„Also, du musst den Draht hier festhalten und dann da an dem Gerät drehen. Siehst du? So", Jodi demonstrierte wie man den Zaundraht festzog. Charlotte schaute ihr interessiert, aber auch ein bisschen skeptisch zu.
„Ist eigentlich ganz einfach. Hier, probier du mal!" Jodi reichte ihr die Drahtrolle.
Charlotte nahm Draht und das seltsame Drahtspanngerät entgegen und versuchte genau nachzumachen, was Jodi ihr wenige Minuten zuvor erklärt hatte. Von „einfach" konnte allerdings keine Rede sein. Bei ihr sah der Zaun lange nicht so gut aus, wie bei Jodi. Als sie endlich fertig war, hing der Draht ziemlich tief durch.
„Na ja….."
„Wenn du fleißig übst, wirst du zum Profi. Und zum Üben hast du hier reichlich Gelegenheit!" Jodi lachte und schaute den Zaun entlang, der auf einem recht langen Stück komplett eingestürzt war.
„Aber jetzt machen wir erst mal Pause" Jodi setzte sich auf die Ladefläche des Ute. Charlotte setze sich neben sie.
Schweigend betrachteten sie eine Weile Coco, die friedlich neben ihnen graste. Charlotte hatte es sich nicht nehmen lassen zu reiten, während Jodi im Auto alles zum reparieren des Zaunes transportiert hatte.
„Es ist echt schön hier. Ich bin froh, dass ich hergekommen bin", meinte Charlotte.
„Abwarten was du sagst, wenn du die Tränken schrubben musst!" grinste Jodi und umarmte ihre Nichte. „Schön, dass du da bist!"
„Peter hat gestern angerufen. Sogar zweimal", sagte sie dann.
Charlotte versteifte sich und befreite sich aus der Umarmung. „Oh"
„Er wollte wissen, ob du vielleicht bei uns bist. Anscheinend ist er sich über deinen genauen Aufenthaltsort nicht ganz im Klaren."
„Was hast du ihm erzählt?", fragte Charlotte angespannt.
„Dass ich nicht weiß, wo du bist, aber sofort anrufen würde, solltest du bei uns auftauchen", erwiderte Jodi.
Charlotte schaute weiter starr auf Coco.
„Hör zu Charlotte, ich weiß nicht, was zwischen dir und deinem Vater…oder deinen Eltern?...vorgefallen ist und will mich auch nicht in dein Leben einmischen. Schließlich haben wir uns lange Zeit nicht gesehen. Aber Peter anlügen, will ich auch nicht. Daher fände ich es am Besten, wenn du ihn anrufst und sagst, dass du auf Drover's bist. Okay?
Schweigen. Na toll, dachte Charlotte. Soviel zu meinem genialen Plan einfach kurze Zeit von der Bildfläche zu verschwinden. Wie waren die nur darauf gekommen, dass sie ausgerechnet in Australien sei? Es gab tausend Orte, wo sie hätte hingehen können: Freunde, ihre Schwestern, Mexico, der Nordpol…Aber nach dem Streit war es wohl nicht so schwer zu erraten gewesen! Hatte ja toll geklappt!
„Ja, ja", meinte sie dann abweisend und beobachtete weiterhin Coco.
„Ist etwas passiert? Gab es Streit? Warum bist du wirklich gekommen?", fragte Jodi vorsichtig.
Bingo, und zwar den Streit des Jahrhunderts. In der nächsten Zeit würde sie mit ihren Eltern kein Wort mehr reden. „Hab ich doch schon erzählt. Nach meinem Schulabschluss wollte ich meine Verwandten besuchen, von deren Existenz ich vor kurzem erfahren habe. Und außerdem wollte ich unbedingt das Land besuchen, in dem ich geboren worden bin. Ich dachte euch stört es nicht, dass ich hier bin!"
„Nein, wir freuen uns, dass du hier bist. Aber wenn du Probleme…."
„Schon klar. Dann wollt ihr mir helfen", unterbrach Charlotte sie und schaute Jodi an. „Aber es ist wirklich nichts besonderes. Und wenn die überhaupt keine Ahnung hätten wo ich bin, dann hätten sie wohl kaum hier angerufen, oder?"
