Charlotte lag im Bett und starrte an die Decke. Eigentlich war sie todmüde, doch die Ereignisse des Tages waren so aufregend gewesen, dass sie einfach nicht einschlafen konnte. Sie hatte zuviel Neues erfahren, zu viele Sachen aus der Vergangenheit, von denen sie vorher nichts gewusst hatte. Und vor allem hatte sie endlich Menschen getroffen, die sich noch sehr gut an ihre Mutter erinnerten. Ihr Vater hatte ihr nie viel über sie erzählt. Ihr Vater! Der hatte ihr ja auch nicht erzählt, dass sie Verwandte in Südaustralien hatte.

In Gedanken spielte sie noch einmal den Verlauf des Abends ab. Nachdem Jodi und Alex sich wieder einigermaßen gefangen hatten, waren sie auf die Veranda gegangen, wo grade ein BBQ in vollem Gang war. Mehre Personen saßen gemütlich da, lachten und aßen Steaks. Da Alex immer noch sprachlos war und sie einfach nur anschaute, hatte Jodi sie den anderen vorgestellt.

„Hey, das ist Charlotte. Charlotte Mcleod!" Stille. Damit hatte offensichtlich keiner gerechnet. Charlotte hoffte inständig sie seien positiv überrascht. Eine älter Frau mit kurzen blonden Haaren fing sich als erste: „Nicht zu glauben!" Und dann umarmte sie Charlotte herzlich. „Die kleine Mebsi ist ganz schön groß geworden!" Mebsi? Da hatte sie vorhin nicht weiter drauf geachtet. Doch was bitte sollte das bedeuten? Nun fingen auf einmal alle an gleichzeitig zu reden.

„Sie hat sich ganz schön verändert"

„Wie lange ist das jetzt her? 14,15 Jahre?"

„Damit hätte ich jetzt überhaupt nicht gerechnet!"

„Gut siehst du aus" „Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, trug sie einen rosa Pullover mit Cinderella drauf"

Offensichtlich kannte sie hier jeder. Leider hatte sie keinen blassen Schimmer, wen sie da vor sich hatte.

Die Frau, die sie umarmt hatte, merkte wohl, wie verloren sie sich gefühlt hatte: „Schluss jetzt. Lasst sie sich doch erstmal hinsetzen. Hast du Hunger?"

Jodi drückte sie kurzerhand in einen Stuhl und von irgendwoher bekam sie einen vollen Teller und ein Glas vorgesetzt. Obwohl sie eigentlich keinen Hunger gehabt hatte, war sie froh erstmal nicht auf die vielen Fragen antworten zu müssen. Außerdem waren die Steaks und der Salat sehr lecker gewesen.

Während sie aß, redete die Gesellschaft munter weiter. Nach und nach lernte sie alle kennen und bemühte sich die Verwandtschaftsverhältnisse zu verstehen. Und das war wirklich kompliziert.

Da war zuerst einmal Jodi, ihre Tante. Die Frau mit den kurzen blonden Haaren war Jodis Mutter Meg. Mit ihr war Charlotte allerdings nicht verwandt, da Jodi eine Halbschwester ihrer Mutter war. Jodi war mit Rob verheiratet und hatte eine kleine Tochter, Rebecca. Außerdem hatte sie wohl noch eine Tante, einen Onkel und Cousin und Cousine, die in Argentinien lebten. Dave und Kate lebten auf der Nachbarfarm Wilgul. Mit ihnen war sie anscheinend nicht verwandt, aber sie schienen gute Freunde von Jodi zu sein. Alex Ryan war ihr Patenonkel. Außerdem war sein Bruder mit ihrer Tante in Argentinien verheiratet, oder so ähnlich. Alex und seine Frau Stevie wohnten auf Killarney, einer weiteren Nachbarfarm. Allerdings hatte Alex während des ganzen Abends nicht viel mit ihr gesprochen. Ganz im Gegensatz zu Jodi, die ihr alles Mögliche über die Farm und das Leben in Gungellan erzählt hatte.

