Kapitel 8: Nachsitzen und andere Probleme
Nadja hatte Professor Snape sicherlich zum hundertsten Mal verflucht, als sie das Buch Zaubertränke – Alt und bewährt zu ihrem Lesetisch schleppte und die Zutatenliste der dort beschriebenen Gebräue überflog. Es war wie in den letzten zwölf Wälzern. Einhornhaar und das Alicorn, das Horn eines Einhorn, wie sie mittlerweile wusste, wurden gar nicht mal so selten verwendet, allerdings fand sie keinen einzigen Trank, bei dem beide gebraucht wurden.
„Noch immer beim Suchen?"
Nadja fuhr herum und erkannte Kenneth, der direkt neben ihr stand und sie mit aufrichtigem Mitleid betrachtete. „Ja", gab Nadja zerknirscht zu. Es blieben ihr nicht einmal zwei Stunden um wenigstens ein Rezept zu finden. „Mittlerweile glaub ich kaum noch, dass es einen solchen Trank überhaupt gibt."
„Ich hab mit meinem Bruder Jack gesprochen. Er hat gesagt, nicht einmal bei ihnen hätte sich Snape jemals so aufgeführt. Der ist vollkommen durchgeknallt. Ich meine, du hast ja schließlich etwas gewusst und warst sogar ganz gut, bis eben auf die Einhornsache."
„Ich hab mehr geraten", gab Nadja zu und löste den Blick von einem Bild, das offenbar die Folgen eines sehr effektiven Haarwuchsmittels zeigten. Der Patient oder das Opfer, so genau konnte man das nicht sagen, sah aus wie ein menschlicher Orang-Utan. Wie zu erwarten benötigte man für ihn weder das Haar noch das Horn eines Einhorns.
„Trotzdem, du hast gut geraten", entgegnete Kenneth. „Soll ich dir vielleicht beim Suchen helfen?"
Nadja lächelte erleichtert. Es gab da noch mindestens hundert Bücher zu diesem Thema und sie konnte wirklich jede Hilfe brauchen.
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Fast zwei Stunden später stand sie mit sauberer Schuluniform wieder vor der Kerkertür und dachte verzweifelt an den Brief in ihrer Tasche, den sie sofort nach dem kommenden Horrortrip lesen würde. Leider half dieser Gedanke nicht gegen das ungute Gefühl, das sich in ihrer Magengegend ausbreitete.
Noch einmal holte sie tief Luft, zählte im Gedanken bis zehn und klopfte schließlich.
Ein gereiztes Herein erklang von drinnen.
Am liebsten hätte Nadja kehrt gemacht, doch sie gehorchte schließlich doch – der Professor konnte ihr schließlich schlecht den Kopf abreißen – und betrat den nur schwach beleuchteten Raum.
Der Meister der Zaubertränke saß hinter dem Lehrertisch und musterte sie interessiert. Nadjas Blick schweifte einen Augenblick durch den Raum und blieb kurz an einem großen Kessel hängen, der sicherlich das Heim eines ganzen Zoos von Schleimdingern war. Heute am Vormittag war er noch nicht dagestanden.
„Kommen Sie ruhig näher! Ich fresse keine Schüler, egal was man sich sagt." Die Stimme klang nicht einmal böse. Trotzdem gehorchte Nadja nur widerwillig. Behutsam nahm sie auf dem Stuhl Platz, den ihr Snape anbot und der direkt vor dem Lehrertisch stand, Snape genau gegenüber.
„Also gut, Delano", begann Snape. „Wissen Sie wenigstens jetzt eine Antwort auf meine Frage vom Vormittag?"
Nadja schwieg. Sie und Kenneth hatten zwar zwei ganze Regale zum Thema Zaubertränke durchforstet, doch gefunden hatten sie kein einziges Rezept.
„Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Am Vormittag waren sie etwas gesprächiger."
„Ich weiß es nicht", gab Nadja zu.
