Kapitel 6: Ertappt
Nadja war beim Herausschleichen vorsichtig gewesen, im Verbotenen Wald hatte sie ungeheures Glück gehabt, doch nun war sie einfach nur zerkratzt und sehnte sich nach dem bequemen Himmelbett im Schlafsaal. Sie malte sich richtig aus, wie köstlich es wäre in den weichen Federn zu versinken, die warme Bettdecke über ihren frierenden Körper zu ziehen und genüsslich die Augen zu …
…und lief dabei Professor Snape buchstäblich in die Arme. Nadjas Herz setzte vor Schreck für einen Augenblick aus und arbeitete dann so eifrig weiter, dass sie das heftige Pochen regelrecht hören konnte.
„Sieh einer an. Da haben wir Miss Delano beim Morgenspaziergang überrascht!" Die Stimme war schneidend und weckte sie nun vollständig auf. „Ist es nicht ein wenig zu früh dafür?"
Nadja geriet in Panik. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie unterwegs gewesen war. Sie hatte den Schlafraum kurz nach Mitternacht verlassen und es konnte tatsächlich kurz vorm Morgengrauen sein. Snape schien jedenfalls wenig begeistert zu sein und dann fiel ihr auf, dass er sie so leicht hatte abpassen können. Kein Mensch, nicht einmal jemand wie Snape, schlich freiwillig die ganze Nacht durch das Schloss, um mögliche Regelbrecher aufzustöbern. Er musste auf sie gewartet haben, um sie auf frischer Tat zu ertappen, was bedeutete, dass er sie bei ihrem Marsch über die vom Mond beleuchtete Wiese gesehen haben musste. Das lag Stunden zurück! Kein Wunder, dass er schlecht gelaunt war.
„Anscheinend bekommen Sie gar nicht genug vom Verbotenen Wald. Mitkommen!"
Nadja schluckte. Antworten hatte keinen Sinn. So folgte sie ihm wortlos und wünschte sich im Stillen wieder zurück zu dem angriffslustigen Einhorn.
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Nadja war noch nie in Snapes Kerker gewesen – die erste Zaubertrankstunde war erst morgen – doch es behagte ihr schon jetzt ganz und gar nicht. Normalerweise mochte es dort vielleicht gar nicht so kalt sein, doch dies war auch keine ganz normale Zeit. So stand sie frierend vor Snapes Schreibtisch und betrachtete aus den Augenwinkeln die eingelegten Tierchen in den Regalen.
„Ist Ihnen überhaupt klar, wie spät es ist?", fuhr er sie an.
Sie schüttelte nur ihren Kopf. Sie wusste es wirklich nicht.
„Um halb eins haben Sie den Verbotenen Wald betreten und um halb vier sind Sie zurückgekommen. Können Sie mir verraten, was Sie drei Stunden lang dort getrieben haben?"
„Ich habe ein Einhorn gesucht", gestand ihm Nadja mit bebenden Lippen.
„Und, welche gefunden?", blaffte er sie an.
„Sogar zwei", antwortete Nadja wahrheitsgemäß und bereute es sofort. Jegliche Farbe wich aus Snapes ohnehin blassem Gesicht. Er konnte ja nicht wissen, dass ihre Antwort der Wahrheit entsprach.
„EINHÖRNER SUCHEN! UM DIESE ZEIT! UND AUSGERECHNET IM VERBOTENEN WALD!", schrie er sie an. „IM VERBOTENEN WALD GIBT ES AUCH GEFÄHRLICHERE WESEN ALS EINHÖRNER! NICHT UMSonst heißt er Verbotener Wald." Der Professor hatte sich wieder etwas beruhigt und Nadja wollte ihn nicht weiter reizen, indem sie ihm erklärte, dass es nicht viele Wesen gab, die gefährlicher waren als ein gereiztes Einhorn. Er hätte es wahrscheinlich auch dann nicht verstanden, wenn er keine drei Stunden auf sie gewartet hätte.
„Außerdem darf nach zehn kein Erstklässler mehr durch die Gänge schleichen, und der Verbotene Wald darf ohne Aufsichtsperson von keinem Schüler betreten werden. Das gilt auch für Sie, vor allem für Sie", fuhr er in einem lauernden Tonfall fort und ein triumphierendes Leuchten erschien plötzlich in seinen sonst so leeren Augen. „30 Punkte Abzug für Hufflepuff."
Diese Worte schreckten sie nicht im Geringsten. Punkte waren zu abstrakt und ihr Fehlen stellte keine akute Lebensbedrohung dar. Offensichtlich schien Snape ihre Erleichterung zu spüren, denn er fügte böse grinsend hinzu: „Ich würde Sie ja liebend gerne nachsitzen lassen, doch bis jetzt hatten davon betroffene Personen vorher immer das Vergnügen zumindest eine meiner Stunden zu genießen. Zu früh würde ich mich aber trotzdem nicht freuen; vielleicht finde ich ja noch einen Grund. Und jetzt sofort auf Ihr Zimmer! Wenn ich Sie in fünf Minuten noch draußen auf den Gängen erwische, ist das Euerletzter Schultag gewesen."
Nadja ließ sich das nicht zweimal sagen und verließ so schnell wie möglich den Kerker. Immer wieder redete sie sich ein, dass dieser Mann ihr Leben gerettet hatte und eigentlich das gute Recht hatte zornig zu sein. Doch wenn man müde war, besorgt, zerkratzt und innerlich vor Wut kochte, sprach die Stimme der Logik für gewöhnlich sehr leise.
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An alle, die ihn schon vermisst haben: Snape ist zurück, und er wird so schnell nicht wieder verschwinden!
Cyberrat: Ich bin ja so froh, dass dir Anatol gefällt. Wie gesagt, es gibt noch die ein oder andere Überraschung, was ihn betrifft. Und vielen Dank für die Werbung.
Lucina: Vielen Dank für das liebe Review. Ich freu mich über jeden neuen Leser.
