Als Charlotte am nächsten morgen in die Küche kam, traf sie dort nur Meg. Diese werkelte geschäftig mit verschiedenen Schüsseln und anderen Küchengeräten. Es duftete köstlich nach Kuchen. Sobald Meg Charlotte erblickt hatte, strahlte sie und räumte einen Platz auf dem Tisch frei.

„Morgen!", sagte sie fröhlich. „Setz dich, du hast sicher Hunger. Die anderen sind alle schon draußen beim Viehtreiben, aber du kannst dir ruhig Zeit lassen. Hast du schon eine Idee, was du heute gerne unternehmen würdest?"

„ Ach ja", fügte sie dann hinzu, „also wir haben Kaffee, Saft, Toast, Eier und Kartoffelsalat von gestern. Obwohl, den würde ich dir nicht mehr empfehlen!"

„Kaffee und Toast wären super." Charlotte setzte sich und schaute aufmerksam durch den Raum. Gestern Abend war sie zu aufgeregt und müde gewesen, um viel von ihrer Umgebung zu registrieren.

Meg stellte einen Teller und einen Becher Kaffee vor sie. Während Charlotte aß, erzählte sie weiter.

„Der Kuchen ist erst für heute Nachmittag. Ich dachte zur Feier des Tages können wir alle zusammen Kaffee trinken. Vorausgesetzt natürlich, die Rinder sind bis dahin auf der richtigen Weide. Das ist Schokoladenkuchen, extra für dich. Du kannst dich wahrscheinlich nicht mehr daran erinnern, aber an deinem ersten Geburtstag hat Tess so einen Zucchini-Karotten Kuchen für dich gebacken. Aber zur Party hat jemand Schokokekse mitgebracht und seitdem…"

„Ich hab meinen ersten Geburtstag hier gefeiert?", unterbrach Charlotte sie.

„Ja, Tess hat eine Party veranstaltet und alle Kinder aus der Gegend eingeladen. Dein Vater und deine Schwestern waren auch da."

„Das wusste ich gar nicht. Mein Vater hat erzählt meine Mutter sei kurz nach meiner Geburt gestorben und seitdem würde ich bei ihm leben. Ich kann mich auch nicht an Drover's Run erinnern"

„Na ja, im Grunde stimmt das ja auch."

In diesem Moment ertönten Schritte im Flur und kurz darauf betrat Alex die Küche.

„Morgen Meg. Hallo Charlotte. Na, gut geschlafen? Hat Meg dich zum Küchendienst beordert?"

„Wo du schon mal da bist, könntest du helfen den Grill und die Bierflaschen von der Veranda zu räumen", war Megs Entgegnung.

„Ja, ja, mach ich später. Jetzt wollte ich erstmal Charlotte was fragen."

„Klar, was denn?", erkundigte Charlotte sich neugierig.

„Kannst du reiten?"

Das war leicht zu beantworten. Ihr Vater war Pferdetrainer und Charlotte war quasi mit Pferden groß geworden. Und sie ritt leidenschaftlich gerne. „Sicher!"

„Gut, hättest du dann Lust mit deinem alten Patenonkel einen Ausritt zu machen? So würdest du auch gleich Drover's Run besser kennen lernen."

Und ob sie Lust hatte! Unsicher schaute Charlotte zu Meg. „Ist das in Ordnung?"

„Klar. Aber bleibt nicht zu lange weg und seit vorsichtig Alex!", rief Meg ihnen hinterher.

Doch Alex hatte sie schon begeistert aus der Küche, durch den Flur und aus dem Haus gezogen.

Kurze Zeit später saßen sie auf den Pferden und trabten weg vom Haus und über die Weiden. Der endlosen Weite entgegen. Charlotte saß auf Coco, einer lebhaften Schimmelstute von Drover's, die sie auf Anhieb gemocht hatte. Alex war mit dem Pferd nach Drover's gekommen und ritt auf Thunder, einem wunderschönen dunkelbraunen Wallach.

„Alles o.k. bei dir?", rief Alex ihr zu.

„Ja, alles Bestens. Coco ist fantastisch!"

„Dann mal los!", und damit galoppierte Alex an.

Während sie Seite an Seite durch die Landschaft galoppierten, beobachtete Alex seine Patentochter. Sie war wirklich eine gute Reiterin, dass konnte man deutlich sehen. Ihre Sitzhaltung war fast identisch mit der von Claire. Und auch ansonsten hatte Charlotte keinerlei Schwierigkeiten im Umgang mit den Pferden.

Mittlerweile hatten sie den Grenzzaun zu Killarney erreicht und hielten an.

Alex drehte sich im Sattel zu Charlotte herum. „So. Das ist Killarney, meine Farm!"

„Wow, sieht groß aus", Charlotte grinste. „Ihr habt sogar Kameras an den Zäunen?"

„Tja, für den Fall, dass das Fernsehprogramm mal nicht so spannend ist!"

„Thunder sieht fantastisch aus. Züchtest du auch Pferde oder ist Killarney nur eine Rinderfarm?" fragte Charlotte.

„Was heißt hier nur! Die Rinder von Killarney sind von höchster Qualität! Nein", beantwortete er dann ihre Frage, „eigentlich nicht. Thunder hab ich zwar selbst gezüchtet und ausgebildet, aber unser Hauptgeschäft ist die Rinder- und Schafzucht."

„Dad hat erzählt, dass meine Mutter Pferde gezüchtet hat."

