Kapitel II

Anwalôril

3 Tage später

Misstrauen hatte man Sophie seit der Flutung der Furt entgegengebracht. Wie die Schauspielerin, nebenbei eifrige „Herr der Ringe"-Leserin es geahnt hatte, stellten sich die beiden Herren, zu denen sich später auch noch drei Hobbits gesellten, als Aragorn und Glorfindel vor. Allerdings hatte Sophie nur allzu deutlich spüren können, dass man ihr mit Ablehnung entgegentrat. Dabei war man eigentlich nicht unfreundlich zu ihr, doch kleine Gesten bewirkten manchmal mehr als Worte. So hatte man sie und den verletzten Hobbit, zweifellos Frodo, wortlos und mit den Händen an den Schwertgriffen nach Bruchtal begleitet und sodann in ein Zimmer gesperrt.
Der Raum wirkte hell und freundlich, sodass Sophie ihr „Gefängnis" gerne als goldenen Käfig bezeichnete. Sonnenlicht durchflutete das recht hübsch eingerichtete Zimmer, auch hatte man der Schauspielerin eine Garderobe zur Verfügung gestellt, welche dazu erdacht war, sogar Liv Tyler gelb vor Neid werden zu lassen – ja, wenn denn eine Liv Tyler hier gewesen wäre.
Momentan hätte Sophie für Gesellschaft, und sei es eine Englisch sprechende Liv Tyler, ihren rechten Arm gegeben. Man hatte sie einfach in diesen goldenen Käfig verfrachtet, wurde garantiert unter scharfer Beobachtung gehalten und hatte ihr nur ein paar Bücher zu Verfügung gestellt, die Sophie allerdings nicht lesen konnte, da sie mit fremdartigen Runen vollgestopft waren – wobei die Schauspielerin stark vermutete, dass es sich dabei um Tengwar-Runen handelte. Tschüss Beschäftigung, hallo Langeweile.
Somit hatte die Schauspielerin immerhin fast zwei Tage damit verbracht, in ihrem Zimmer auf und ab zu gehen oder auf einer Liege vor sich hinzugammeln. Dabei wurde sie lediglich von einer schüchternen Elbe unterbrochen, die ihr ab und an eine Tablett mit Mahlzeiten brachte und genau dieses Tablett nach einer gewissen Zeit wieder einsammelte. Doch alle Versuche, die rotblonde Elbin anzusprechen, schlugen fehl. Stets schlug die Elbenfrau nur schüchtern die Augen nieder und ließ Sophie ohne Antworten zurück.

Die Situation begann langsam frustrierend zu werden. Nur allzu viele Fragen spukten dem weißblonden Mädchen im Kopf herum. Alle Gedankengänge wurden langsam zur Ruhe gebracht, Sophie hatte beschlossen, einfach die Gesamtsituation zu akzeptieren, einen Strich unter die Rechnung zu machen und einen Ausweg zu suchen. Doch fassen wir es erst einmal zusammen und ignorieren den ganz unwesentlichen Aspekt, dass die Situation mittelmäßig durchgeknallt ist.

Probleme aktuell:

1. Mysteriöserweise in Tolkien-Roman gelandet
2. Niemand will sich äußern
3. Noch nichtmal jemand da
4. Kein Plan
5. Aufführung wird Flop ohne Roxane
6. Matheklausur verpasst
7. Angst vor Hexenverbrennung
8. Kleider sind zwar schön, aber teilweise sehr knapp. Definitiv ein paar Kilos zuviel auf den Rippen, Doppelkinn ist auch nicht sonderlich ästethisch und mindert eleganten Eindruck durch Kleider wahrscheinlich sehr stark

Mit Punkt 6 hatte Sophie nicht allzu viele Probleme, doch der Rest der Fragen nagte an ihrem Gemüt. Doch was tun? Man konnte nichts tun. Man konnte nur abwarten, vielleicht würde sich alles von alleine wieder einrenken oder Gandalf würde plötzlich aus der nächsten Ecke springen und alles erklären.

