Kapitel III
Begegnungen der besonderen Art
Anwalôril … an diesen Namen musste sich Sophie erst einmal gewöhnen. Der Klang war fremdartig und zugleich melodisch, die Bedeutung entsprach seltsamerweise der Realität, wenn es so etwas wie Realität überhaupt gab. Der Name war von Elrond weise gewählt worden, befand das Menschenmädchen, als es durch Bruchtal, von den Elben Imladris genannt, wanderte. Trotzdem gedachte sie nicht, diesen zu benutzen. Zu fremd war ihr die Zunge, in welcher der Name gesprochen wurde, zu sehr mochte sie sich selbst erhalten, wollte Sophie bleiben, wenn sich schon ihre Umgebung veränderte.
Die Umgebung war von einer märchenhaften Atmosphäre umgeben, als würde das Land, die Gräser, Büsche und Bäume wissen, dass Elben hier lebten. Ein Hauch längst vergangener Zeiten, ein Zeugnis von Licht und Schönheit in ungetrübten Glanz lag in der Luft.
Es war Magie, dessen war sich Sophie sicher.
Wie sonst konnte dieser Ort eine derartige Faszination ausüben? Es war nicht auszudenken, was aus diesem Ort werden würde, wenn die Elben gehen würden … und das würde geschehen. Gerade diese Erkenntnis war es, welche das eigentlich aufgeregte und nervöse Mädchen mit Trauer erfüllte.
Sophie wollte mehr über die Magie Imladris' und seiner Bewohner kennen lernen, als sie von Elrond entlassen wurde. Doch als sie Bruchtal auf eigene Faust erkundete, wurde sie schon nach kurzer Wanderung Zeuge eines seltsamen Vorfalls.
Der Zufall lenkte Sophies Schritte in eine der vielen Gärten, welche von solcher Pracht erfüllt waren, dass sogar kleine Naturschönheiten wie Knoop's Park vor Neid erbleichen mussten. Viel mehr jedoch als die Umgebung war die Träumerin von den hier ansässigen Wesen beeindruckt, denn die jungen Elben tollten herum wie kleine Kinder, was Sophie das Gefühl gab, zumindest halbwegs erwachsen zu sein. Andererseits war sie auch einem erhabenen und schrecklich einschüchternden Mitglied des Sternenvolks begegnet, wobei Begegnung wahrscheinlich das falsche Wort ist, denn man hatte lediglich einen höflichen Gruß im Vorbeigehen ausgetauscht. Sophie erfuhr später, dass es Erestor war, den sie kurz gegrüßt hatte, doch gerade dieses kurze Erlebnis vergaß sie niemals.
Selten war sie sich so klein, kindlich und gänzlich unwissend vorgekommen. Darum sollte die Erinnerung an diese kurze Begegnung zeitlebens von Ehrfurcht geprägt sein.
Warum? Nun, Sophie war ein ehrlicher Mensch, sie sah den Menschen beim Gespräch stets in die Augen. Doch bei Erestor hatte sie den Blick abwenden müssen, viel dringender als bei Elrond, denn das dunkle Augenmerk Erestors war von Jahrtausenden voller Freude, Trauer und Leid gezeichnet und schnitt dem Mädchen ins Herz, obgleich dies bestimmt nicht die Absicht des alten Elben war. Die Ewigkeit wohnte in seinem Antlitz, damit war er geboren. Trotzdem empfand die Träumerin gerade Erestors Anwesenheit als beängstigend und einschüchternd.
Das Mädchen hatte sich gerade schmunzelnd von ein paar jungen Elben abgewandt, welche in den Bäumen saßen, sangen und offenkundig ihren Spaß hatten, da entdeckte sie etwas Interessantes.
Überall in den Anlagen waren kunstvoll verzierte Bänke aufgestellt, und auf ebenjenen saßen einige kleinwüchsige Gestalten und ließen die haarigen Füße hängen. Die Hobbits – denn das waren sie ohne Zweifel – ließen traurig die Köpfe hängen, sogar die krausen Locken, die dem kleinen Volk zueigen waren, schienen kraftlos. Den Eindruck hatte das Mädchen jedenfalls, als sie näher an die Gestalten herantrat.