Snape lächelte selbstzufrieden. „Das ist bedauerlich, aber da kann man nichts machen. Sehen Sie den Kessel dort?"
Nadja nickte. Das hatte sie schon geahnt.
„Wenn er so glänzt, dass ich mich darin spiegeln kann, können Sie gehen."
Nadja brauchte fast zwei Stunden, bis Snape mit dem Kessel zufrieden war. Er schien keine Augen, sondern Mikroskope im Gesicht zu haben. Während der ganzen Zeit – außer wenn Nadja wieder einmal fand, dass sie schon genug geschrubbt hatte und er das Gegenteil behauptete – verbesserte er irgendwelche Aufsätze. Wortlos und ohne die geringste Gefühlsregung teile er großzügig ein S nach dem anderen aus, wie Nadja am Anfang durch neugierige Blicke feststellen musste. Im Stillen fragte sie sich, wie bei einer solchen Benotung überhaupt jemand die zweite Schulstufe erreichen konnte. Es war zwar ziemlich auffallend, dass Snape gerade in jenem Moment mit ihrem Kessel zufrieden war, als auch er mit den Aufsätzen fertig wurde, doch auf eine diesbezügliche Diskussion wollte sie sich lieber nicht einlassen. Sie hätte vermutlich einen weiteren Kessel schrubben müssen. Mit dem Ratschlag sich für die nächste Zaubertrankstunde besser vorzubereiten, entließ er sie. „Und ich will Sie in Zukunft weder im Schloss noch im Verbotenen Wald herumschleichen sehen."
Nadja nickte und suchte schnell das Weite.
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Der Brief, an dem Nadja all ihre Hoffnung hängte, war enttäuschend kurz, doch nichts desto trotz genoss sie ihn in vollen Zügen. Wie geplant hatte sich Tarson als Todesser eingeschmuggelt, konnte bis jetzt aber noch nicht viel Brauchbares herausfinden, da er in der Rangfolge natürlich noch ganz unten stand. Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis sich das ändern würde, denn in Vertrauen Gewinnen war dieser ein wahrer Meister. Der Dunkel Lord hätte sich allerdings sehr über die blumigen Adjektive gewundert (und geärgert), die ihm Tarson verpasst hatte. Er hielt nicht viel von Personen, die mit zweifelhaften Methoden versuchten die Weltherrschaft an sich zu reißen; das war einst sein Hobby gewesen. Dazu kam – da war sich Nadja ganz sicher – dass er sich um einiges überlegener hielt als Voldemort. Und diese Mischung konnte ganz leicht dazu führen, dass Tarson kurz und bündig den Dunklen Lord von seinen Thron schubsen und sich selbst draufsetzen könnte. Nadja wagte sich dieses Szenario gar nicht vorzustellen. Es könnte leicht den Untergang der ganzen Welt bedeuten.
In Rishkans Teil fehlten zum Glück die Verwünschungen, doch hier las sie Sorge und Angst.
„…Tarson behauptet zwar, er habe nie eine Person namens Samantha Pawn bei den Versammlungen gesehen, noch eine Frau, auf die deine Beschreibung zutrifft, nimm dich aber trotzdem vor ihr in Acht! Voldemort scheint ehrgeizige Pläne zu haben, die ihm leicht den Kopf kosten könnten. Tarson und ich teilen zwar die Meinung, dass nicht viele ihm nachweinen würden, wenn ihn ein ungeduldiger Dämon verschlingt, doch wir wissen noch immer nicht, wer genau Voldemorts neue Freunde sind und ob diese vielleicht nicht noch andere beste Freunde haben…"
Nadja seufzte. Sie hatte panische Angst vor dieser Frau, doch anscheinend war es ihre Pflicht, sie im Auge zu behalten. Nun, wenigstens würde sie nächste Woche nicht mehr nachsitzen müssen.
