Kapitel I
Eine weitere Reise
"Doch wie man mir zu meinem Todesschreck berichtete, dienen bei Ihnen nur Gascogner!"
Man hätte fast meinen können, dieser Satz würde in dem leeren Klassenzimmer widerhallen, was natürlich nur Einbildung war. Aber warum musste gerade dieser Satz an diesem ungewöhnlichen Ort ertönen? Mehr noch, hätte man die Sprecherin dazu gesehen, wäre man vollends verblüfft gewesen.
Unternehmen wir eine kleine Exkursion in die
Räumlichkeiten. Jeder Leser kann sich einen völlig normalen
Klassenraum vorstellen: grau in grau, abgenutzte Böden, auf der
verschmierten Tafel immer noch die Hausaufgabe für die Schüler
der Oberstufe, die das Pech hatten, einen Mathematik-Prüfungskurs
zu besuchen. Außerdem befanden sich die Wände und das
Mobiliar aufgrund des stetig gekürzten Bildungsetats im
schlimmsten Zustand. Nicht nur die Stühle waren rissig und
drohten, auseinander zu brechen, gleiches konnte man auch von den
Tischen behaupten. Nebenbei schmückte ein Schimmelpilz von nicht
unwesentlicher Größe die Decke, von welchem bereits vom
Chemie-Leistungskurs eine Probe entnommen worden war, um diesen Pilz
zu analysieren.
Überdies ließen sich die Fenster
dieses abrissreifen Klassenraums nur auf Kipp öffnen, und selbst
dann konnte es sein, dass bei zu unvorsichtiger oder zu ruckartiger
Handhabung ein luftsuchender Schüler in Gefahr lief, unter den
riesigen Scheiben begraben zu werden, da diese wohl vor zwanzig
Jahren das letzte Mal richtig justiert wurden. Das war freilich nicht
angenehm, zumal ein Blick aus dem Fenster auch nichts sonderlich
angenehmes bescherte: einen grauen und zugemüllten Schulhof -
fünf Stockwerke tiefer, wohlgemerkt.
Genau diesen Klassenraum hatte sich Sophie ausgesucht. Nun, eigentlich war sie hierher geflüchtet. Es war bereits halb Acht, in einer halben Stunde sollte das Schultheaterstück "Cyrano de Bergerac" beginnen. Um dem Leser mal einen Eindruck von der seltsamen Situation zu geben, sei folgendes gesagt: Das pummelige Mädchen besuchte ihrerseits in die 11. Klasse des Gymnasiums. Sie liebte nicht nur Schultheater, sondern war auch für vielerlei Filme und Bücher zu begeistern, jedoch niemals für Chemie, dieses Fach konnte sie leider nicht abwählen. Als Tanzschülerin hatte sie den Schwerpunkt Walzerseligkeit, ging regelmäßig zum LARP, konnte die Filme "Herr der Ringe", "Star Wars" (sämtliche Teile), "Fluch der Karibik", "Dogma", "Legende" und "Das letzte Einhorn" synchron mitsprechen, wobei sie bei letzterem Film stets stumme Tränen vergoss.
Es gab viele Dinge, die Sophie mochte, wie zum Beispiel Filme, LARP, Theater, Bücher und heimlich Bilder von Heath Ledger aus dem Internet saugen. Ebenso gab es Dinge, die das Mädchen nicht leiden konnte. Als Beispiele seien hier kleine Katastrophen wie Mathematikunterricht, Funktionsgleichungen, Dr. Bernhard, saure Gurken Senf und Vogelspinnen genannt, wobei sich beide Listen natürlich beliebig erweitern ließen.
Noch eine Sache mochte Sophie nicht: Im Mittelpunkt zu stehen. Sie war nämlich ein bisschen schüchtern. Doch genau dies hatte sie aber in Kauf genommen, als sie vor sage und schreibe fünf Monaten zugesagt hatte, die Rolle der Roxane im Theaterstück "Cyrano de Bergerac" zu spielen.
Die Aufführung
sollte in einer halben Stunde beginnen, genau fünf Stockwerke
tiefer, auf der Bühne des Schultheaters, die mitten in der Aula
stand. Auf der Bühne und im Zuschauerraum herrschte freilich ein
gewaltiges Treiben, doch die Hauptdarstellerin hatte sich in den
hinterletzten Raum geflüchtet. Wieso?
Um es einmal
festzuhalten: Sophie war schon vollends geschminkt und
zurechtgemacht. Die weißblonden Haare hatte man offen gelassen,
lediglich durch massig Lockenwickler und Haarspray wellig gestaltet.
