aufgestanden, um die Koffer aus dem Mietwagen zu holen, doch Mrs. Morten redete weiter. „Im Preis mitinbegriffen ist auch ein Frühstück, das von sieben bis zehn gleich dort in dem Zimmer am Ende des Ganges serviert wird."
„Vielen Dank, Mrs. Morten. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich muss noch einmal weg, um meine Partnerin abzuholen, also falls noch irgendwelche Formalitäten zu erledigen sind, würde ich das gerne heute Abend machen, wenn wir zurück sind."
Sie standen auf und die alte Dame zeigte Mulder den Weg zu den Zimmern, nachdem er die Koffer aus dem Auto geholt hatte. Dann nahm er die Zimmerschlüssel entgegen, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg, um Scully abzuholen.
Der Verkehr war, wie nach diesem Tag eigentlich nicht anders zu erwarten, mörderisch. Mulder versuchte krampfhaft mit den hiesigen Taxifahrern mitzuhalten, aber schon nach wenigen Minuten musste er zugeben, dass selbst er mit dieser Fahrweise nicht konkurrieren konnte. Als er dann schließlich, vier Stunden nachdem er Scully bei der Gerichtsmedizin abgesetzt hatte, dort ankam, fand er seine Partnerin in ein Gespräch mit dem New Yorker Gerichtsmediziner vertieft vor.
Er konnte schon von weitem erkennen, dass sie von ihrem Gesprächspartner nicht besonders angetan war. Sie schien sich nur mit Mühe zurückhalten zu können, den Pathologen nicht allein dort stehen zu lassen, um draußen in der Kälte auf Mulders Erscheinen zu warten. Als sie ihren Partner dann endlich erblickte, schenkte sie ihm ein dankbares Lächeln.
„Mulder, darf ich Ihnen Dr. Weaver vorstellen. Dr. Weaver, das ist mein Partner, Special Agent Mulder."
Die beiden Männer gaben sich schweigend die Hand.
„Ich glaube, wir können dann gehen, Mulder", sagte Scully, und ohne eine Antwort abzuwarten wandte sie sich zum Gehen.
„Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Agent Scully! Ich hoffe, wir können uns noch mal unterhalten, bevor Sie abreisen." Er nickte in Mulders Richtung und ging ebenfalls.
„Scheint ja ein geselliger Kerl zu sein, haben Sie sich auch mit ihm angefreundet?" Er versuchte zu scherzen, was ihm gründlich misslang, wie er aus Scullys Miene ersehen konnte.
„Der Kerl ist ein Idiot. Ich musste mir mindestens drei Stunden sein Fachsimpeln anhören, obwohl er in Wirklichkeit absolut keine Ahnung hat, wovon er überhaupt redet. Er hat bei der Auswertung der Blutprobe von Sandra McAllister sogar Progesteron mit Östrogen verwechselt. Wo sind Sie überhaupt so lange gewesen? Das kann ja wohl nicht so schwer gewesen sein, eine Unterkunft zu finden."
Er öffnete die Beifahrertür und ließ Scully einsteigen, dann schlug er die Tür wieder zu, um sich auf den Fahrersitz des Leihwagens zu setzen.
„Sie machen sich ja gar keine Vorstellung davon, wie schwer es ist am ersten Weihnachtsfeiertag eine Unterkunft in New York zu suchen", klagte er. „Ich bin stundenlang durch die Stadt gefahren, um mir von einem Vermieter nach dem anderen eine Abfuhr erteilen zu lassen."
„Haben Sie wenigstens eine vernünftige Frühstückspension finden können, wenn ich mich schon wegen Ihnen zehn Stunden mit diesem Lackaffen unterhalten musste!"
„Sie scheinen heute leicht zu Übertreibungen zu neigen. Wie dem auch sei, ich habe eine sehr nette kleine Pension mit einer süßen Wirtin ausfindig machen können."
„Jetzt wird mir langsam klar, warum Sie so lange weg waren. Diese Wirtin ist nicht zufällig blond und vollbusig!"