Vielleicht war Sophie ja auch einfach nur verrückt?
Nun, diese Möglichkeit schloss das Mädchen aus Liebe zu sich selbst von vornherein aus.
Also ging Sophie entgegen aller Vernunft davon aus, dass sie in einer realen Welt gelandet war und sich auch dementsprechend vernünftig zu benehmen hatte. Insgeheim freute sie sich sogar, einer so edlen Buchpersönlichkeit wie Aragorn über den Weg gelaufen zu sein, auch wenn dieser ein wenig kühl erschien.

Allerdings … wie sollte es weitergehen? Sophie sprang wie von der Tarantel gestochen auf und ging nervös in ihrem Zimmer auf und ab.
Was, wenn man sie jetzt ob ihres plötzlichen Auftauchens für eine Hexe oder gar eine Spionin Saurons hielt? Was, wenn man in schöner Scheiterhaufen-Manier mit ihr verfuhr? Und was wäre, wenn sie sich das alles nur einbilden würde? Es konnte natürlich auch sein, dass sie sich nicht diese Geschichte hier einbildete, sondern die gesamte Vorgeschichte, ihr gesamtes Leben nur eine Einbildung war und jetzt hielt man sie für verrückt … gute Güte, war das alles wirr!

Sophie war mittlerweile der Verzweiflung nahe und vor allem so in ihre Gedankengänge vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Tür zu ihrem Zimmer aufschwang und eine Gestalt lautlos den Raum betrat.
Es war ein Elb, welcher eingetreten war und nun mit einer Mischung aus Erstaunen und Amüsement beobachtete, wie das Menschenmädchen den Teppich durch stetiges Herumrennen abwetzte und sich zugleich mit geschlossenen Augen die Schläfen rieb. Er hielt es dann allerdings nach einer Weile des Schweigens doch für angebracht, auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen, was auch durch ein kurzes Hüsteln geschah.

Das Mädchen wirbelte vor Schreck herum und stellte mit Überraschung fest, dass sie nicht alleine war … die letzten Stunden hatte es sich Gesellschaft und Ablenkung gewünscht. Nun war Gesellschaft sowie Ablenkung in Form dieses Elben da und Sophie merkte schon, dass sie unsicher wurde. Na prima.
So kam erst einmal kein Laut über die Lippen des Mädchens, sie beschränkte sich lediglich darauf, den hochgewachsenen Elben vor ihr eingehend zu mustern. Das lange Ebenholzhaar wurde lediglich durch einen schmalen Stirnreif zurückgehalten, was hervorragend zur schlichten Robe des Hochelben passte. Der Ausdruck auf den alterlosen Zügen des Elben wirkte freundlich und gütig, während das leichte Lächeln, dass seine Lippen umspielte, lediglich heiter wirkte, niemals spöttelnd. Doch wahrhaft beeindruckend an dieser Erscheinung waren für Sophie vor allem die Augen. Vielerorts waren das Augenmerk auch als Spiegel der Seele bekannt. Wenn das stimmte – woran Sophie nicht zweifelte – dann musste dieser Mann eine große Seele voller Ausgeglichenheit besitzen, welche Sophie nicht einmal ansatzweise ermessen konnte. Die nebelgraue Farbe der Seelenspiegel entging dem Mädchen zunächst, denn die Erinnerung an Jahre, längst vergangen, glomm wie eine schwache Flamme und vermittelte eine Ahnung von dem, was werden konnte und was einst war. Das Mädchen wand unwillkürlich den Blick ab, als befürchte sie, in diesen Spiegeln der Seele sich selbst zu verlieren, oder besser gesagt in den Erinnerungen an Zeiten fernab jeder Vorstellungskraft.
Die Erkenntnis, einen alten Elben vor sich zu haben sowie die Tatsache, dass Robe und Stirnreif auf eine gehobene Stellung hinwiesen, brachten Sophie zu einem einzigen Schluss, welchen, den sie nach einer kurzen Pause der Besinnung aussprach, was von dem Robenträger geduldig abgewartet wurde.