Dad! Damit war dann wohl Peter der Idiot gemeint. Innerlich überlegte er sich allerhand äußerst unfreundliche Bezeichnungen für ihn.

„Ja das stimmt. Claire war die beste Pferdetrainerin der ganzen Gegend. Wir haben eine Weile zusammengearbeitet."

„Wirklich?"

„Claire konnte großartig mit Pferden umgehen. Es war immer ihr Traum auf Drover's Run ein Gestüt aufzubauen. Sie hat ihr ganzes Leben lang mit Pferden gearbeitet."

„Oh", meinte Charlotte erfreut. „Dann hab ich meine Liebe zu Pferden wohl auch von ihr geerbt. Dad meinte ich hab schon auf einem Pferd gesessen bevor ich richtig laufen konnte."

Alex hatte auf einmal Lust den Zaun kurz und klein zu schlagen. Allerdings hatte sie das, aber es hatte bestimmt nicht an Peter gelegen!

Auf Drover's betrat Jodi , durch den Geruch nach Kuchen angelockt, die Küche.

„Schokoladenkuchen. Super!" Damit ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

„Der ist für heute Nachmittag" sagte Meg energisch und brachte den Kuchen schnell in Sicherheit.

„Sind die Rinder alle auf Little Regret? Wo sind die anderen?" erkundigte sie sich dann.

„Ja, alles erledigt. Also Rob ist nach Gungellan gefahren, um neuen Draht zu kaufen, Dave musste zu einem Patienten und Kate ist mit Rebecca und ihren Zwillingen nach Fisher gefahren. Wegen dem Meerschweinchen." Das letzte Meerschweinchen der Brewer Zwillinge war unter mysteriösen Umständen verschwunden. Hauptverdächtiger war allerdings der Kater. Heute wollte Kate mit den Kindern ein neues holen.

„Hey, wo ist eigentlich Charlotte?", fragte sie dann.

„Mit Alex ausgeritten. Sie scheint eine begeisterte Reiterin zu sein."

„Warum überrascht mich das jetzt nicht!"

Alex und Charlotte hatten sich wieder auf den Rückweg gemacht. Charlotte war von der Landschaft fasziniert. Und Alex war auch toll. Obwohl sie ihn noch nicht lange kannte, hatte sie schon beschlossen, dass er ein spitzenmäßiger Patenonkel war und sie gern mit ihm zusammen war. Er hatte ihr viel über seinen Bruder Nick und ihre Tante Tess erzählt, die in Argentinien eine Farm hatten. Als er ihr von der Sache mit dem Damm, den Tess in die Luft gesprengt hatte, berichtete, wäre sie vor Lachen fast vom Pferd gefallen. Allerdings konnte sie sich gut vorstellen, dass Tess es damals ganz und gar nicht komisch gefunden hatte.

„Ich würde sie gerne mal kennen lernen. Wer hat schon eine Tante, die Dämme in die Luft sprengt und nach Argentinien auswandert."

„Die Gelegenheit ergibt sich bestimmt bald. Tess war sehr traurig darüber mit dir keinerlei Kontakt mehr zu haben. Wenn sie hört, dass du hier bist, nimmt sie das nächste Flugzeug."

„Zum Glück hab ich diese Briefe gefunden!"

„Was für Briefe?"

„Ach egal, ich bin jedenfalls froh, das ich hier bin!"

In diesem Moment ritten sie an einem alten Stall vorbei. Alex hielt an.

„Weißt du was? Hier bist du geboren worden"

„Was? Hier?", einigermaßen entsetzt betrachtete Charlotte den baufälligen Stall. Das Dach war zur Hälfte eingestürzt und Türen und Fenster fehlten auch komplett.

„Ja. Und das obwohl Tess vorher eine Generalprobe der Fahrt zum Krankenhaus gemacht hat."

Charlotte stieg ab und lief um den Stall herum. Hier war sie also geboren worden. Irgendwie ein seltsames Gefühl. Wie es schien war sie ein echtes Farmkind! Dann kam ihr ein anderer Gedanke.

„ War sie ganz alleine? Ist meine Mutter deshalb gestorben?"

„Nein, Tess und ich waren dabei. Es ging zum Glück alles gut."

„Du warst bei meiner Geburt dabei?"

„Klar, deswegen bin ich der Patenonkel und von Tess hast du deinen Namen. Charlotte ist ihr Zweitname."

„Ach so. Dann kanntest du meine Mutter wohl ziemlich gut, oder?"

„Kann man so sagen." Claire war seine große Liebe, seine Seelenverwandte gewesen. Und obwohl er Stevie unglaublich liebte, war Claire untrennbar mit seiner Vergangenheit verbunden und würde immer ein Platz in seinem Herzen haben. Das gleiche galt auch für Charlotte und er hoffte sie würde eines Tages erfahre, wie viel sie ihm immer bedeutet hatte.

Das Klingeln des Telefons hallte durch den Flur von Drover's. Jodi lief von der Veranda, wo sie Papierkram erledigt hatte, ins Arbeitszimmer.

„Ich geh schon", rief sie Meg zu. „Das wird Tess sein. Ich hab sie gestern noch angerufen."

Sie nahm den Hörer ab und meldete sich gar nicht erst.

„Hi Tess, gut, dass du noch mal anrufst. Hast du mit Nick….oh entschuldigung, ich dachte sie wären jemand anders….hier spricht Jodi McLeod….Peter, hallo…"