Zunächst glaubte, sie sich verzählt zu haben. Irgend etwas stimmte mit der Anzahl nicht: da war ein älterer Hobbit mit schneeweißem, schütterem Haar, welcher bereits unter der Last des Alters gebückt ging und eine Art Spazierstock mit sich führte – Bilbo, wie das Menschenmädchen vermutete. Dann saß da noch ein dunkelhaariger Halbling mit feinen, hübschen Gesichtszügen, dessen Kleidung ein wenig gediegener und von besserer Qualität war als die der anderen. Der kleine Prinz, wie Sophie ihn im Geiste taufte, das musste Frodo sein. Die beiden Angehörigen des kleinen Volkes, da fernerhin auf einer weiteren Bank Platz genommen hatten, waren mit aufgeweckten Gesichtern und kecken Stupsnasen gesegnet, jedoch war alle Fröhlichkeit von Trauer überschattet. Merry und Pippin, ohne Zweifel. Dann gab es da allerdings noch ein Hobbit, besser gesagt, eine Hobbitdame mit haselnussbraunen, krausen Haaren und einem hellblauen Kleidchen, was der kleinen Dame einen allerliebsten Eindruck verlieh. Doch sie hatte etwas Seltsames an sich – so wie andere Leute einen Haarreif trugen, trug sie eine Art überdimensionale Schutzbrille auf dem Kopf.
Rosie Hüttinger vielleicht? Doch war Rosie nicht blond?
Sophie beschloss, dieser Angelegenheit auf den Grund zu gehen, und da Frechheit bekanntlich siegte, trat sie forsch heran und begrüßte die traurige Hobbitgesellschaft, so höflich es eben ging.
„Guten Tag … ich hoffe, ich störe nicht?"
Oh doch, und wie das Mädchen störte, das merkte sie schon, als sie die unheimliche Stille, welche die Hobbits umgab, durchbrach. Keiner der kleinwüchsigen Gesellschaft brach das Schweigen. Das konnte ja kaum jemand mit ansehen! Sophie wusste, dass sie um Sam trauerten – warum sonst diese langen Gesichter? Aber andererseits stand den von Natur aus fröhlichen und aufgeweckten Halblingen keine Trauer zu Gesicht, so dass es einem das Herz brach, die Hobbits zu beobachten. Dementsprechend fuhr Sophie nur mit gedämpfter Stimme fort.
„Ich weiß, ich störe. Ich … ich möchte euch nur … mein Beileid aussprechen. Es tut mir auch Leid … wegen Sam. Ich weiß auch nicht, wie es ohne ihn weitergehen soll, ich weiß nur, dass es weitergehen wird."
„Du kanntest Sam?"
Einer der jüngeren Hobbits schaute nun auf und fixierte das Mädchen, wobei man sehr deutlich erkennen konnte, dass er tränenverquollene Augen hatte.
Das war einfach nicht richtig. Wieso war Sam tot? Das durfte doch nicht sein. Wie konnte das nur geschehen … der Anblick von traurigen Hobbits zerriss Sophie schier das Herz, vor allem deswegen, weil es diesen Anblick eigentlich nicht geben sollte.
Mit einem leisen Seufzer ließ sich die Träumerin neben jenem Hobbit nieder, den sie als Frodo identifiziert hatte.
„So könnte man es nennen. Sagen wir, ich vermisse ihn bereits jetzt schmerzlich."
„Es ist alles meine Schuld!", jammerte einer der jüngeren Hobbits, senkte das Haupt und verbarg das Gesicht in den Händen, während die Hobbitdame neben ihm die Schulter tätschelte, wobei diese beruhigend wirkende Geste jedoch in keiner Weise fruchtete.