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Sie musste sich schon wieder irren. Samantha Pawn verhielt sich vollkommen unauffällig, wollte sie nicht wieder ausfragen und beachtete sie mit genauso viel Interesse wie die anderen Schüler. Traf sie die Professorin aber außerhalb des Unterrichts an, auch beim Essen in der Großen Halle, bekam sie solche Panikattacken, dass sie so gut wie nichts runter brachte und fluchtartig das Weite suchte, sobald es möglich war.
Snape hingegen erwies sich um einiges nachtragender als jede Person, die ihr jemals begegnet war. Nadja hatte sich seinen Rat zu Herz genommen und sich tatsächlich für die nächste Stunde vorbereitet, was bedeutete, dass sie einen guten Überblick darüber hatte, was in Zaubertränke und Zauberbräue und Tausend Zauberkräuter und –Pilze stand. Trotzdem nütze ihr das alles nichts, als er sie wieder zu Beginn der Stunde prüfte. Ihre Antworten waren nicht einmal so schlecht, wie sie sich zumindest einbildete, doch Snapes letzte Frage war wieder dieselbe wie von letzter Woche. Diesmal zog es Nadja vor ihm gleich zu sagen, dass sie keine Ahnung hatte. Punkte bekam sie diesmal zwar keine abgezogen, Snape hatte wohl gemerkt, dass ihr das nicht wirklich weh tat, doch am Abend musste sie die Regale abstauben, Zutaten nachfüllen und Karteikarten ordnen, während Snape einen Überraschungstest korrigierte; auch ihrer war diesmal darunter.
Im Laufe der nächsten Wochen eignete sie sich ein so umfangreiches Wissen über Zaubertränke an, dass sie leicht mit einem Durchschnittsschüler der 4. Schulstufe mithalten konnte. Ältere Hufflepuffs bekamen Mitleid mit ihr angesichts dieser schreienden Ungerechtigkeit, rieten ihr zu Professor Sprout zu gehen und liehen ihr einige von ihren alten Lehrbüchern. Und auch Kenneth, mittlerweile ein guter Freund, half ihr weiterhin dabei einen Zaubertrank mit Einhornhaar und –Horn zu finden. „Der lässt mich ja auch dann nicht in Ruhe, wenn ich ihm einen solchen Trank nennen könnte." Nadja hatte schon Rishkan um Hilfe gebeten, doch auch dieser schien offenbar noch immer zu suchen.
Kenneth kannte als einziger Schüler den Grund für Snapes Terror. Keinem anderen hatte sie von ihrem nächtlichen Ausflug und ihren Abenteuern dort erzählt, den Grund dafür hatte sie ihm allerdings nicht genannt. „Wenigstens zieht er dir keine Punkte mehr ab und deine Noten könnten sich nicht einmal die Slytherins wünschen", warf er ein, als sie wieder verzweifelt über einem vor Alter kaum noch lesbarem Zaubertränkebuch saßen.
Eines musste man Snape lasse. Er stellte zwar hohe Anforderungen, extrem hohe Anforderungen, doch wenn man diese erfüllte, so war er durchaus gerecht, zumindest in ihrer Klasse. Nadja bekam hie und da sogar einen Punkt, was ihn allerdings nicht davon abhielt sie nachsitzen zu lassen. Sie hatten alle das Glück keine Slytherins im Unterricht zu haben, sonst sähe die Sache wahrscheinlich ganz anders aus. Außerdem fühlten sich ihre Mitschüler sicherer, weil Snape hauptsächlich sie mit seinen gefürchteten Zwischenfragen schikanierte, wodurch nur ganz selten jemand vor Angst die Blutegel mit den Regenwürmern verwechselte und somit den Kessel in die Luft fliegen ließ. Und die Tatsache, dass sie ihren Kollegen und auch einigen Hufflepuffs der zweiten Klasse Nachhilfe gab, ließ sie in den Augen der Hufflepuffs und auch der Ravenclaws langsam wie eine einsame Kriegerin im Kampf gegen den übermächtigen Meister der Zaubertränke erscheinen.