„Eigentlich hat sie mich mehr an meine Großmutter erinnert", meinte er mit einem Lächeln in ihre Richtung. „Was halten Sie davon, wenn wir jetzt erstmal was essen gehen? Ich bin auf dem Weg hier her an ein paar sehr netten Restaurants vorbeigekommen."
„Gute Idee, ich habe zwar keinen besonderen Hunger, aber eine Kleinigkeit könnte ich..." Der Rest des Satzes ging in einem Hustenanfall unter.
Das kleine italienische Restaurant lag in einer Nebenstraße der Fifth Avenue. Es war ein niedriges Gebäude, das von außen nicht den Eindruck eines überteuerten Lokals machte, doch als sie sich im Innern befanden, wurden sie eines besseren belehrt. Der Duft von italienischen Küchenkräutern und schwerem Wein lag spürbar in der Luft. Der Speisesaal war derart verwinkelt, dass man die eigentlichen Ausmaße nur erahnen konnte. Um diese Uhrzeit saßen noch nicht sehr viele Gäste an den Tischen, so dass Scully und Mulder sich einen Tisch aussuchen konnten. Die Speisenkarte wurde von einem kleinen, dunkelhaarigen Italiener gebracht, der sie auch gleich auf die Angebote der Woche hinwies, und ihre Getränkebestellung aufnahm.
„Was haben Sie denn bei der Untersuchung sonst noch herausgefunden, außer dass der Pathologe ein Idiot ist?"
„Tja, es gibt eine ebenso schreckliche, wie aufschlussreiche Tatsache, die einiges Licht ins Dunkel bringen wird." Sie machte eine Pause, als der Kellner mit den Getränken kam, ihre sonstige Bestellung notierte, und sich damit auf dem Weg in die Küche machte. Scully nippte an ihrem Wasser, während Mulder sie gespannt beobachtete. Aber sie fuhr nicht fort.
„Was denn für eine Tatsache?" hakte er schließlich nach.
„Sie war schwanger."
„Was?" Er starrte sie entsetzt an.
„Bei der Untersuchung der Gebärmutter ist uns aufgefallen, dass Sandra McAllister im dritten Monat schwanger war. Der Fötus ist anscheinend beim Herausreißen des Uterus zerquetscht worden."
„Meinen Sie etwa, dass der Mörder die Gebärmutter wegen des Kindes mitgenommen hat?" Fassungslosigkeit machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass ihre Schwangerschaft der einzige Grund für den Täter gewesen sein könnte, ausgerechnet sie zu wählen."
„Warum hat er dann ihrer Meinung nach das Gesicht der Frau so furchtbar entstellt?"
„Vielleicht war der Täter ja weiblich und eifersüchtig auf Sandra McAllister."
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau die Kraft für so einen Gewaltakt aufbringen kann, auch wenn sie noch so eifersüchtig ist. Für mich ist es eher wahrscheinlich, dass der Mörder versucht hat, das Opfer zu vergewaltigen, es ihm doch auf Grund seiner Impotenz nicht möglich war. Als sie sich dann gewehrt hat, verlor er die Geduld und hat auf sie eingeschlagen wie ein Wahnsinniger."
Der Kellner brachte für Mulder ein großes Steak mit Pommes Frites, und für Scully eine frische Tomatensuppe mit ofenfrischem Baguette.
„Hat die Untersuchung des Fußabdrucks etwas gebracht?" fragte Mulder zwischen zwei Bissen.