„Nein, es ist nicht deine Schuld, Pippin. Ich bin Schuld. Ich hätte Sam den Ring nicht zur Verwahrung geben dürfen, dann wäre er nie in Versuchung gekommen, dieses verfluchte Ding zu benutzen.", meinte der dunkelhaarige Hobbit neben Sophie, die glaubte, heraushorchen zu können, dass sie Frodo Mühe gab, das Zittern in der Stimme zu unterdrücken.
Pippin hob dem Kopf, erneut Tränen unterdrückend. Die Aussprache war einem hilflosen Stammeln schon sehr nahe, es war zum Steinerweichen.
„Ja, aber wenn ich im ‚Pony' nicht so viel getrunken und nicht soviel …"
„Hört auf!", fuhr Sophie dazwischen, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Von euch trägt niemand die Schuld. Dieser … Kerl in Mordor, der ist schuld. Er hat die Ringgeister losgeschickt, er sucht mit allen Mitteln nach dem Ring. Er hat Sam auf dem Gewissen … ach was, wahrscheinlich hat er noch nichtmal ein Gewissen …"
Hier stoppte Sophie abrupt, zum einen, weil sie befürchtete, für ihre leicht patriotisch angehauchte Rede zurechtgewiesen zu werden, andererseits aber auch, weil sie die Hobbits so auf gar keinen Fall trösten konnte. Zumindest hatte sie nun die ungeteilte Aufmerksamkeit der kleinen Trauergemeinde, wobei ein jeder sie mit großen Augen anstarrte. Bilbo war der erste, der das darauf folgende Schweigen brach, indem er die Lippen schürzte und mit einem merklichen Kratzen in der Stimme, als würde der Kloß in seinem Hals in am Sprechen hindern, das Wort ergriff.
„Sprich nicht so laut von IHM, du weißt nicht, welche Geister du heraufbeschwörst, Mädchen.
Wie auch immer, es wird sich schon alles finden … wird sich schon alles finden.", hier wurde der greise Hobbit leiser und versank kopfschüttelnd in ein leises und unverständliches Gemurmel. Es sprang jedoch überraschenderweise die Hobbitdame wie von der Tarantel gestochen auf, baute sich vor Bilbo auf und stemmte die Hände in die Hüften.
„Herr Bilbo, das ist nicht nett, so zu reden, gar nicht nett. Die Dame hat auch einen Freund verloren, wie wir alle. Sei nicht so streng zu ihr …", auch wenn sie zum Großvolk gehörte. Diese Tatsache blieb unausgesprochen, während Sophie gerade über den Begriff „Dame" sinnierte und sich fragte, ob sie diese Bezeichnung überhaupt verdient hatte. Der weibliche Halbling ließ nach einigem unverständlichen Gemurmel und mangelnder Verstärkung seitens ihrer Begleiter kraftlos die Arme sinken seufzte schwer. Was für eine Trauersippe, so konnte das nicht ewig weitergehen.
Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass ebenjener weibliche Hobbit offensichtlich zur chaotischen Sorte gehörte. Man erinnere sich an einen beliebigen Klassengenius, der immer seine Hausaufgaben machte, diese allerdings verschlampte oder von der Katze auffressen ließ. Die Gedanken fegten kreuz und quer durch den Kopf, je komplizierter die Situation, desto verquerer der Gedankengang und vor allem das Ergebnis. So ein chaotischer Gedankengang war es vermutlich, der die Halblingsdame zum plötzlichen Themawechsel bewegte.
„Verzeiht, wir sind alle ein wenig aufgewühlt. Doch sagt, wer seid Ihr und woher kanntet Ihr Sam?"
„Nennt mich Sophie … ich … kannte Sam einfach, das muss erst einmal genügen. Verzeiht, ich kann nicht darüber sprechen.". Wie merkwürdig es doch war, sich diesen Figuren, die nicht real sein sollten, vorzustellen. Seltsam wie die gesamte Situation. Doch genau so eine ausweichende Antwort wollte die Hobbitdame nicht hören. Ein paar bohrende Nachfragen und ungenaue Antworten später waren auch die Herren so gnädig, sich in das Gespräch einzuklinken, welches zum Gegenstand das Leben des Samweis Gamdschie hatte.