„Trotzdem….."
„Ja, ich werde sie anrufen"
Den Reiter, der immer Näher gekommen war und jetzt neben ihnen anhielt, hatten sie beide nicht bemerkt.
„Morgen ihr Zwei! Da haben die Kühe ja ganze Arbeit geleistet", rief Stevie und deutete auf den eingestürzten Zaun.
„Ja leider! Die Kühe waren bei euch drüben. Rob und Mom treiben sie grad zurück. Zum Glück haben wir den Bullen gestern noch eingefangen. Allerdings war die Reparatur vom Zaun wohl etwas zu provisorisch!"
„Hätte mich auch gewundert, wenn das lange gehalten hätte. Der Zaun ist so baufällig, da kann man nichts mehr reparieren. Den müssen wir komplett neu ziehen!"
„Tja, beim Zaun bin ich euch sowieso keine große Hilfe. Dann reite ich wieder zurück nach Drover's! Bis später." Charlotte kletterte auf Coco und machte Anstalten loszureiten.
„Aber…"
„Heute wollte ich doch kochen. Dafür wird jetzt ja auch schon Zeit. Bye Stevie, bis nachher Jodi" Damit galoppierte sie in Richtung Drover's davon.
Stevie war etwas verwundert über den hastigen Aufbruch. „Hab ich euch gestört?"
„Nein, eigentlich nicht. Wir haben über Peter gesprochen. Ich glaube Charlotte hatte Streit mit ihm und Julia. Sie war ziemlich ausweichend."
„A ha. Ich hatte mich schon gefragt, warum sie so plötzlich hier aufgetaucht ist. Sie hat Alex erzählt, dass sie lange Zeit gar nicht wusste, wie viele Verwandte sie in Australien noch hat. Wahrscheinlich war das der Grund für den Streit."
„Kann sein. Peter hat schon zweimal auf Drover's angerufen. Und so wie die Dinge zuletzt standen, muss er schon sehr verzweifelt und besorgt sein, um freiwillig bei uns anzurufen. Schließlich haben wir seit 15 Jahren so gut wie gar nichts mehr von ihm gehört!"
In Denver saß Peter am Tisch im Wohnzimmer und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Dabei hypnotisierte er weiterhin das Telefon. Julia kam ins Zimmer und setzte sich neben ihn.
„Ihr ist bestimmt nichts passiert, Peter", sagte sie leise.
„Hoffentlich! Ich glaub ich ruf noch mal auf Drover's Run an!"
„Das bringt doch nichts Peter. Selbst wenn sie da ist, sie will bestimmt nicht mit uns reden. Dafür ist sie wahrscheinlich noch viel zu wütend."
In diesem Moment kam Natalie in den Raum.
„Immer noch nichts?", fragte sie.
„Nein"
„Hättet ihr von Anfang an die Wahrheit gesagt, wäre sie nicht gegangen ohne ein Wort zu sagen. Ich kann das irgendwie verstehen. So wie ich Charlotte kenne, ist sie bestimmt nach Australien!", behauptete Natalie.
„Ich hoffe sie ruft Peter gleich an", sagte Jodi, während sie Draht an einem Pfahl befestigte.
„Wenn sie so stur ist wie Claire, dann sicher nicht!" war Stevies Antwort darauf.
„Das befürchte ich auch. Vielleicht kann Alex ja noch mal mit ihr reden? Sie scheinen sich gestern bei dem Ausritt sehr gut verstanden zu haben. Charlotte hat heute morgen von nichts anderem mehr geredet."
„Alex auch. Er ist total glücklich sie wieder zu sehen. Allerdings glaube ich nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn er mit Charlotte über Peter redet. Wenn der Name „Peter" nur erwähnt wird, sieht er aus als würde er am liebsten etwas kaputt schlagen!"
„Stimmt. Da hast du wahrscheinlich Recht!", pflichtete Jodi ihr bei. „Aber irgendwas müssen wir machen"
„Ach Jodi, da fällt dir schon was ein. Du bist erstens ihre Tante und zweitens sind solche „Geheimnisse" dein Spezialgebiet", lachte Stevie.
„Was?"
