Kapitel 2: Ein seltsames Schreiben
Nadja träumte von Schlangen, von feurigen Schlangen, die sich durch ihre Eingeweide wanden und ihren Körper innerlich verbrannten. Ab und zu durchdrang eine freundliche Frauenstimme den grauen Nebel aus Schmerz und Durst und löschte letzteren mit einigen Tropfen einer bitteren Flüssigkeit. Doch der Durst kam rasch wieder und die Schlangen ließen sich auch nicht vertreiben. Manchmal träumte sie auch von einem Mann mit einem flachen, schlangengleichen Gesicht, der grüne Blitze auf sie schleuderte. Sah, wie er sie rief und auf sie hetzte, erkannte ein brennendes Mal auf ihn und ein anderes Mal auf den Armen seiner Verbündeten. Kamen solche Träume, rannen ihr jedes Mal Tränen über das Gesicht. Nichts hatte mehr einen Sinn, wenn sich Marionetten so rasch vermehrten, doch dann spürte sie eine vom Alter gezeichnete Hand auf ihrer und hörte beruhigende Worte. Gelegentlich verschwanden dann die Träume, doch nicht immer.
Nach fast einer ganzen Woche kam sie das erste Mal wieder großteils zu sich. Ihr Körper brannte noch immer innerlich, doch sie nahm ihre Umgebung wieder wahr. Sie war nicht alleine. An ihrem Bett saß ein dunkel gekleideter Mann mit einer, freundlich gesagt, markanten Nase. Als er bemerkte, dass sie wach war, verhärtete sich sofort sein Blick und seine glitzernden schwarzen Augen wirkten wie schwarze Löcher, die alles in sich aufsogen, aber nichts von sich selbst verrieten. Nadja blinzelte verwirrte, sie hatte fest damit gerechnet überhaupt nicht mehr aufzuwachen. Und vor allem, wo war sie überhaupt?
„Madam Pomfrey, ich glaube unser Schützling ist endlich zu sich gekommen!", rief der Fremde, während er sich erhob und sie abschätzend musterte. Instinktiv konzentrierte sich Nadja auf die Gefühle ihres Gegenübers und erkannte Neugier, gepaart mit Sorge und vager Erleichterung. Doch tiefer konnte sie in die Gefühlswelt des Fremden nicht vordringen, sie glaubte gegen eine Eismauer zu rennen, was ziemlich ungewöhnlich war. Offenbar hatte der Fremde etwas gemerkt, sicherlich nicht mehr als das vage Gefühl beobachtet zu werden, und wich vor ihrem Bett zurück, den Blick aus den schwarzen Augen nicht von ihr lassend.
Plötzlich betrat eine Frau mittleren Alters den Raum. Sie warf einen etwas unbehaglichen Blick auf den merkwürdigen Fremden, der sich nun ganz in eine Ecke zurückgezogen hatte, ehe sie sich endlich ihr zuwandte. „Bei Merlins Bart, was für ein Glück, dass das Gift endlich seine Wirkung verloren hat!" Ihre Stimme wirkte freundlich, gutherzig aber auch streng. Nadja versuchte zu sprechen, doch die Frau winkte schnell ab. „Sag lieber nichts, du musst dich noch schonen!"
„Wäre es nicht klug endlich zu erfahren, wer die Eltern von der Kleinen sind und vor allem wer sie eigentlich ist?", drang es samten aus der Ecke.
Nadja war verwirrt. Sie war zwar nicht groß, aber richtig klein nun auch wieder nicht. Und warum wollte der Mann etwas über ihre Eltern wissen? Wusste er vielleicht...? Der Ring! Sie warf einen kurzen Blick auf ihren Ringfinger und begriff. Der Silberring steckte noch immer dort, wenn auch dieses dort ihr nicht mehr so richtig vertraut war. Ihre Hände waren kleiner und zierlicher als sonst. Der Zauber hatte also tatsächlich gewirkt!
„Sie muss sich noch schonen", entgegnete die Frau, offenbar eine Ärztin oder Schwester. „Sie mag zwar endlich bei Bewusstsein sein, doch das Fieber ist kaum gesunken. Aber Sie können Dumbledore Bescheid sagen, wenn Sie sich nützlich machen wollen."
