Kapitel 5: Einhorn

Anders als ein gewisser Potter, wie man ihr gesagt hatte, verfügte Nadja über keinen Tarnumhang, doch sie kannte andere Tricks sich praktisch unsichtbar zu machen, die ganz oder fast ohne Magie funktionierten. Einmal war Snape wie eine übergroße Fledermaus direkt an ihrem Versteck vorbeigerauscht und die Katze des Hausmeisters verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Anders als die anderen Schüler war sie auf die blendende Idee gekommen Freundschaft mit ihr zu schließen – das ganze hatte ihr nur den Inhalt einer Sardinendose gekostet – und so war sie kein bisschen überrascht, dass Filch persönlich nicht aufkreuzte. Nein, das Schloss bereitete keine Probleme. Die begannen erst draußen. Der Weg zum Wald bot kaum Deckung, schon gar nicht in einer Vollmondnacht wie dieser, und während drinnen nur einige Schulpunkte auf dem Spiel standen, konnte sie hier draußen ihre Wanderung ganz schnell mit dem Leben bezahlen. Sie glaubte nicht wirklich daran, dass Professor Snape sie noch einmal zufällig entdecken und retten würde.

Wie ein lautloser Schatten huschte sie ins Unterholz, still betend nicht vom Schloss aus gesehen worden zu sein. Die Bäume warfen lange Schatten und tauchten den Wald trotz der hellen Nacht in undurchdringliche Schwärze. Wenn sich noch hie und da eine Wolke vor dem Mond schob, wurde es sogar so dunkel, dass sie nicht einmal die Hand vorm Gesicht sehen konnte. Mehr als einmal stolperte sie über eine Wurzel oder einen Stein und einmal flog sie sogar auf die Nase, als sie in einen Kaninchenbau einbrach. Irgendwann hörte sie ein Frucht erregendes Schnauben nicht weit von ihr und dann bahnte sich irgendetwas von der Größe eines Elefanten – dem Lärm nach – durch das Unterholz, dass sie wie ein verschrecktes Kaninchen verharrte.

Sie hatte keine Ahnung, wo sich Anatol befand. Sie hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wo sie eigentlich war. Die Lichter des Schlosses waren schon lange nicht mehr zu sehen. Da wurde sie von etwas niedergestoßen. Nadja landete bäuchlings auf dem Boden, war aber schon im nächsten Augenblick wieder auf den Beinen und hielt einen blitzenden Dolch in der Hand. Sie war ziemlich überrascht, als sie erkannte, was sie vor sich hatte. Vor ihr stand ein leibhaftiges Einhorn. Nicht die kleinen weißen Wesen von zu Hause, die gerade mal die Größe eines Rehs erreichten und auch sonst wie ein solches aussahen, sondern eines, das tatsächlich an ein Pferd mit Horn erinnerte. Nadja ließ sich von dem bezaubernden Anblick nicht täuschen. Einhörner waren alles andere als harmlos und konnten den Tod bedeuten, wenn man sie reizte. Sie steckte zuallererst den Dolch wieder weg und machte einen Schritt zurück.

Das Einhorn starrte sie aus unergründlichen Augen an, die viel zu klug für ein Pferd waren, und scharrte unruhig mit den Hufen im weichen Waldboden. Nadja war eindeutig unerwünscht, wie sie feststellen musste. Sie machte einen weiteren Schritt zurück und musste sich sehr zusammennehmen, nicht Hals über Kopf davon zu stürmen. Dann hätte sie das Einhorn garantiert verfolgt, und selbst bei ausreichendem Licht und auf einer guten Straße wäre diese Flucht nach einigen wenigen Metern zu Ende gewesen.

„Ich will dir nichts tun und auch nicht deinem Wald", erklärte sie ihm, wohl wissend, dass es sie verstand. „Ich suche nur jemanden, den du wahrscheinlich kennst." Hingegen hatte es keinen Zweck Anatols Namen zu nennen. Mit Namen konnten Einhörner absolut nichts anfangen, zumindest nicht zu Hause.

Das Einhorn schnaubte nur verärgert und sprintete plötzlich auf sie zu. Nadja sprang gerade im letzten Augenblick zur Seite und landete ziemlich ungemütlich in einem dornigen Gebüsch. Doch schon wendete der Angreifer mit atemberaubender Schnelligkeit und stürmte wieder mit kampfbereit gesenktem Horn auf sie zu. Nadja schrie auf vor Panik, riss sichdie blutigen Kratzer ignorierend los und entkam auch diesmal, wenn auch noch knapper als beim letzten Mal. Doch nun stand sie mit dem Rücken zu einer gewaltigen Eiche, während das Einhorn erneut zum Angriff überging. Diesmal versuchte sie einen Ast des Baumes zu erwischen, rutschte ab und landete benommen wieder auf dem Boden. Das Einhorn stand praktisch vor ihr, hatte sich von ihrer Aktion nicht ablenken lassen und würde sie im nächsten Augenblick mit seinem Horn durchbohren…

Es kam nie dazu. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören, als ein rehgroßes Tier mit reinweißem Fell direkt vor ihr aus dem Unterholz brach und sich gegen die Flanke des angreifenden Einhorns warf. Dieses wieherte entsetzt, es klang nicht wirklich wie das Wiehern eines Pferdes, und wich vor dem viel kleineren Wesen zurück. Das weiße Reh hatte sich mittlerweile schützend vor Nadja gestellt und starrte mit seinen dunklen Augen so lange das Einhorn an, bis dieses irritiert den Rückzug antrat.