„Soll ich was aufzählen?"
„Nein! Schon gut, irgendwann wird Charlotte erzählen, was los ist. Ich hoffe nur sie findet den Weg zurück nach Drover's Run!"
Das hoffte Charlotte auch. Eigentlich war sie ziemlich sicher gewesen, den Rückweg zu kennen. Doch nachdem sie ein Stück geritten war, wurde sie unsicher. Irgendwie sah die Landschaft überall gleich aus. Weiden, Zäune, gelegentlich Bäume oder Sträucher, Kühe…..Mist! Das fehlte ihr grade noch. Sie hielt an.
„Hey Coco. Du weist doch bestimmt wo es zurück zum Stall geht? Ich könnte deine Hilfe grade wirklich gut gebrauchen"
Doch alles was sie zur Antwort bekam, war ein kurzes Schnauben.
„Na toll!" Nach kurzem zögern entschloss Charlotte sich schließlich auf eine Baumgruppe zuzureiten, die ihr wage bekannt vorkam. Wenigstens hatte sie jetzt reichlich Zeit zum nachdenken. Sie brauchte unbedingt einen neuen Plan.
Ihr Vater hatte also auf Drover's Run angerufen. Er schien sich also Sorgen um sie zu machen. Das änderte allerdings nichts daran, dass sie ziemlich sauer auf ihre Eltern war. Die Tatsache, dass ihr Vater die Telefonnummer von Drover's hatte und Jodi kannte, bewies ja wohl eindeutig, dass ihm nicht völlig unbekannt war, dass Drover's Run immer noch von der Familie McLeod geführt wurde. Den Namen „McLeod" überall zu hören fand sie immer noch ziemlich verwirrend. Sie hatte zwar gewusst, dass ihre Mutter McLeod geheißen hatte, doch war sie ihr ganzen Leben lang, jedenfalls solange sie sich erinnern konnte, Charlotte Johnson gewesen. Na ja, sie war ja auch grade mal 3 Tage hier. Früher oder später würde ihr normales Leben sie wieder einholen.
Ihre Familie auf Drover's Run fand sie toll. Außerdem schienen sie alle sie sehr gern zu haben. Jodi und Alex waren klasse. Rob war auch ganz nett, aber ihr gegenüber eher zurückhaltend. Ihre Cousine Rebecca war einfach total süß und lieb. Einfach ein kleiner Sonnenschein. Meg, Dave, Kate und Stevie waren zwar nicht direkt mit ihr verwandt, aber ihnen lag wohl auch sehr viel an ihr. Es war ein gutes Gefühl auf einmal eine so große und irgendwie verrückte Familie zu haben.
Charlotte lächelte. Diese Reise hatte sich auf jeden Fall gelohnt, obwohl sie nun für die nächst Jahre total pleite sein würde! Aber das war es wert, vor allem da sie bestimmt noch mehr über ihre Mutter erfahren würde. Etwas, worüber sie nie genug erfahren konnte.
Eigentlich hatte sie die Briefe nur zufällig gefunden. Sie waren einige Jahre alt und alle unterschrieben mit „in Liebe deine Tante Tess" Tess, die Tante, die jetzt in Argentinien lebte. Meistens wurde in den Briefen Drover's Run beschrieben oder Tess erzählte von ihrer Mutter. Außerdem waren auch noch einige Fotos dabei gewesen. So war sie überhaupt erst auf die Idee gekommen, nach der Familie ihrer Mutter zu suchen. Ihr Vater hatte nie erwähnt, dass sie noch Verwandte in Australien hatte. Die Unterhaltung darüber, war zu einem heftigen Streit geworden. Deswegen hatte sie beschlossen zu fahren ohne ihren Eltern Bescheid zu sagen. Aber die hatten anscheinend schon herausgefunden wo sie war.
Charlotte schreckte aus ihren Gedanken hoch. Coco war stehen geblieben. Hinter den Bäumen konnte sie ein Dach erkennen. Das Haupthaus von Drover's. Super! Zu ihrer Rechten standen einige Steine auf der Wiese herum. Neugierig ritt sie ein Stück darauf zu. Es waren vier Steine, ordentlich nebeneinander aufgereiht.
