Kapitel 7: Unterricht mit Schrecken

Am nächsten Tag erhielt Nadja zum ersten Mal richtige Eulenpost. Der Steinkauz, zumindest glaubte sie, dass es einer war – ließ mit melodiösem Ruf einen dicken Brief zielsicher in ihre Kakaoschale fallen, dass die braune Flüssigkeit den Tisch, ihre Sitznachbarn und natürlich sie selbst bekleckerte. Nadja musste sich sehr beherrschen angesichts dieses Bombardements nicht schleunigst unter dem Tisch Deckung zu suchen, bis sie auf die Idee kam, den Brief aus der Tasse zu fischen.

„Gehört der verrückte Vogel dir?", wollte Kenneth verärgert wissen und wischte sich den Kakao von seinen Brillengläsern.

Nadja zuckte nur hilflos mit den Schultern und öffnete dann den Brief. Sie musste sich sehr konzentrieren, um das aus Ornamenten bestehende Bild als das zu sehen, was es war: Eine hoch komplizierte Schrift, deren genauen Regel sie nie richtig verstanden hatte. Zum Lesen allerdings reichten ihre Kenntnisse gerade noch aus.

„Was ist das?", wollte Kenneth wissen, der ihr neugierig über ihre Schulter blickte.

„Eine Zeichnung", log Nadja. „Mein Bruder ist vernarrt in die Kunst der persischen Malerei. Keine darstellende Bilder, sondern einfach nur Ornamente." Im Stillen hoffte sie sehr stark, dass Kenneth keine Ahnung vom alten Persien hatte. „Er glaubt wohl, ich steh darauf."

Kenneth runzelte angestrengt seine Stirn, etwas, das ihn fast erwachsen aussehen ließ. „Sieht irgendwie gruselig aus", gestand er ihr.

Nadja steckte den Brief sicher in ihre Tasche und nahm sich vor ihn später und vor allem ungestört zu lesen. „Ich werde es mir vielleicht aufhängen. Erinnert mich ein wenig an zu Hause."

„Du redest nicht viel von zu Hause", stellte Kenneth fest.

Im Stillen verfluchte sich Nadja für ihre dumme Antwort, die anscheinend Kenneth' Neugier erst recht angefacht hatte, doch als sie antwortete, sah man ihr nichts an. „Da gibt es nichts zu erzählen. Meine Mutter ist schon lange tot, ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern, und meinen Vater kann ich nicht ausstehen." Damit hatte sie eigentlich nicht einmal gelogen. Kenneth sah aber nicht so aus, als würde ihm diese Information reichen. Sie brauchte dringend etwas, mit dem sie ihn ablenken konnte. „Sag mal, wir haben heute Zaubertränke. Ich weiß noch immer nicht, wie dieser Snape eigentlich ist."

Kenneth lachte. „Freu dich schon! Der ist ein Ekel. Kann mir gar nicht vorstellen, warum Dumbledore ihn nicht schon längst gefeuert hat. Solange du ihn nicht kennst, weißt du nicht, was Ungerechtigkeit bedeutet. Der lässt dich auch dann durchrasseln, wenn du alles weißt. Also Jack hat einmal…"

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Nadja sollte an diesem Tag noch oft an Kenneth' Worte denken. Pünktlich betrat Snape mit wehendem Umhang den Kerker, den Nadja schon letzte Nacht kennen gelernt hatte, und postierte sich hinter dem Lehrertisch. Die schwarzen Augen taxierten jeden einzelnen Schüler und ließen die gesamte Klasse, Hufflepuffs und Ravenclaws, zu Salzsäulen erstarren. Es gab nicht viele Lehrer, die einen ganzen Haufen unruhiger elfjähriger Kinder vollkommen zum Schweigen bringen konnten. Snape war einer davon. Zu Nadjas Erleichterung schien Snape jeden gleich lang zu mustern. Vielleicht war er zur Ansicht gekommen, dass die 30 Punkte von gestern genug waren. Auch als er die Namen vorlas und ihr genauso viel Aufmerksam und Zeit schenkte wie den anderen, atmete sie erleichtert aus. Und dann hielt er seine Rede. Nadja spürte, dass sie nicht die ersten waren, die sie oder zumindest eine ähnliche hörten. Snape machte ihnen unverblümt klar, was er von seiner neuen Klasse hielt, nämlich nicht viel. „Aber vielleicht täusche ich mich ja", schloss er und fixierte Nadja. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass er ihr den gestrigen (eigentlich heutigen) Ausflug niemals verzeihen würde.