Nadja zuckte erschreckt zusammen und warf einen Blick zu dem Fremden. Sie musste nicht seine Gefühle lesen um zu wissen, dass die Worte wie eine Ohrfeige waren, doch sie konnte keine Gefühlsregung im Gesicht erkennen. Im Gegenteil, er schien sogar erleichtert darüber zu sein, weggeschickt zu werden und rauschte ab.
„Du brauchst keine Angst vor Professor Snape zu haben", sprach die Frau beruhigend, nachdem sich die Tür hinter dem Schwarzen geschlossen hatte. „Er hat dich im Verbotenen Wald gefunden. Keine Ahnung, was er dort zu suchen hatte, aber er hat wohl dein Leben gerettet. Ich weiß noch immer nicht, was dich gebissen hat, aber schon allein der Blutverlust hätte dich töten können."
Nadja verstand nicht, was sie ihr damit sagen wollte. Dieser Snape hatte nicht unheimlich auf sie gewirkt, eher traurig und verbittert. Doch sie fühlte sich tatsächlich noch immer sehr schwach und verzichtete daher darauf zu antworten. Wahrscheinlich wäre sie es diesmal gewesen, die nicht verstanden worden wäre.
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Professor Albus Dumbledore! Rishkan und Tarson hatten so einiges von ihm berichtet und entgegen Tarsons Gewohntheit sogar eine ganze Menge Gutes. Nun, sie hatten anscheinend Recht behalten. Dieser Dumbledore sah so aus, wie man sich für gewöhnlich den weisen Merlin vorstellte. Uralt mit weißem, langen Bart aber einem Auftreten, das dem ersten schwachen Eindruck Lügen strafte. Als sie dem Zauberer in diese gütigen aber Macht ausstrahlenden Augen blickte, wusste sie, warum man sie ausgerechnet zu ihm geschickt hatte. Dieser Mann würde verstehen und nicht sofort die Seiten wechseln. Er würde begreifen, was sie war, wer sie war, was vorging und er würde ihr für die ihm dargebotene Hilfe dankbar sein, ohne diese als Falle oder bloßen Unsinn abzutun. Verstehen und Begreifen, das war das Wichtigste. Doch dafür musste er erst einmal wissen, was tatsächlich vor sich ging. Nun war der Brief an der Reihe, jener Brief, den jetzt wahrscheinlich dieses Flachgesicht las oder an dem sich Flachgesicht die Finger verbrannt hatte, wahrscheinlich letzteres. Rishkan pflegte auch wesentlich belanglosere Post magisch zu versiegeln und erst recht derart wichtige Briefe. Nicht einmal Tarson konnte ein solches Siegel brechen, Flachnase hatte es wahrscheinlich erst dann bemerkt, als der Großteil seiner Hand verkohlt war. Nadja hatte wenig Mitleid mit ihm.
Der alte Zauberer setzte sich an ihr Bett und lächelte ihr aufmunternd zu. Würde er noch so lächeln, wenn er wusste, was vor sich ging? Er musste es wissen und zwar schnell. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch ihr fehlte schlicht und einfach die Kraft dazu. Verfluchte Schlange!
„Ganz ruhig. Es ist besser, wenn du liegen bleibst. Professor Snape hat dich draußen im Verbotenen Wald gefunden, schwer verletzt. Aber das hat dir Madam Pomfrey sicherlich schon erzählt."
Nadja nickte und blickte zu dem schwarzen Mann. Der tat so, als hätte er diese Worte nicht gehört oder als würden sie ihn überhaupt nichts angehen.
„Sollen wir dir vielleicht deine Sachen bringen?", mischte sich Madam Pomfrey ein.
Nadjas Augen weiteten sich. „Es... gibt sie noch?" Sie erschauderte über den kratzenden Klang ihrer Stimme.
„Aber natürlich. Die Sachen, die wir bei dir fanden", antwortete Dumbledore lachend.
„Brief... wichtig... sehr. Für Euch", wieder versuchte sie sich aufzusetzen, diesmal mit mehr Eifer, und wäre beinahe aus dem Bett gefallen, wenn sie der alte Zauberer nicht gestützt hätte.