Ihr Friseur - warum waren männliche Friseure eigentlich immer
schwul? - hatte für dieses Haar geschwärmt und Sophie in
seiner nasalen Aussprache geraten, "dieses wundervolle Material
niemals zu färben oder abzuschneiden. Verstanden, Schätzchen?"
Die Schauspielerin hatte man in ein mittelalterliches Kleid
gesteckt, wobei der "Cyrano" gar nicht im Mittelalter
spielte und das Kleid daher eine historische Verfehlung darstellte.
Doch manchmal, insbesondere wenn der Theaterfundus ein bisschen dünn
war, musste man auf das wenige zurückgreifen, dass man hatte,
und da störte die historische Verfehlung in dem Kostüm der
Hauptdarstellerin nicht weiter. Hauptsache, es sah hübsch
aus.
Man hatte ihr ans Herz gelegt, doch das schöne Gewand zu
tragen, welches die Rollenspielerin selbst angefertigt hatte, ein
blauweißes, mittelalterlich anmutendes Kleid mit langen
Flatterärmeln, nur allzu deutlich durch Arwen aus dem "Herrn
der Ringe" inspiriert. Den Dialog zur Szene und zum Kleid konnte
Sophie auswendig "Du besitzt die Gabe der Vorrausicht. Was hast
du gesehen?". Die Rollenspielerin konnte dies sogar in derselben
Modulation, aber das gehört nicht hierher. Außerdem - und
das war vielleicht der wichtigste Punkt - kaschierte das Kleid auf
verblüffende Art und Weise die kleinen Rettungsringe, und wenn
Sophie den Kopf ein wenig hob, dann war ihr kleines Doppelkinn auch
nicht mehr zu sehen. .
Warum war die Schauspielerin nicht bei
ihren Klassenkameraden und wartete darauf, endlich auf die Bühne
zu steigen?
Nun, der ganze obige Text war Sophies Idee, lieber
Leser. Sie wollte gerne, dass Sie, genau Sie, werter Leser, eine
Vorstellung von ihr bekommen. Sie sollen sich jetzt fragen "Was
ist los mit dir, Sophie? Hast du Lampenfieber?" ... und sie
sollen sich wundern, dass die fragliche Person nun verschämt den
Kopf wegdreht.
Ich mache es kurz: Sophie hatte ihren Text vergessen.
Wieso in Gottes Namen suchte das Mädchen dann nicht nach einem Textbuch oder versuchte, sich mit Kräutertee zu beruhigen? Nun, ehrlich gesagt hatte die Schauspielerin bereits die gesamte Garderobe auf der Suche nach Textbuch und Kräutertee umgegraben ... vollkommen erfolglos. Auch traute sich das schüchterne Mädchen nicht, ihre Klassenkameraden zu fragen ... sie spielte immerhin die Hauptrolle, bei den Proben hatte es immer so ausgesehen, als könnte sie die Rolle im Schlaf (was ja auch eigentlich der Fall war) und nun war der größte Teil des Textes aus dem Kopf der Schauspielerin verbannt, weg, hinfort, als hätte es ihn nie gegeben. Die Blöße wollte Sophie sich nicht geben, am besten ganz vermeiden.
Also hatte Sophie sich zurückgezogen, um für sich selbst Text zu rezitieren, was irgendwie nicht richtig ging.
Kleiner Ausflug in die Gedankenwelt einer Lampenfiebernden: Ooooooh, Sophie, denk nach, denk nach. Du wirst dich ja soooo blamieren ... also, was war nach den Gascognern? "Dann wissen Sie ja, wie mich diese Kunde um ihn zittern lässt" Ja, genau. Ha! Und dann? Dann knirscht Cyrano-Toni halbwegs durch die Zähne "Aus gutem Grund" ... und dann? Vielleicht wird Toni mir den Text verraten, aber der ist so ein guter Schauspieler und so toll und schwärm äh, nein, daran wollte ich ja nicht denkenwasmacheichblossohmeinGottdaswirdtotaldDIEKatastrophevielleichtsollteichnachNeuseelandauswandern...GAAAAAH! Schon halb Acht!
Das einzige, was dem weißblonden Pummelchen in dieser pikanten Situation einfiel, war die Theorie, dass man das Gehirn fordern musste, damit es Leistung bringen konnte.
Also, fordern wir das Gehirn. Sophie forderte ihre Windungen mit 1000 Filmzitaten, kurioserweise gleich entsprechend ausgespielt, sozusagen zum Warmspielen.
