Sie hatte ihn geduzt. Hatte gewusst, welche Narben neu, welche alt waren. Und da waren Bruchstücke. Erinnerungen, die sie nicht zuordnen konnte.

- „Ich will nicht, dass du es tust!"

„Es liegt nicht in meiner Macht, darüber zu entscheiden."

Verzweifelung. Trauer.

Leises Summen. Und dann wieder dieses Lied.

„Willst du ja sagen, sag ja. Und willst du nein sagen, sag nein. Es gibt Millionen Möglichkeiten. Du weißt, dass sie da sind." –

Sie war gegangen. Hatte den Tag damit verbracht zu vergessen und gleichzeitig die Erinnerung zu suchen. Die Erinnerung an diese Träume, diese Bruchstücken, die so keinen Sinn ergaben. Aber sie konnte die einzelnen Teile nicht zusammenfügen. Es fehlte der Faden, der sie alle zusammen hielt.

Am Abend hatte Hermine Kopfschmerzen vom vielen Nachdenken und sie beschloss zeitig ins Bett zu gehen.

Die Nacht war traumlos und die merkwürdige Leere, die Hermine am nächsten Morgen befiel wog schwer. Sie würde Snape am späten Nachmittag bitten müssen, in ihr Zimmer zu kommen, um damit den Aufräumarbeiten ihres Vaters zu entgehen, aber ihr war nicht wohl bei der Sache. Sie scheute seine Nähe. Hatte Angst vor der Zuneigung, die sie für den mürrischen, dunklen Professor empfand. Als die Uhr auf 16.14 Uhr sprang stand Hermine von ihrem Schreibtisch auf und stapfte widerwillig in den Keller.

Er war schlecht gelaunt, hatte den ganzen Tag nicht zu Essen bekommen, sodass Hermine ihm erstmal aus der Küche zwei Brötchen holen musste, bevor er sie in seinem Reich Platz nehmen ließ.

„Ich muss Sie in mein Zimmer bringen. Mein Vater will den Keller aufräumen."

Er blickte von seinem Brötchen auf und musterte sie mit hochgezogener Augenbraue.

„Haben sie dort oben Pergament und Tinte für mich?"

Sie musste bei der Vorstellung schmunzeln, dass Snape mit einem Kugelschreiber vermutlich nicht viel anfangen konnte.

„Natürlich, Sir."

Er machte einen Schritt in ihr Zimmer, sah sich die Bücherregale und den Schreibtisch an und ging eilig zum Fenster. Mit einer schnellen Bewegung hatte er die Vorhänge zugezogen und setzte sich nun an Hermines Schreibtisch.

„Warum muss es hier drin so dunkel sein, Sir?"

„Soll man mich etwa sehen? Dann haben Sie innerhalb kürzester Zeit das halbe Ministerium vor der Haustür stehen, Miss Granger."

Sie setzte sich auf ihr Bett – der einzige noch freie Platz im Raum – und beobachtete, wie er nach ihrem Schulfüller griff, um eilig ein paar Dinge zu notieren. Sie wagte nicht zu fragen, was er schrieb und so saßen sie schweigend da, bis Hermine von ihrer Mutter zum Abendessen gerufen wurde.

Ihr Vater rumorte immer noch im Keller und Hermine sah ihre Mutter forschend an.

„Du weißt doch, wie er ist. Er hat die gesamten Kartons auf dem Boden verteilt und wird bis mitten in der Nacht dort unten sitzen."

Hermine stöhnte innerlich laut auf, bei dem Gedanke, die Nacht mit Snape im gleichen Zimmer zu verbringen. Sie ließ sich mit dem Abendessen Zeit, beschloss aber, ihm etwas von dem Schweinesteak und den Kartoffeln mitzunehmen. Ein hungriger Snape war noch unausstehlicher, als sonst.

Er drehte sich nicht einmal um, als sie wieder ins Zimmer kam und nachdem er gegessen hatte, schrieb er weiter. Irgendwann hielt Hermine die Stille nicht mehr aus.

„Was schreiben Sie da, Sir?"

„Rezepte."

Wieder folgte lange Zeit kein Wort. Hermine blickte gähnen auf die Uhr. 23.20 Uhr.

„Sie sollten ins Bett gehen", stellte er trocken fest.

„Aber, Sir, ich..."

„Na schön."

Er löschte die Schreibtischlampe, schnappte sich seine Decke und legte sich auf den Teppich neben ihrem Bett. Im Halbdunkel der runtergelassenen Rollläden konnte Hermine seine bleiche Silhouette erkennen. Erst nachdem sie eine Weile seinen Regelmäßigen Atemzügen gelauscht hatte, fiel die Angst von ihr ab, ihn anzusprechen.

„Ich weiß nicht, was das mit Ihnen zu tun hat, Sir. Aber ich erinnere mich an ein Lied aus meiner Kindheit. Es taucht in meinen Träumen auf und es scheint irgendwie in Verbindung mit Ihnen zu stehen."

Er antwortete nicht.

„Wenn du singen willst, dann sing. Wenn du frei sein willst sei frei. Es gibt Millionen Möglichkeiten, die du leben kannst. Du weißt, dass es sie gibt."

Stille.

„Wenn du glücklich sein willst, sei glücklich. Wenn du traurig sein willst, sei traurig. Es gibt Millionen Wege, die du gehen kannst. Du weißt das es sie gibt."

Hermine schien es, als ginge Snapes Atem flacher. Sie sah zu ihm rüber. Die Dunkelheit verbarg seine Gesichtszüge. Er lag auf dem Rücken, starrte die Decke an. Und Hermine war es, als liefe eine einzelne Träne über seine Wange.