Sophie erfuhr, dass es sich bei der Hobbitdame um Eleanor Morgenklee handelte, welche über acht Ecken sowohl mit Bilbo, Frodo und Pippin verwandt war, die Verbindung zu Merry und Sam hatte Sophie noch nicht ganz durchschaut. Auch als man dem Menschenmädchen die Verwandtschaftsverhältnisse erklärte, stellte dieses überrascht fest, dass das Gehirn automatisch auf Durchzug schaltete, wenn es um irgendwelche Grade ging. Sophie hörte nach einer gewissen Weile, ohne es zu wollen, einfach nicht mehr richtig zu.
Es stellte sich allerdings heraus, dass Eleanor wohl eher eine schwesterliche Freundin für die kleine Hobbitgesellschaft darstellte und dass die Hobbitdame von sich aus behauptete, eine Erfinderin von außerordentlicher Genialität zu sein, während ihre männlichen Kollegen eher dazu neigten, sie als „beispiellos" oder „eindrucksvoll" zu beschreiben. Nämlich als beispiellose Schnorrerin, was irgendwelche Materialien anging und als eindrucksvolle Vernichterin ebenjener, wobei sich diese gespielt über die Vorwürfe scherzhafter Natur mokierte. Der Ansatz zur Heiterkeit war da, doch er wollte nicht reifen, wollte nicht wachsen und gedeihen, da die Sonne fehlte. Die Sonne war von einem Schatten bedeckt und würde wohl auch noch einige Zeit den Freunden Samweis Gamdschies verwehrt bleiben.
Viel hatten die Hobbits zu erzählen und zu berichten, sodass die Träumerin den Lauf der Zeit vergessen zu haben schien und überrascht feststellte, dass sie Stunden in der Gesellschaft der Hobbits verbracht hatte. Dabei hatte man ihr „nur" von der Reise nach Bruchtal, von Ringgeistern, von Sam, von dem wunderlichen Tom Bombadil und der reizenden Goldbeere erzählt. Die Grabunholde waren auch nicht vergessen worden und Sophie hatte bald festgestellt, dass es überall geringfügige Abweichungen von der eigentlichen Geschichte gab. So waren es beispielsweise Frodo und Merry gewesen, welche von der alten Weide attackiert worden waren. Es schien, als hätte es jemand darauf angelegt, die Geschichte, so wie sie war, zu ändern, sodass die gesammelten Werke, allesamt im Kopf des Menschenmädchens abgespeichert, nunmehr nutzlos erschienen. Sophie wusste lediglich, wie die Geschichte und das Ende sein könnten, doch alles dazwischen lag im Dunklen und steckte voller unliebsamer Überraschungen.
Es dämmerte bereits, als sich Sophie von dem kleinen Volk verabschiedete. Während das Menschenmädchen weiter die Winkel von Imladris erkundete, vernahm sie fernen Gesang … feine, schöne Stimmen in Trauer verwoben, ohne Zweifel ein Klagelied für Sam. Für ihn, der stets das Ziel vor Augen gehabt hatte, Elben zu sehen, wäre diese sphärische Gesang sicher eine reine Freude gewesen. Doch nun konnte Sam Bruchtal nicht mehr sehen. Wenigstens hatte er mit Gildor noch Elben kennengelernt, aber das vermochte Sophie nicht wirklich zu trösten. Sam war nicht länger Teil dieser Geschichte, und es gab nichts auf dieser Welt, was diese Tatsache ändern konnte.
Mochte sich Sophie in heimischen Wäldern häufig verlaufen (weswegen „Blair Witch Project" für sie auch der Horrorschocker schlechthin war), so kam sie doch in Städten, selbst wenn sie so exotisch und naturbelassen waren wie Bruchtal, recht gut zurecht.
Das hinderte sie allerdings nicht, vor Schreck zusammenzufahren, als jemand sie plötzlich am Ellbogen festhielt.