So begann Sophie mit einer herzerwärmenden Ballade aus "Les Misérables", indem sie in der Schlussszene ganz einfach den Part vom Geist Fantines übernahm. So wurde der öde Klassenraum von den Klängen einer nicht gänzlich untalentierten, allerdings ungeübten Sängerin erfüllt, die sich allein wähnte, was die umliegenden vier Etagen anging.
"Take my hand;
I'll lead you to salvation
take my love, for love is
everlasting
and remember, the truth, that once was spoken
to
love another person is to see the face of god"
Szenenwechsel, ohne Pause, von einem Augenblick zum anderen. Diesmal spielte Sophie Prinzessin Leia, die gerade gefangen genommen wurde und nun ihrem Peiniger namens Vader mit Stolz begegnete. Der Kopf wurde in die Höhe gehoben,
"Lord Vader ... nur Ihr konntet so skrupellos sein. Ich bin Mitglied des imperialen Senats, wenn der Senat ...!"
Hier hielt die empörte Rede abrupt inne, zum einen, weil hier eigentlich Darth Vader Leia ins Wort fallen musste, zum anderen, weil sich Sophie anschickte, nun eine andere Szene zu spielen. Sie versuchte sich rasch am Cyrano. Aus der resoluten und empörten Leia wurde nun die liebreizende Roxane mit ihrer schüchternen Bitte an den Cousin.
"Nun denn, der Hauch vergangener Zeiten gibt mir Mut ... ich liebe. Jemanden, der es nicht ahnt ... doch er soll's bald erfahren ... denn ... denn ...ach mist"
Jetzt musste sich Sophie doch beruhigen ... schon ein paar Zitate, und der Text zum Cyrano kam einfach nicht wieder. Also, weiter in den Zitaten ... gerade stand die Schattenspielerin gerade, statuengleich mit steinernem Gesicht ... dies war eine Überleitung zur Pfeilabwehrszene aus "Hero". Ans Aufgeben dachte die Schauspielerin in diesem Augenblick nicht, stattdessen sprach sie mit unbewegter Miene und fester Stimme ihren Text.
"Das ist nicht notwendig! Zieht Euch zurück!"
Sodann versuchte sich das Mädchen im Arwen-Gewand sogar daran, die Pfeilabwehrszenen nachzuspielen, in der Hoffnung, es würde durch die Bewegung Nervosität abgebaut und nicht zuletzt das Gehirn mit wertvollem Sauerstoff geflutet. Doch diese Hoffnung wurde nicht erfüllt. Schon nach einigem Gestikulieren mit den Flatterärmeln sah die Laienschauspielerin ein, dass es lächerlich aussehen musste und beendete diese Episode des Spiels. Was konnte sie als nächstes machen? Jetzt, wo sie sich ihr Kleid genauer ansah, kam ihr auch schon die perfekte Idee ... so ging sie drei Schritte vorwärts, darauf bedacht, die Bewegungen fließend und anmutig aussehen zu lassen, während die Stimme tiefer, ätherischer und ruhiger wurde.
"Frodo
...
nî Arwen. Telin le thaed. Lasto peth nîn, tolo ad
nan calad ."
Sophie atmete tief durch ... es mochte an der Erinnerung an diese Szene, an die Musik im Ohr oder an der Ruhe des Textes an und für sich liegen, auf jeden Fall wurde die Schattenspielerin ruhiger. So schloss sie die Augen, nur um noch mal in Ruhe zu wiederholen:
"Tolo ad nan calad..."
Die Augen blieben geschlossen, ein, zwei Atemzüge verhaarte die Weißblonde einfach nur. Sie konnte spüren, dass die Nervosität von ihr abfiel, konnte spüren, dass die Blockade, die ihr Gehirn um den Cyranotext errichtet hatte, abfiel, zugleich hatte sie aber auch das Gefühl der Schwerelosigkeit ... war ihr schwindelig? Das konnte Sophie nicht so genau erkennen, doch das Gefühl war eigenartig. Doch die Schauspielerin wollte nicht daran rütteln, an dieser Ruhe und Gelassenheit, sodass sie ein weiteres Mal "Tolo ad nan calad", im Flüsterton wiederholte. Kehre wieder zurück zum Licht.
Noch einmal
wurde tief durchgeatmet, die Augen blieben geschlossen, doch ein
leises Lächeln stahl sich auf die Lippen. Im nächsten
Moment fühlte sich das Mädchen gleich wieder
energiegeladen, doch der Text war wieder da, was sie in Hochstimmung
versetzte.