„Nadjeschda Delano, wenn ich mich nicht irre." Snapes Stimme klang leise und gefährlich.

„Ja, Sir", presste Nadja über ihre Lippen. Sie spürte Kenneth' besorgten Blick neben ihr. Diesmal wünschte sie sich sogar zurück zum Flachgesicht und der Schlange.

„Können Sie mir vielleicht etwas über Atropa bella-donna erzählen?"

Nadja ahnte, was Snape vorhatte. Er wollte sie auf ein Nicht Genügend prüfen. Doch sie hatte nicht vor ihm diese Freude zu machen, denn zumindest diese Frage war gar nicht einmal so schwer. „Es ist eine Pflanze, auch unter dem Namen Tollkirsche bekannt."

In Snapes Blick mischte sich so etwas wie Überraschung, allerdings nur für einen einzigen Augenblick. „Und? Ist das alles?"

„Es ist eine Giftpflanze." Sie wünschte sich Rishkan herbei. „Eine sehr giftige Pflanze."

Snape blickte nun wieder verächtlich auf sie herab. Das würde ihm ganz und gar nicht reichen. Sie durchforstete ihr Gehirn nach der verborgenen Schublade Tollkirsche, von der sie wusste, dass sie da irgendwo war, während sich das triumphierende Glitzern in Snapes Augen verstärkte. „Das war dann wohl alles."

„Nein!", fuhr Nadja auf. Sie hatte das verborgene Fach gefunden. „Sie gehört zu den Nachtschattengewächsen. Führer haben sich die Frauen den Saft der Beeren in die Augen geträufelt, damit sie schöner aussehen, denn dieser erweitert die Pupillen, daher der Name bella-donna, schöne Frau." Nadja kramte tiefer. „War eine Zutat der so genannten Flugsalbe. Wenn man sich damit einrieb, glaubte man zu fliegen, in Wirklichkeit eine… eine Halluzination, hervorgerufen durch die Tollkirsche und andere Zutaten." Nadja biss sich auf die Zunge. Sie hatte keine Ahnung, um was es sich bei den anderen Zutaten handelte und Snape könnte nachfragen, würde nachfragen.
Zu ihrem Glück schien Snape zu überrascht zu sein, dass sie überhaupt etwas gewusst hatte, und nahm diese günstige Gelegenheit daher nicht wahr.

Nadja spürte in diesem Moment die neugierigen Blicke ihrer Klassenkammeraden. Da war wahrscheinlich genauso viel Staunen wie beim Professor.

Dieser fasste sich aber erschreckend schnell. „Dann erzählen Sie mir etwas über Papaver somniferum!"

Nadjas Herz raste. Sie hatte keine Ahnung, was eine Papaver somniferum war. Nur die Ruhe bewahren! Sie erinnerte sich an Rishkan, wie er einmal gesagt hatte, man könne die meisten Rätsel lösen, indem man nur logisch nachdachte und nicht in Panik verfiel. Gut, somnis war der Schlaf, ferro bedeutet bringen. So weit reichten ihre Lateinkenntnisse noch. Also musste die Pflanze Schlaf bringen. „Schlafmohn!" schoss es aus ihr heraus und sie erkannte an Snapes verärgerter Miene, dass sie richtig geraten hatte. „Durch Anschneiden der unreifen Samenkapsel wird ein Milchsaft gewonnen, Opium." Sie hoffte sehr, dass Snape nicht noch näher darauf eingehen wollte, denn ihr Wissen über den Schlafmohn war damit erschöpft.

„Bei Pflanzen scheinen Sie sich ja auszukennen", stellte der Professor anerkennend fest und näherte sich ihrem Tisch. „Aber wie steht es bei Tieren."

Nadja atmete auf. Tiere konnten einfach nicht schwer sein. Sie hätte besser auf das bösartige Glitzern in den schwarzen Augen achten sollen.

„Für welchen Trank benötigt man sowohl das Haar wie auch das Horn von Einhörnern?"