Als sich Sophie rasch umwand, um herauszufinden, wer sich erdreistete, Ellbogengrabscher zu spielen, war sie schon wieder froh, dass sie instinktiv einen Aufschrei unterdrückt hatte, denn das wäre doch sehr peinlich geworden. Vor ihr stand nämlich niemand geringeres als ein alter Mann mit einem langen, grauen Bart, einer grauen, abgewetzten Robe und einem Spitzhut. Fortgeschrittenes Alter und Weisheit prägten die Züge des Alten, wobei humorvolle, freundliche Augen jede Scheu von Sophie nahmen. Es gab hier überhaupt keinen Zweifel, wer das war.
„Gandalf! Da seid Ihr ja endlich, ich hatte Euch schon vermisst! Ihr müsst Probleme gehabt haben … nicht wahr?"
Huuups … da hatte das Menschenmädchen wohl etwas zuviel geplappert. Als würde der Redefluss dadurch nachträglich gestoppt, hielt die voreilige Träumerin erschrocken eine Hand vor dem Mund. Oh nein, erste Begegnung mit Gandalf und dann so etwas. O-ber-pein-lich.
„Man hatte mir schon gesagt, dass du so reagieren würdest.", sagte Gandalf mit einem verschmitzten Lächeln, während Sophie sich in schöner „Per Anhalter durch die Galaxis"-Manier einen Button mit großen, freundlichen Lettern „Don't panic" ins Gedächtnis rief und innerlich fluchte, dass sie kein Handtuch dabei hatte. Doch der Zauberer ließ sich nicht beirren oder gar aus der Ruhe bringen.
„Komm, gehen wir ein Stück."
Es dauerte nicht lange, da hatte der graue Pilger das Mädchen an einen ruhigen, abgelegenen Tisch, auf dem irgendwer zwei Tassen abgestellt hatte. Die Flüssigkeit darin – vermutlich Tee – war schon seit einiger erkaltet und daher mit großer Wahrscheinlichkeit ungenießbar. Der Zauberer musste schon seit einiger Zeit auf der Suche nach Sophie sein, ihn schien jedoch der kalte Tee nicht weiter zu stören, während kalter Tee bei dem Mädchen ein Schaudern auslöste.
„Weißt du, es gibt einige Geheimnisse, die müssen ans Tageslicht gebracht werden, andere Geheimnisse sollten lieber in den Schatten weilen. Dein kleines Geheimnis ist mittlerweile Elrond, Erestor, Glorfindel, mir und dir selbst bekannt, und das soll vorerst auch so bleiben."
Der Zauberer atmete tief durch, offensichtlich suchte er nach Worten. Sophie konnte es ihm nicht verübeln, immerhin war die Situation mehr als nur außergewöhnlich. Schließlich besann sich Gandalf offenkundig auf den einfachsten Weg.
„Was weißt du über mich?"
Das war wirklich direkt. So direkt, sodass das Menschenmädchen zunächst etwas irritiert reagierte und sich mit der Antwort Zeit ließ. Um es nochmals zu betonen, Sophie hatte nicht nur den „Herrn der Ringe" verschlungen, sie hatte ebenso das „Silmarillion" in allen Einzelheiten gelesen und war darüber hinaus Rollenspielerin nach dem Tolkien-System. Sie wusste, dass Gandalf ein Istari, also in Wirklichkeit ein Maia war, noch dazu ziemlich alt und weise.
„Du bist ein Maia ... wie Sauron. Du kommst vom Anfang der Zeit.
Deine Rolle in dieser Geschichte ist sehr bedeutend, deswegen ist viel und zugleich sehr wenig über dich bekannt."
Welch poetischer Einwurf. Da man gerade sehr ehrlich miteinander sprach, ließ das Mädchen auch die Regeln der Höflichkeit unter den Tisch fallen und duzte den ehrwürdigen, grauen Pilger, welcher mit besorgter, jedoch nicht unfreundlicher Miene die Antwort der Träumerin zu Kenntnis nahm. Es dauerte eine Weile, bis sich auf dem ernsten Gesicht wieder ein freundliches Lächeln zeigte.