Dennoch war da das Bedürfnis der Schauspielerin,
sich bei "Arwen" zu bedanken, noch mal einen der elbischen
Texte zu sprechen, denn wir erinnern uns, Sophie konnte den "Herrn
der Ringe" komplett synchron mitsprechen, so häufig hatte
sie diesen gesehen. Außerdem war Arwen ihre persönliche
Heldin, denn wer so viel Stärke gab, konnte nicht schwach sein.
Arwen brauchte kein Schwert, um stark zu sein. Dafür wurde sie
von Sophie bewundert, die jetzt die Hand erhob, ein imaginäres
Schwert erhebend, als wäre sie an der Furt, Frodo mit auf dem
Pferd, die Ringgeister am anderen Ende des Flussufers. Mit fester
Stimme, als wäre sie voller Mut, rezitierte Sophie den Text, der
ihr lebendiger vorkam als sonst.
"Wenn ihr ihn haben wollt, kommt und verlangt nach ihm!"
Mit einem Mal
glaubte Sophie, einen Windhauch auf dem Gesicht und in den Haaren zu
spüren, gleichsam eine Kälte, die sie erschauern ließ.
Erst jetzt öffnete die Schauspielerin die Augen ...
nur um
jenen nicht zu trauen.
Sophie befand sich nicht mehr in dem
kahlen, grauen Klassenraum, nein, sie befand sich am Rande eines
Flusses. Überall standen Bäume, es war eine schöne,
helle Gegend, wie das Mädchen nebenbei bemerkte. Ferner stellte
sie fest, dass sie nicht länger auf ihren eigenen Füßen
stand, sondern auf einem weißen Pferd saß, eine leblose,
kleine Gestalt im Schoß. Die eine Hand, die sie im
Klassenzimmer erhoben hatte, befand sich immer noch an jener Stelle,
doch das imaginäre Schwert hatte sich in ein griffiges,
elegantes und vor allem reales Schwert verwandelt, wobei das
zusätzliche Gewicht Sophie nicht allzu sehr störte. Viel
eher störten sie die schwarzen Reiter, gleich neun Stück an
der Zahl, am anderen Ende des Ufers, deren alleinige Präsenz
schon ausreichte, um der Schauspielerin das Blut in den Adern
gefrieren zu lassen. Der Lufthauch - Kälte lag darin eingebettet
- ließ sie weiterhin frösteln, sodass Sophie, ohne es zu
merken, schon bald wie Espenlaub zitterte, während der Blick
starr auf die dunklen Gestalten auf der anderen Seite gerichtet
war.
Das musste eine Halluzination sein. Was Nervosität doch
alles anrichten konnte!
Sophie blinzelte einmal ungläubig.
Das Bild veränderte sich nicht.
Sie blinzelte ein zweites und
ein drittes Mal, ohne dass sich an der gegenwärtigen Situation
etwas änderte.
Ferner stellte das Mädchen mit klopfendem
Herzen fest, dass die neun Gestalten noch furchterregender wirkten
als im Film. Im Film? Aber das konnte doch nicht sein! Das war eine
verdammt echt wirkende Halluzination, nichts weiter.
Nichtsdestotrotz wollte Sophie eiligst weg, nur weg vor diesen
schwarzen Schreckgespenstern und versuchte daher, das Pferd zu wenden
... welches sich allerdings nicht wenden ließ. Nein, das Pferd
war tapferer als seine Reiterin, es wollte sich anscheinend diesen
gruseligen Gestalten entgegenstellen ... daraufhin ließ die
zitternde und angsterfüllte Reiterin erschöpft das Schwert
sinken.
Blieb nur noch eines zu sagen:
"Scheiße."
Nur murmelnd fluchte Sophie, zugegebenermaßen nicht
einmal besonders kreativ, aber immerhin. Was jetzt? Flüchten
konnte sie nicht, diese Gestalten anzugreifen war undenkbar. Das Herz
bummerte noch stärker gegen die Rippen, als die neun Gestalten
synchron ihre Schwerter zogen und sich nun langsam, aber mit
grausamer Sicherheit auf die Reiterin, welche übrigens immer
noch das weißblaue Kleid mit den Trompetenärmeln trug, zu
bewegten.
War es das Ende?
Nein! Nein, so durfte es nicht
sein. Sophie entschloss sich, immer noch in dem Glauben, dies alles
sei ein Tagtraum, zur Offensive, zur einzigen, die sie kannte.