„Severus, könntest du die Sachen dieser jungen Dame holen?" Sein Blick war zwar noch immer freundlich, doch hatte sich auch eine Spur von Besorgnis hineingeschlichen.
Professor Snape kam zum Bett zurück, in seinen Händen ihren Rucksack, und reichte ihn ihr. Sofort riss ihn Nadja auf und suchte nach dem versiegelten Schreiben. Das erste, auf was sie stieß, war eine metallene Figur – der Glücksbringer war ihr also tatsächlich geblieben – und dann schlossen sich ihre Finger um das Pergament. Wenn Nadja nicht so schwach gewesen wäre, sie hätte einen Freudentanz aufgeführt, doch so beließ sie es bei einem erleichterten Strahlen und reichte Albus Dumbledore das Schreiben. „Es erklärt... alles... fast alles."
Dumbledore wechselte einen fragenden Blick mit diesem Snape, der nur unwissend mit den Schultern zuckte. Dann las er, zu Nadjas Schrecken laut: „Streng geheim! Sehr wichtig! Nur für die Augen von Albus Dumbledore bestimmt! Andere tun gut daran, das Siegel nicht zu brechen!" Dumbledore lächelte angesichts dieser Formulierung, doch das änderte sich schlagartig, als plötzlich weitere Buchstaben erschienen.
„Severus, könnest du uns kurz alleine lassen, und auch Sie, Madam Pomfrey?"
Nadjas Augen wanderten zu dem schwarzen Zauberer. Für einen einzigen Augenblick glaubte sie eine Spur von Verletzung in seinem Gesicht zu erkennen, doch dann nickte er nur und verließ zusammen mit der Ärztin(?) das Krankenzimmer. Erst dann öffnete Dumbledore den Brief.
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Der alte Zauberer hatte das Schreiben dreimal gelesen, doch der Inhalt änderte sich nicht. Es war ein langer Brief gewesen, mehrere Seiten dicht beschrieben.
Erst jetzt sah er auf. Er war müde und fühlte sich ausgelaugt.
„Ich weiß nicht ganz, was ich von dem Schreiben halten soll", begann er schließlich mit brüchiger Stimme. „Doch ich glaube Euch Und Ihr seid demnach Nadjeschda Maiavand."
Nadja nickte kurz.
„Hier steht, Ihr seid… nun, etwas älter."
Sie lächelte sanft. „Das bin ich auch, doch ich habe vor... zu bleiben. Als Erwachsener falle ich zu sehr auf. Die meisten von ihnen wissen, wer ich bin und das könnte Hogwarts mehr in Gefahr bringen, als es schon ist. Doch ohne einen von uns seid ihr ihnen und ihren Agenten hilflos ausgeliefert."
„Ihr seid nicht alleine", warf der Direktor ein.
„Aber ich bin die einzige, die ein solches Schauspiel so halbwegs überzeugend zustande bringt. Nein, Tarson ist besser, doch er gibt einen ausgezeichneten Spion bei Voldemort ab. Rishkan hat Probleme damit irgendeine Autorität zu akzeptieren, was ihn in Schwierigkeiten bringen könnte, und Anatol verachtet im Grunde seines Herzens Menschen; er kann ganz schön unangenehm werden, wenn er dazu gezwungen wird mit ihnen für eine längere Zeit zusammenzuleben. Außerdem sind seine Ernährungsgewohnheiten ein wenig – ungewöhnlich." Nadja verstummte. Sie konnte sich kaum noch auf das Gespräch konzentrieren. Am liebsten wäre sie sofort eingeschlafen.
Dumbledore nickte, offenbar hatte er gemerkt, wie erschöpft sie war. „Gut, dann wird also nicht Nadjeschda Maiavand, sondern Nadja Delano dieses Jahr eine Schülerin von Hogwarts werden. Und jetzt sollten wir uns beide nach der ganzen Aufregung ein wenig Ruhe gönnen."
Sie war dem alten Mann dafür dankbar und kaum hatte er den Raum verlassen, war sie auch schon eingeschlafen. Diesmal störten keine schrecklichen Feuerschlangen ihre Träume.