„Ich verstehe … nun, wir werden sehen, inwieweit meine Rolle noch gedeihen mag. Doch mehr davon, wenn Elronds Rat tagt. Ich nehme an, du kennst auch meinen wahren Namen?"
„Niënna nennt dich Òlorin."
„Ich möchte dich bitten, diesen Namen niemals in der Öffentlichkeit zu verwenden. Du musst wissen, dass der wahre Name in diesen Gefilden große Macht birgt. Jene, die Macht über Namen haben, kontrollieren manchmal auch die Träger dieser Namen. Sei also bitte vorsichtig. Übrigens bist du mir gegenüber jetzt im Vorteil ..."
Gandalfs Gesichtsausdruck wurde gleich nach der Ermahnung, vorsichtig zu sein, wieder milder. Sogar die Lachfältchen kehrten wieder zurück und Sophie hatte das Gefühl, sich nunmehr entspannen zu können, jetzt, da die Atmosphäre sich wieder lockerte.
„Das soll nicht so bleiben. Ich schlage einen Handel vor: Ich vergesse alles, was ich über dich gelesen habe und nenne dich Gandalf und du vergisst Elronds hochtrabende Bezeichnung für mich und nennst mich Sophie."
„Abgemacht!"
Das Menschenmädchen hatte eigentlich gedacht, dass der ehrwürdige graue Pilger wie der Weihnachtsmann lachen würde. Hohoho ... so in etwa. Vermutlich lag es daran, dass Gandalf der europäischen Vorstellung des Weihnachtsmannes gut entsprach, wenn man mal von der Tatsache absah, dass Gandalf grau trug und nicht rot. Man muss sich als Leser die Frage stellen, ob Tolkien bei dem Entwurf dieses Charakters nicht Ähnliches im Sinn hatte oder ganz einfach einen sympathischen Merlin erschaffen wollte. Fakt blieb, dass Sophie eines Besseren belehrt wurde. Der altehrwürdige Maia vor ihr hohote nicht, er gluckste nur leise. Dies war auch der Moment, in dem das Menschenmädchen anfing, den Zauberer richtig gern zu haben.
„Schön, dass wir darüber gesprochen haben ... ich hätte da eine Frage. Vielleicht kannst du sie mir beantworten."
„Nun?"
„Weißt du, warum ich hier bin? Ich meine, natürlich, ich habe soeben vergessen, was du für Kontakte zur Obrigkeit hast, aber dennoch ... wenn jemand etwas über meine Anwesenheit weiß und wie ich wieder zurückkomme, dann ..."
... bist du es. Diesen Satz führte Sophie nicht zu Ende, sondern beschränkte sich darauf, den Zauberer vor sich erwartungsvoll anzuschauen. Dieser hatte sich in der Zwischenzeit seine Pfeife zur Hand genommen und diese sorgfältig gestopft, nur um diese nun anzuzünden und sich in bedächtiger Manier zurückzulehnen und sein Pfeifchen zu genießen. Überhaupt wirkte alles an Gandalf bedächtig. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wirkte er höchst scharfsinnig. In diesem Geist mussten Antworten in Hülle und Fülle liegen.
„Keine Ahnung."
„Bitte was?"
„Ich habe keine Ahnung."
Gandalf hatte keine Ahnung. Der Verblüffungsgrad des Menschenmädchens stieg in kosmische Höhen. Der graue Pilger schien sich an ihrer Verwirrung nicht weiter zu stören, sondern fuhr mit einem Gleichmut fort, um den ihn Sophie beneidete. Sie musste sogar einen Kloß im Hals herunterschlucken, als ihr bewusst wurde, dass noch nicht einmal der allwissende Gandalf ihr sagen konnte, was geschah.