„Ihr seid Meister Elrond … nicht wahr?"

War sie sich zunächst ganz sicher und präsentierte dem alten Noldo eine Feststellung, so wurde sie gleich nach der Aussprache der Vermutung wieder unsicher, deswegen der Anhang.

Der dunkelhaarige Elb lächelte in wissender Manier, als würde ihn dieses Verhalten nicht im Geringsten überraschen.

„In der Tat … somit erübrigt sich eine formelle Vorstellung. Du musst viele Fragen haben ... genau wie ich."

Im Gegensatz zur nervösen Sophie wirkte Elrond höchst gelassen, als könne nichts auf dieser Welt diesen Fels in der Brandung hinfort reißen. Seine Stimme war klangvoll und angenehm, was von den meisten Menschen als beruhigend empfunden wurde ... so auch von dem Menschenmädchen. Sophie war dankbar dafür, konnte sie sich selbst doch nur schwerlich beruhigen und war daher auf die Hilfe des Herrn von Imladris angewiesen, so viele Fragen jagten ihr durch den Kopf. Kaum hatte Sophie – wie sie es vom LARP kannte – eher hastig geknickst, sprudelte sie auch schon ohne Punkt und Komma hervor und ließ ihren Gegenüber zunächst nicht zu Wort kommen.

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Zunächst einmal freut es mich, Euch kennen zu lernen, Meister Elrond, ich habe ja soviel von Euch gelesen. Das muss Euch merkwürdig vorkommen, mir ja auch, denn eigentlich gehöre ich nicht hierher, wisst Ihr? Ich meine, das hier ist nicht meine Bühne und wie ich hierher geraten bin, ist mir ein absolutes Rätsel. Und um es gleich einmal klarzustellen, ich bin NICHT verrückt. Ich weiß, es hat momentan einen ganz anderen Anschein, aber die Situation ist so neu und so ungewohnt und eigentlich kann es so etwas nicht geben …"

Mit einer Geste gebot Elrond dem Redefluss Einhalt. Also Sophie verstummte, glaubte sie ein leises Lächeln auf dem alterlos wirkenden Gesicht zu finden. Großer Gott, sie blamierte mich hier bis auf die Knochen. Am liebsten wäre die Schauspielerin auf der Stelle im Erdboden versunken.

„Ich weiß, dass du nicht verrückt bist. Ich muss gestehen, dass ich deinen Geisteszustand schon in einem frühen Stadium deines Aufenthalts untersuchen ließ. Dein Geist ist klar, wenngleich … du ein wenig aufgeregt scheinst, das ist alles."

Im ersten Moment atmete Sophie sichtlich auf, doch dann fiel ihr auf, dass man diese „Untersuchung" ohne ihr Wissen durchgeführt hatte … um Himmels Willen, wenn man sich hinsichtlich ihres Geisteszustandes in Sicherheit wiegte, wo noch nicht einmal Sophie sich selbst traute, was wusste man dann noch von ihr? Bevor das Mädchen weitere, panische Gedanken erspinnen konnte, bedeutete ihr Elrond, zunächst zu schweigen und erst einmal zuzuhören. In diesem Moment ließ sich der Noldo auf einem Stuhl nieder und bot Sophie in einer eher beiläufigen Geste an, dasselbe zu tun. Dies geschah aus rein pragmatischen Gründen, denn das Gespräch würde wohl länger werden. Im Übrigen verlor Elrond keine Zeit und fuhr fort, noch ehe Sophie seiner stillen Aufforderung nachgekommen war, was den Eindruck der Beiläufigkeit nur noch verstärkte.