Das sie auf Drover's Run übernachten würde, schien gar keine Frage zu sein. Lachend hatte Jodi ihr ihr altes Kinderzimmer gezeigt, im Moment Rebeccas Reich, bevor sie sie im Gästezimmer unterbrachte. Charlotte hatte sich in dem großen Haus direkt geborgen gefühlt und neugierig die vielen Fotos an den Wänden betrachtet. Hier gab es eine Menge über die Vergangenheit zu erfahren. Eigentlich ist es gar nicht so schlecht gelaufen, dachte sie, kurz vor dem einschlafen.

Ein Stockwerk tiefer saß Jodi im Arbeitszimmer und dachte nach. Charlotte war wieder da. Warum war ihr allerdings nicht ganz klar. Charlotte hatte erzählt, dass ihre Familie vor langer Zeit in die USA gezogen war, wo ihr Vater als Pferdetrainer arbeitete. Jetzt nach ihrem Schulabschluss hatte sie erfahren, dass ihre Familie in Australien lebte und wollte sie kennen lernen. Was bitte sollte das heißen? Hatte Peter ihr das etwa all die Jahre verschwiegen? Das wäre allerdings typisch gewesen! Egal, früher oder später würde sie es herausfinden.

Rob erschien in der Tür. „Komm ins Bett Jodi. Es ist spät" „Ja, ich komme gleich. Aber vorher muss ich noch was erledigen." Rob grinste: „Grüß Tess von mir" Nach einem kurzen Blick zur Uhr, griff Jodi nach dem Telefon und wählte. Tausende Meilen weit weg klingelte ein Telefon und wurde abgehoben. „Hey Tess. Du errätst nicht, wer heute vor unserer Tür stand…."

Während der gesamten Rückfahrt nach Killarney hatte Alex still vor sich hin gegrübelt. 15 Jahre lang hatte er Charlotte nicht mehr gesehen. Seine kleine Mebsi war eine junge Frau. Was sie wohl für eine Person geworden war? Eigentlich hatte er immer gedacht, oder gehofft viel eher, dass sie Claire mal sehr ähnlich sein würden. Rein äußerlich war die Ähnlichkeit zwar schon zu erkennen, doch ansonsten? Was waren Charlottes Wünsche, Hoffnungen, Träume? Mochte sie Pferde? Konnte sie reiten? Er hatte keine Ahnung. Dabei hatte er versprochen auf Charlotte immer aufzupassen. Ihr halbes Leben hatte er allerdings schon verpasst.

„Was denkst du?" Stevies Stimme durchbrach die Stille.

„Charlotte, sie ist so groß geworden."

„Ja, sie hat sich wirklich verändert" Stevie wusste, dass dies nicht das Einzigste war, das Alex bedrückte. Doch sie wollte ihn auch nicht drängen. Sie wusste wie viel ihm an Charlotte lag und wie schwer es für ihn gewesen war, als sie damals weggegangen war. Daher wartete sie einfach ab.

„Was denkt sie wohl über mich? Ich frage mich, was Peter ihr erzählt hat"

A ha. „Schwer zu sagen. Aber sie ist zurückgekommen. Um uns kennen zu lernen. Also kann er ihr nichts besonders Schlimmes erzählt haben"

„15 Jahre Stevie! 15 Jahre haben wir nichts, gar nichts von ihr gehört. Das ist eine verdammt lange Zeit. Dieser blöde Idiot!" Peter dieser Lackaffe. Alex hatte ihn nie gemocht und im Moment hatte er große Lust ihm eine runter zu hauen.

„Wie auch immer. Charlotte scheint das nicht weiter beeindruckt zu haben. Sie ist aus Amerika den ganzen Weg hierher gekommen, um ihre Familie zu besuchen. Das zeigt doch, das es ihr wichtig ist."

„Trotzdem. Egal was damals passiert ist, Peter hatte kein Recht sie von uns fern zu halten."

Tja, dachte Stevie bedauernd, leider schon.