„Hör mich an, Sophie von der fremden Melodie. Ich mag zwar viele Antworten haben, doch jene, die du haben willst, verschließt sich mir vollkommen. Ich werde dir helfen, so gut ich es vermag. Vielleicht, vielleicht liegt diese Antwort ja auch allein bei dir. Ich kann es dir nicht sagen. Stellen wir uns doch eine andere Frage: Kannst du auf das, was du siehst, Einfluss nehmen?"
„Hä?"
Wie unelegant! Innerlich schalt sich die Träumerin wegen der Grunzlautfrage, während Gandalf sich schnellstens daran machte, seine Frage umzuformulieren.
„Kannst du Dinge bewegen oder beinflussen?"
Ach, er sprach von Telekinese. Warum hatte der Zauberer das nicht gleich so formuliert? Doch Sophie zuckte nur mit den Schultern und brummelte ein „Weiß nicht", da ihr die Situation gerade sehr blöd vorkamen. Telekinese konnte man in Mittelerde nicht, Telekinese konnten nur Mary Sues in Fanfictions, die mithilfe ihrer Jedi-Kräfte Legolas retteten und sodann von ebenjenem um den Verstand gevögelt wurden.
Sophie war allerdings keine Mary Sue.
Doch wo das Mädchen Bedenken hatte, ließ Gandalf sich nicht beirren.
„Versuch es mal mit dieser Teetasse. Versuch sie zu bewegen. Na komm, vielleicht ist es ganz leicht."
Oh, und Sophie versuchte es, sie versuchte es wirklich.
Doch es geschah – wie erwartet – nichts.
Die Teetasse rührte sich nicht.
An dieser Situation konnte auch Gandalfs leises Lachen nichts ändern, obgleich dieser mit einem gut gemeinten Ratschlag aufwarten konnte.
„Du versuchst, die Teetasse mit deinem Willen zu bewegen. Das bringt aber nichts. Dein Wille ist nichts. Du musst aufhören, zu wollen, tu es einfach.
Vielleicht hilft es dir so weiter: versuche nicht, die Teetasse zu bewegen, sondern stelle dir einfach vor, du wolltest den Tee trinken."
„Er wird aber abscheulich schmecken.", warf Sophie mit trockener Stimme und gerunzelter Stirn ein.
„Ach, unerheblich. Hör auf zu denken und tu es einfach.", schmunzelte Gandalf, wobei das ganze Gesicht von Amüsement kündete. Er machte sich nicht wirklich über Sophie lustig, nein, er versuchte lediglich, der gesamten Situation die Spannung zu nehmen und so die Zweifel des Mädchens zu beseitigen.
Also, nicht wollen, nicht versuchen, einfach machen. Das klang sehr einfach, doch es dämmerte der Träumerin, dass es nicht funktionieren konnte. Wenn alle Menschen, die sich auf gar nichts konzentrierten, Telekinese betreiben würden, wäre dies eine mittelschwere Katastrophe und die Welt wäre schon von ein paar Dr. No's unterjocht worden.
Doch zurück zum aktuellen Geschehen. Tee sollte Sophie trinken. In Ordnung, sie ignorierte die Tatsache, dass der Tee mittlerweile eiskalt und abscheulich war. Nein, sie stellte sich lecker heißen Tee vor. Heiß. Lecker. Heiß und lecker. Au ja, Tee wäre jetzt eine gute Idee, sie hatte ohnehin Durst …
Es geschah trotzdem nichts. Dass der Tee plötzlich angefangen hatte, zu kochen, war nicht wirklich von Bedeutung.
Nein, Scherz beiseite. Es geschah wirklich nichts. Keine Übersinnlichkeit, keine geheimnisvolle Macht, keine Schwebezustände, keine Manipulation der Moleküle. Es gab in der Tasse nichts, wenn man mal vom kalten Tee absah, und der bewegte sich übrigens kein Stück.
„Huh ...", murmelte Gandalf und zog nochmals an seiner Pfeife. Genauso gut hätte er allerdings sagen könnten: Nimm es mir nicht übel, ich habe immer noch keine Ahnung.
Wenigstens war er ehrlich. Zumindest teilweise.