Zwar kannte sie ein leibhaftiges Einhorn, aber sie hatte nie vorgehabt diesem die Haare auszurupfen und gar das Horn abzusägen. Es wäre sowohl ein nutzloses wie auch ein sehr gefährliches Unterfangen gewesen. Und auch Rishkan war bis jetzt noch nicht auf so eine selbstmörderische Idee gekommen. „Für ein Gegengift?", versuchte sie und hoffte, dass ihr das Glück hold blieb und Snape irgendwann die Geduld verlor.

„Ist das eine Frage oder eine Feststellung?", wollte Snape mit funkelnden Augen wissen.

Nadja versuchte wieder Snapes Gefühle zu erahnen, doch diesmal schien sie von Anfang an gegen die Wand zu laufen. „Eine Feststellung", gab sie kühn zur Antwort. Sie hatte nicht viel zu verlieren, nur ein paar Punkte.

Ein böses Lächeln erschien auf Snapes Lippen, das Nadja überhaupt nicht gefiel. „Und welche Zutaten werden noch gebraucht?"

Diesmal hatte er also doch nachgefragt. „Alraunen", gab sie verstockt zur Antwort und wusste, dass sie vollkommen danebenlag. Obwohl, mit Alraunen konnte man nicht viel falsch machen, wie ihr einst Rishkan gesagt hatte.

„Weiter!", forderte sie Snape ruhig auf. Mittlerweile stand er direkt vor ihr.

„Einen zerriebenen Bezoir. Das ist ein Stein, den man im Magen von Ziegen finden kann, entstanden durch die harzreiche Nahrung und früher…"

„Ich habe Sie nicht nach dem Bezoir gefragt, Miss Delano."

Nadja verzweifelte. Es hätte funktionieren können.

„Fallen Ihnen noch andere Zutaten für Ihr Gegengift ein?"

Sie schüttelte den Kopf und gestand damit endlich ihre Niederlage ein.

„So, so." Snapes Lippen kräuselten sich zu einem hämischen Lächeln. „Nun, Sie scheinen nicht nur gut in Pflanzenkunde zu sein, sondern auch eine lebhafte Phantasie zu haben, Delano. Und ich hätte gedacht, als Einhornspezialistin würde ich Ihnen mit der Frage sogar noch entgegenkommen. 5 Punkte Abzug für Hufflepuff! Und Sie Delano melden sich heute Abend um acht hier zu einer Strafarbeit! Dann möchte ich eine Antwort auf meine Frage, und diesmal kein Märchen. Außerdem…" Snape zog vergnügt seinen Zauberstab aus einer Tasche und tippte damit auf Nadjas Schuluniform, dort wo einer dieser verräterischen Kakaoflecken war. „Das nächste Mal ziehen Sie sich bitte saubere Kleidung an." Mit diesen Worten rauschte er zurück zum Lehrertisch und ließ Nadja mit glühendem Kopf zurück.

Erst dann begann Snape richtig mit dem Unterricht, ließ sich dabei aber nicht davon abhalten ihr noch 2 weitere Punkte abzuziehen, weil sie die Käferaugen ein wenig zu ungenau abwog.

In Nadja brannte das Feuer des Zorns mittlerweile so heiß, dass sie die verfluchten Augen damit rösten hätte können. Schließlich hatte sie etwas gewusst. Im Stillen freute sie sich auf die Pause und darauf Rishkans Brief endlich zu lesen. Das Stück Papier in ihrer Tasche war zwar nicht wirklich verzaubert – abgesehen von den für Rishkan fast normalen Schutzzaubern – doch wie durch Magie munterte es sie während der ganzen Doppelstunde auf.

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Cyberrat: Keine Sorge, Sevi wird schon noch netter werden, aber wenn man so lange auf eine Schülerin warten muss, da wäre, glaub ich, sogar Dumbledore ein wenig zornig (wenn er nichts Genaueres über Nadja gewusst hätte).

Lucina: Keine Sorge, die Kapitel werden ab jetzt immer länger. Das mit den Reviews war ja selbstverständlich. Wenn mir etwas gefällt, dann schreib ich das auch. Dass ich dein Postfach überfüllt habe, tut mir aber leid.

Noch einmal ein Riesenlob an meine Betaleserin Ellen, ohne der ich das Ganze niemals geschafft hätte.