„Die Frage ist nun – wo kommst du her? Du sagst, dass du nicht hierher gehörst … wo kommst du dann her? Die Frage nach dem „Wie" kann nur geklärt werden, wenn du mir dies eine verrätst"

Sophie schluckte. Noch nie war ihr diese Frage dermaßen direkt gestellt worden und ganz ehrlich: Stell dir vor, ein Außerirdischer mit null Peilung fragt dich, wo du herkommst. Was würde ein Star Trek Fan in diesem Augenblick machen? Obgleich Sophie Star Trek Filme nicht sonderlich mochte, hatte sie ein Bild vom typischen Trekkie und auch eine Ahnung, wie ein typischer Trekkie in dieser Situation reagieren würde. So beschloss das Mädchen vorläufig, es auf diese Weise zu versuchen, nämlich trockene Fakten.

„Terra, auch Erde genannt. Dritter Planet eines Sonnensystems, bestehend aus neun Planeten und einem Fixstern. Es sind zwei Pole, 5 Kontinente und ein Weltmeer, welches sich in drei Ozeane aufsplittet, vorhanden. Neben anderen intelligenten Lebensformen wie zum Beispiel Walen sind an intelligenten Humanoiden lediglich Menschen vorhanden. Ich bin übrigens eine Schülerin, ich gehe in einer öffentlichen Einrichtung zur Schule."

Oder so ähnlich. Obgleich sich das Rollenspielerherz für Star Trek nicht erweichen konnte, so war doch die Methode mehr als elegant und vor allem professionell, wenn man sich in so einer Situation überhaupt einigermaßen professionell verhalten konnte. Soviel zu den trockenen Informationen, der Elb schien immer noch geduldig zuzuhören. Nun kamen die eigenen Vermutungen der Schauspielerin hinzu, oder besser, nun kam der Casus knacktus.

„Mittelerde … Arda … ich kenne das alles. Ich kenne es sogar sehr genau, denn ich habe diese Geschichte verschlungen, betätige mich nach diesem Rollenspielsystem und habe etliche Nachschlagewerke. Es ist ein Buch, oder besser, es sind drei Bücher. Die Geschichte nennt sich „Der Herr der Ringe" und bezieht sich auf den Maia Sauron, einem ehemaligen Diener von Morgoth, welcher Mittelerde ins Dunkel stürzen will, nachdem er es verwüstet hat. Die Geschichte beginnt mit dem Auffinden des so genannten „Einen Ringes", welcher eine Art Erweiterung von Sauron darstellt und in die Hände eines Hobbits gerät, der den Ring wiederum nach Bruchtal trägt … ist Euch diese Geschichte bekannt?"

Elronds Miene hatte sich zunehmend verdüstert, je weiter Sophie erzählte. Einige Augenblicke schwieg er, wobei das Menschenmädchen feststellte, dass der Elb nicht blinzelte, was ihr sehr befremdlich vorkam. Nach einer Zeit nachdenklichen Schweigens, welche Sophie wie eine halbe Ewigkeit vorkam, erhob der Noldo endlich seine Stimme.

„Du weißt also um den Ring … weißt du auch um den Ausgang der Geschichte?"

„Ja, mein Herr. Wollt Ihr sie hören?"

„Ich wäre schon mit den nächsten Ereignissen zufrieden. Wisse, Prophezeiungen können gefährlich sein, also offenbare mir nicht zuviel und schon gar nichts, von dem du nicht sicher bist, dass es eintreten wird."

Das sagt der Richtige, dachte sich Sophie im Stillen. Ich habe das Buch gelesen, ich habe es verschlungen, ich liebe es. Ich habe auch das „Silmarillion", „Nachrichten aus Mittelerde", den „Kleinen Hobbit" und diverse andere Werke gelesen. Bei allem, was mir heilig ist, ich kenne mich in Mittelerde besser aus als in meinem eigenen Wohnort. Ich weiß, dass du, Meister Elrond, Visionen von der Zukunft hast.

„Ihr werdet einen Rat einberufen, welcher beschließen wird, den Ring zu vernichten. Zu diesem Zwecke wird eine Expedition von Gefährten ausgeschickt, den Ringträger Frodo nach Mordor zu geleiten und dort den Ring in den Feuern des Schicksalsberges zu vernichten."