„Nun, der Fußabdruck sah tatsächlich nicht besonders menschlich aus, aber in dem geronnenen Blut auf dem Boden haben wir menschliches Zellmaterial gefunden, das nicht mit dem des Opfers übereinstimmt. Außerdem haben wir noch Haarfasern vom Täter am Leichnam von Sandra McAllister und am Tatort gefunden. Dr. Weaver hat sie für mich ins Labor gebracht. Die Ergebnisse der Untersuchungen erwarte ich morgen früh. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass wir diesmal einer bösartigen tierischen Bestie begegnen. Tut mir leid für Sie, Mulder." Scully tauchte ihren Löffel noch einmal in die Suppe und biss erneut von dem köstlichen Brot ab, legte dann aber den Löffel weg, weil ihr der Appetit vergangen war. Sie hätte wirklich nichts mehr essen sollen. Das einzige, was sie jetzt wollte, war ein warmes Bett.
Der Rest der Mahlzeit verlief schweigend, wenn man mal von Mulders überflüssigem Kommentar bezüglich ihrer Appetitlosigkeit absah. Nach einer halben Stunde konnte Scully die Augen kaum noch offen halten, und er musste kein Genie sein, um zu erkennen war, dass sie sich an diesem Abend nicht wohl fühlte.
Auf dem Weg zur Pension döste sie schon auf dem Beifahrersitz ein, und Mulder vermied hektische Bewegungen, um sie nicht zu wecken. Als sie dann am Contentment Inn ankamen, schlief Scully schon fest. Sie war in dem Sitz ein wenig herunter gerutscht, und ihr Kopf war zur Seite geneigt, so dass ihr eine Strähne ihres roten Haares ins Gesicht gefallen war. Er bemerkte, dass ihre Wangen leicht gerötet waren, sie musste wohl Fieber haben. Sofort wurden Gewissensbisse in ihm laut, weil er sie so überstürzt nach New York geschleppt hatte, obwohl es ihr offensichtlich nicht gut ging. Vorsichtig beugte er sich zu ihr hinüber, um sie zu wecken.
„Kommen Sie, Scully, Ihr Bett ist nur noch wenige Meter entfernt, und dann können Sie sich richtig ausstrecken."
Schläfrig richtete sie sich auf und musste einen Moment überlegen, wo sie sich befand, und warum Mulder da war. Es dauerte aber nur eine Sekunde, bis ihr der Mord und die Autopsie mit Dr. Weaver wieder einfielen. Noch ein bisschen benommen stieg sie aus dem Wagen und folgte Mulder in die kleine Pension, die für sie im Augenblick nur interessant war, weil darin ein Bett für sie bereit stand.
Nachdem Mulder die Tür aufgeschlossen hatte, kam sofort Mrs. Morten auf die Agenten zu um Scully zu begrüßen.
„Guten Abend, Mr Mulder, Ms . . ."
„Oh, das ist meine Partnerin Dana Scully", stellte Mulder sie vor, da sie scheinbar nicht mitbekommen hatte, dass Abby Morten sie angesprochen hatte und ihr die Hand gereicht hatte. „Sie ist erkältet." Er wollte eigentlich noch sagen, dass sie sich deswegen schnell in ihre Zimmer zurückziehen wollten, doch Abby kam ihm zuvor.
„Oh Gott, das arme Kind. Wissen Sie was, Sie setzen sich jetzt ins Wohnzimmer, und ich mache Ihnen eine gute Tasse heißen Tee."
Mulder wollte schon Einspruch erheben, aber Abby war schon in der Küche. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als Scully vorsichtig ins Wohnzimmer zu bugsieren, ihr den Mantel abzunehmen und sie sanft auf das Sofa zu setzen.
„Mulder, ich will jetzt wirklich ins Bett." Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und ließ sich von Mulder ihren Zimmerschlüssel geben.
Mühsam stieg sie die Treppe in den zweiten Stock hinauf, schloss die Tür auf und ließ sich so wie sie war auf das große Bett fallen.
In dieser Position fand Mulder seine Partnerin auch noch vor, als er zehn Minuten später leise an ihre Tür klopfte und ohne auf eine Antwort zu warten eintrat, um ihr den Tee zu bringen. Lächelnd stellte er die Tasse auf ihren Nachttisch, zog ihr ihre Schuhe aus und verließ das Zimmer durch die Verbindungstür.