Nadja hätte am liebsten das weiße Reh umarmt, so froh war sie es zu sehen, doch als sie plötzlich die Spitze eines Horns an ihrer Kehle spürte, ließ sie diesen Gedanken lieber fallen. Denn auch dieses Reh trug ein Horn auf der Stirn. Wenn man es genauer betrachtete, konnte man eine ganze Menge von Dingen erkennen, die nicht zu einem Reh gehörten. So hatte es einen richtigen Löwenschwanz, der nun eindeutig zornig hin und her peitschte, eine kurze Stachelmähne wie bei Wildpferden und Zebras und so etwas wie einen Ziegenbart am Kinn. Dieser war genauso wie Mähne und die Quaste des Schwanzes schwarz und im Dunkeln kaum zu erkennen. Auch das war trotz der beträchtlichen Unterschiede ein Einhorn, und zwar eines aus ihrer Heimat.

Das Einhorn nahm das spitze Elfenbeinhorn wieder weg und verpasste ihr mit seinem rechten Vorderhuf einen kaum spürbaren Tritt. „Was hast du hier im Wald zu suchen?", zischte es sie an, ohne dass die Worte den Umweg über die Ohren nahmen. Einhörner besaßen keine Stimmbänder, verfügten aber über ausgezeichnete telepathische Fähigkeiten.

„Dich suchen", gab Nadja laut zurück und richtete sich auf. Sie sah schrecklich aus. Dort, wo die Dornen nicht ihre Schuluniform zerfetzen hatten können, hatten sie es bei ihrer Haut versucht. Sie musste aussehen wie ein Möchtegernfakir.

Der Wald ist gefährlich", fauchte Anatol und machte einen Schritt zurück, um sie ganz betrachten zu können. „Erst recht bei Vollmond. Es gibt hier Werwölfe, wenn du es nicht weißt, und die können um diese Zeit sehr unangenehm sein. Die Zentauren sehen in jedem Menschen, der den Wald betritt einen Feind und sind bei der Art diesen zu beseitigen nicht gerade zuvorkommend. Und dann gibt es auch noch die Einhörner, vor denen vor allem du dich lieber in Acht nehmen solltest."

„Ich werd 's mir merken."

Das kleine Einhorn schüttelte ungläubig den Kopf. „Also, du wolltest mich sprechen?"

Erst jetzt erinnerte sich Nadja wieder an den Grund ihrer nächtlichen Wanderung. „Ach ja genau, da ist eine Lehrerin. Sie wollte mich wegen der Schlange ausfragen und…"

Einhörner konnten nur sehr schlecht die Stirn runzeln, dazu fehlte es ihnen an Gesichtsmuskeln, doch dieses brachte das Kunststück zusammen. „Schlange? Welche Schlange?"

Mit einem unguten Gefühl erinnerte sie sich daran, dass Anatol, Tarson und sogar Rishkan noch gar nichts von ihrem ersten Zwischenfall im Verbotenen Wald wussten. In kurzen Sätzen berichtete sie von dem Flachgesicht (angeblich dieser Voldemort), der Schlange, die keine Schlange war, ihrer Rettung durch diesen Professor Snape, ihrem Gespräch mit Dumbledore und schließlich von Professor Pawn.
„Ich bin mir ganz sicher, dass sie versucht hat, mit Magie meine Willen zu breche. Beinahe hätte ich ihr alles erzählt!"

Anatols Zorn war angesichts der Erzählung verflogen und nun lag er auf dem weichen Waldboden, direkt vor Nadja, die sich wieder gesetzt hatte, und lauschte ihr mit halbgeschlossenen Augen. Nadja wusste, dass er dann am aufmerksamsten war. „Ein Einfluss- oder gar ein Beherrschungszauber", stellte er schließlich fest. „Offensichtlich kein besonders guter oder…" Er öffnete seine Augen wieder ganz und warf einen abschätzenden Blick auf sie. „… er ist nur bei Menschen besonders gut. Schade, dass Rishkan nicht hier ist. Dem hätte es Spaß gemacht, das Rätsel zu lösen."

„Ich hatte ein ganz eigenartiges Gefühl", versuchte Nadja genauer zu erklären. „Es war… als ob ich aus großer Höhe stürzen würde und… Schwer zu beschreiben. Aber ich bin mir fast sicher, dieses Gefühl schon einmal gehabt zu haben, und wenn ich daran denke, bekomme ich panische Angst." Sie erschauderte unwillkürlich. „Sie könnte es noch einmal versuchen, und vielleicht hat sie dann etwas mehr Glück."

Das Einhorn nickte und erhob sich geschmeidig. „Es ist spät, fast so spät, dass man schon wieder früh sagen könnte. Ich denke, du bist ohne Einverständnis hier unterwegs. Du solltest dich also langsam wieder auf den Heimweg machen."

„Aber wenn das Einhorn oder…"

„Ich begleite dich natürlich bis zum Waldrand. Vielleicht treibt sich ja noch deine Schlange herum."

Nadja nickte. Wenn Anatol in einem solchen Ton sprach, dann nützte es nicht viel ihn zu überreden. Außerdem wollte sie das gar nicht.
Eine halbe Stunde später trennten sie sich, Nadja eine Spur erleichterter, Anatol um einiges besorgter.

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Ich bin gerade draufgekommen, dass ich einen schrecklichen Kapitelverschleiß habe, aber was soll's (noch keine Panik). Hier ist Anatols erster großer Auftritt. Für alle, die vielleicht ein wenig enttäuscht sind, um ihn gibt es noch einige wichtige Geheimnisse, die es zu lüften gilt.

Cyberrat: Ja, ja, Pawn und Voldemorts neuen Freund verbindet eine ganze Menge, aber etwas anders, als man vielleicht meinen möchte. Mehr darf ich aber über die beiden nicht verraten.

Sevina: Keine Sorge, Snapes Kurzurlaub in der Geschichte ist im nächsten Kapitel zu Ende.