Langsam und bedächtig nickte Elrond, genau das hatte er vorgehabt. Es gab nunmehr absolut keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Mädchens, wie er bereits nach den ersten Berichten vermutet hatte. Eine plötzliche Frage des Menschenmädchens riss ihn allerdings aus seinem Gedankengang.

„Herr Elrond, habt Ihr auch nur die geringste Ahnung, was ich in einer Geschichte suche? Warum bin ich hier?"

Der alte Elb rang sich ein Lächeln ab, welches wohl tröstlich werden sollte.

„Die Frage ist wohl eher: Wer bist du?"

„Wie bitte?"

Auf diese Frage hin lehnte sich der Noldo zurück und betrachtete das Mädchen eindringlich. Es war kein Geheimnis, dass Sophie sich seit ihrer Ankunft in Mittelerde – oder was immer dies hier auch war – etwas unwohl fühlte, doch dieses Gefühl nahm nun überhand, weswegen sie nervös auf ihrem Stuhl hin und herrutschte. Es war schon fast erlösend, als ihr Gegenüber das Wort ergriff.
„Es ist allgemein bekannt, dass Menschen eine blühende Phantasie haben. Was passiert, wenn die Geschichte allein Kraft der Gedanken real wird? Du beschreibst ein allem Anschein nach sehr bekanntes Buch, eine sehr bekannte Geschichte, mit der sich offensichtlich viele Menschen beschäftigen.
Was passiert, wenn viele Gedanken sich auf eine Sache konzentrieren? Menschen wissen oft nicht, was sie vermögen, sie sind eine stetige und vor allem unberechenbare Variable.
Was vermag des Menschen Geist? Die Antwort auf diese Frage verschließt sich selbst vor deinem eigenen Volk.
Andererseits kann es natürlich sein, dass deine Welt nur ein Produkt der Phantasie der hiesigen Menschen ist. Was ist real, was ist nicht real? Wo fängt Traum an, wo hört er auf?
Du bist vermutlich eine Träumerin der höchsten Güte … vielleicht ist dir schon vorher aufgefallen, dass du nicht wirklich in deiner Realität lebst?"

Das Konzept ist nicht neu, schoss es Sophie durch den Kopf. Das klang so unglaublich, dass es schon wieder wahrscheinlich war. Bedachte man die aktuelle Situation, so erschien Sophie diese Theorie sogar plausibel … wie oft hatte sie sich aus dem grauen Schulalltag fortgewünscht oder ihre Musen mit den Stimmen von „Herr der Ringe"-Charakteren wispern hören? Das klang alles sehr nach der „unendlichen Geschichte". Außerdem war da noch die seltsame und vor allem kranke Assoziation mit Mary Poppins.
Die Augen hatte das Mädchen schon vor langer Zeit niedergeschlagen. Sie atmete erst einmal tief durch, ehe sie Schlüsse zog.

„Das heißt also … das ist eine ähnliche Situation wie mit den Straßenbildern. Es ist eigentlich nur eine Kindergeschichte: Ein Künstler malt wunderschöne Landschaften auf den Fußboden und phantasievolle Kinder und Erwachsene können in diese Bilder eintauchen und in diesen Landschaften wandeln und Personen kennen lernen, Pferderennen veranstalten … so lange, bis der Regen die Bilder fortspült"

„Ein sehr weit hergeholter Vergleich, aber prinzipiell zutreffend."

Im Stillen wurde Disney für Mary Poppins gedankt, denn auf diese Weise war die Sache verständlicher. Wieder erhob Sophie ihre Stimme, doch diesmal zaghafter, als würde sie ein Rätsel für sich selbst lösen.

„Das … heißt also, wenn das Ende der Geschichte erreicht ist – wenn Sauron besiegt und Aragorn König von Gondor ist, dann komme ich wohl wieder nach Hause."

„Ich schließe diese Möglichkeit nicht aus."