"Nîn ... "
Fast hätte sie dieses Wort vor lauter Nervosität nur gekrächzt, doch ein letztes Mal raffte sich das Mädchen zusammen, wenngleich sie den Eindruck hatte, sich gegen den personifizierten Schrecken selbst, ja gegen den sicheren Tod in leibhaftiger Form wehren zu müssen. Also, auf zur Verzweiflungstat, ein allerletztes Mal.
"Nîn o Hithaeglir, lasto peth tond; Rhimmo nîn o Bruinên, dan in Úlari!"
Zu Sophies großer Überraschung
stellte sich der gewünschte Effekt nicht ein. Die Ringgeister
kamen weiter näher, die Reiterin zitterte weiter und es geschah
nichts. Um Himmels Willen, was nun?
Das Pferd tänzelte einige
Schritte zurück, die kleinwüchsige Person, welche immer
noch halb bewusstlos vor Sophie im Sattel saß, begann sich zu
regen, aber gleichzeitig auch zu wimmern. Mittlerweile war die
Schauspielerin auch verzweifelt, weil nichts so klappte, wie sie es
gern wollte und dieser Traum - so es denn ein Traum war - merkwürdige
Züge annahm und darüber hinaus zu real schien - viel zu
real für Sophies Geschmack, die nun vor diesem Anblick die Augen
verschloss.
Und dieser verfluchte Gaul ließ sich immer noch
nicht wenden!
Es war hoffnungslos - so dachte sich Sophie
zumindest bis zu dem Augenblick, wo endlich ein donnerndes Rauschen
in Windeseile direkt vor dem Reittier hinwegfegte. Als das Mädchen
die Augen wieder aufriss, erkannte sie eine vertraut wirkende
Flutwelle, die nun die Ringgeister und damit auch den Schrecken, der
bis soeben noch Mark und Bein der Schauspielerin erzittern ließ,
hinfort spülte. Das war ja fast wie im Film! Innerlich schwang
die Stimmung von ängstlich auf euphorisch, wenngleich die
Euphorie durch eine Kleinigkeit gebremst wurde: Fast wie im Film ...
aber die Wasserpferde fehlten. Das war in dem Augenblick des
ohrenbetäubenden Tosens allerdings eher unerheblich.
Sophie
saß also immer noch auf dem Pferd, welches sich nun langsam
beruhigt hatte, im Arwen-Kostüm, eine unbekannte, kleinwüchsige
und darüber hinaus wimmernde Person vor sich im Sattel, ein
Schwert in der Hand und schaute sich das Spektakel an, von welchem
sie den starken Verdacht hatte, dass es von ihr ausging und
Bestandteil eines Traums, Tagtraums oder Halluzination war.
Kaum,
dass die Welle über die schwarzen Reiter hinweggefegt war,
verebbte der vormals reißende Fluss und gab einen gänzlich
schwarzreiterlosen Strom frei, wobei lediglich die aufgestobenen,
feinen Wasserelemente, nunmehr zum Nebel verwoben, von den jüngsten
Ereignissen und der gewaltigen Flutwelle kündeten. Langsam aber
sicher verzog sich der Wasserdunst, ebbte weiter ab.
Sophie
traute ihren Augen nicht ... kaum dass der feingewobene Wasserdunst
den Blick auf das andere Ufer freigab, schälten sich auch schon
einige Gestalten aus der Umgebung, wobei die beiden größeren
auf die Reiterin zueilten. Sophie erkannte zunächst eine
dunkelhaarige Gestalt mit schmalen, aber edel geschnittenem Gesicht,
gänzlich bartlos. Die Mimik wirkte charismatisch, wenngleich der
Mann momentan gar keinen charismatischen, sondern eher einen
besorgten und ratlosen Eindruck machte. Der Dunkelhaarige war in
Lumpen gehüllt, ganz im Gegensatz zu seinem hellhaarigen
Begleiter, dessen glatte Züge und elegante Art, sich zu bewegen,
Sophie fast das Blut in den Kopf steigen ließ. Spitz zulaufende
Ohren stachen der fassungslosen Schauspielerin sofort ins Auge,
während sie die beiden hinzukommenden Gestalten mit
unverhohlener Neugier und Bewunderung musterte. Wenn, ja wenn das
jetzt das Buch war ... dann waren das ... das müssten ...
Aragorn und Glorfindel ... nein, völlig ausgeschlossen.
Ihr
Gedankengang wurde durch die Stimme des Möchtegernaragorns jäh
durchbrochen. Er stellte nur eine einzige, aber dafür
eindringliche Frage:
"Wer seid Ihr?"
In diesem Moment wurde Sophie klar, dass sie es mit irgend etwas Schlimmeren zu tun hatte als mit einem Traum.