„Hervorragend! Herr Elrond, bitte lasst mich helfen. Ich kann mit meinem Wissen vielleicht einiges verhindern und beschleunigen …"

Wieder brachte eine Geste des alten Elben sie abrupt zum Schweigen. Warum? Warum wollte er nicht, dass die Geschichte möglichst schnell über die Bühne ging? Elben hatten Zeit, gewiss, aber wenn es um den Verlauf der Geschichte ging, konnte man doch keine Kompromisse machen.

„Ich schätze deine Hilfe und werde sie auch in Anspruch nehmen, aber …", hier erhob der Noldo mahnend den Zeigefinger.
„Ich muss dich warnen … es scheint, dass der Verlauf der Geschichte, wie du sie kennst, beeinflusst worden ist. Du sprachst vorhin vom Ringträger … wer ist das deiner Meinung nach?"

„Frodo Beutlin. Wieso? Ihr … müsstet doch eigentlich die Spitze einer Morgul-Klinge aus seiner Schulter operiert haben … oder?"

Elrond schüttelte langsam den Kopf, fast meinte Sophie erkennen zu können, eine Spur von Trauer im ewigjungen Gesicht erkennen zu können.

„Samweis Gamdschie war es, der den Ring nach Bruchtal brachte … ebenjener Samweis Gamdschie ist vor zwei Stunden seinen Verletzungen erlegen.

Oh Fuck! Man möge Sophie dieses derbe Vokabular verzeihen, welches in diesem Moment ihren Geist erfüllte und somit dem Entsetzen Luft machte, welches ihr ins Gesicht geschrieben stand. Das konnte doch nicht sein.
Das konnte doch nicht wahr sein. Ohne Sam würde Frodo niemals den Schicksalsberg erreichen, ohne Sam würde Frodo sich niemals Gollums Attacken erwehren können. Frodo war ohne Sam aufgeschmissen! Und überhaupt … warum hatte Sam den Ring an sich genommen? Was hatte den pummeligen, fröhlichen Hobbit mit dem tapferen Herzen überhaupt dazu bewogen, den Ring an sich zu nehmen? Tausend Gedanken rasten durch Sophies Kopf, während sie sich sichtlich bemühte, ihre Kinnlade wieder auszusammeln.
Während sie noch mit vor Schreck geweiteten Augen da saß und um Fassung rang, fuhr Elrond fort, doch Sophie nahm es nur durch einen trüben Schleier wahr, so hatte sie die Nachricht gelähmt.

„Ich glaube, dass du die Wahrheit sprichst, und ich glaube dir auch, dass du den Ausgang der Geschichte genau kennst, ja dass du sogar die genauen Erzählstränge kennst. Es scheint nur, als wenn einige Erzählstränge sich selbstständig gemacht hätten. Dies musst du bedenken."

Mit diesen Worten erhob sich der alte Elb und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, welches aber nicht wirklich gelingen wollte. Sodann erhob sich der Noldo langsam und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. Eine Hand hatte er bereits an der Türklinke, als er innehielt. Sophie konnte im Nachhinein nicht sagen, was wohl im Kopf des Herrn von Bruchtal in diesem Moment vorging, das konnte wohl niemand außer Elrond selbst. Zuweilen war der dunkelhaarige Elb – wie alle Angehörigen des Sternenvolks – etwas undurchsichtig, schwer zu greifen.

„Du kannst kommen und gehen, wie es dir beliebt. Du sollst frei und unbehelligt in Bruchtal wandeln können. Komm …", mit diesen Worten bot der alte Elb dem verdutzen und immer noch vor Schreck gelähmten Mädchen den Arm an.
„Komm, ich möchte dich nicht eingesperrt wissen. Bedenke, dass es nicht unbedingt von Nutzen wäre, wenn jedermann von deinem Wissen erführe. Wenn dich jemand fragt, so bist du eine Wanderin und mein Gast. Das entspricht beides der Wahrheit. Darüber hinaus bist du aber – und das sollte geheim bleiben – eine Träumerin der Wahrheit, und so soll auch dein Name sein, denn ich fürchte, dein eigener ist gewiss von fremder Zunge und damit zu auffällig.
Du bist Anwalôril.