Auch das Nachsitzen selbst verlor langsam seinen Schrecken. Mittlerweile glänzten alle Kessel der ganzen Schule wie Weihnachtsterne, nicht viel weniger als der Steinboden des Kerkers, und die Schachteln, Dosen, Flaschen und Fässer mit den Zutaten waren bis zum Rand gefüllt. Manchmal redete er mit ihr, belanglose Gespräche zum Beispiel darüber, in welchen Büchern sie nach dem gewünschten Einhornzaubertrank suchte oder woher sie wusste, dass Schleimpilze keine richtigen Pilze waren. Hatte sie am Anfang geglaubt, Snape wollte sie wie Pawn ausfragen, so begriff sie langsam, dass er einfach nur mit jemandem reden wollte und irgendwie ihre Gegenwart genoss. Nadja konnte gut verstehen warum. Der Ärmste wohnte alleine dort unten im Kerker, von allen gefürchtet und gemieden, und die einzigen Personen, die außerhalb der Unterrichtszeit herunterkamen, waren Filch, wenn er seine Hilfe beim Aufspüren von unfolgsamen Schülern brauchte, und eben sie.
Das zweite, eigentlich das erste was ihr auffiel, war Snapes unregelmäßiges Verschwinden. Manchmal war er gerade mitten im Korrigieren oder beim Brauen eines Tranks, als er gequält zusammenzuckte und seinen Arm so fest umklammerte, als ob er entsetzliche Schmerzen hätte. Fünf Minuten später gab er ihr Unterweisungen, was sie zu tun hatte, und war schon verschwunden. Wegen seines Verschwindens hatte er ihr eines Tages sogar einen kleinen Silberschlüssel in die Hand gedrückt. „Falls ich einmal nicht da sein sollte", hatte er ihr erklärt. „Ich will ja schließlich nicht, dass Sie draußen warten müssen und ihre Nachsitzstunde verpassen." Natürlich hatte er sie extra darauf hingewiesen, dass niemand von diesem Schlüssel erfahren durfte, am allerwenigsten dieser Potter und seine Bande. Nadja wusste, wenn sie diesen Befehl missachten würde, wäre das gnädigste, was ihr widerfahren würde, ein Schulverweis. Sie hatte sich ziemlich lange über Snapes Verschwinden den Kopf zerbrochen, bis die Lösung in einem Brief von Tarson stand.
„…Übrigens, dein ominöser Professor gehört ebenfalls zu den Todessern. Kommt bei den Versammlungen immer ein wenig zu spät, hat aber meistens ausgezeichnete Entschuldigungen parat. Halte ihn aber nicht für einen wirklichen Anhänger Voldemorts, sondern eher für einen Spion, vielleicht für diesen Dumbledore. Rishkan hat übrigens noch immer keinen Zaubertrank gefunden. Vielleicht sollte er einen erfinden. Macht sich sicherlich ganz gut…"
Der Brief hatte Nadja ziemlich erschrocken. Nicht, weil Snape offenbar einmal ein echter Todesser gewesen sein musste, schließlich war es ziemlich unwahrscheinlich, dass er schon mit dem festen Vorsatz ein Spion zu werden dem makaberen Club beigetreten war, sondern weil sich Snape der Gefahr entdeckt zu werden überhaupt aussetzte. Sie mochte Tarson, der ebenfalls jeden Moment enttarnt werden konnte, doch Voldemort hätte sich sehr wehgetan, wenn er ein Exempel an ihm statuieren hätte wollen. Tarson riskierte nicht wirklich etwas, eine Entdeckung wäre lediglich ein kleines Ärgernis für ihn. Bei Snape sah die Sache schon ganz anders aus, bei ihm stand wirklich sein Leben auf dem Spiel.
Ihr verständlicher Lerneifer bei Zaubertränke hatte einen großen Nachteil: In den anderen Fächern kam sie nur mühsam mit dem Stoff zurecht und in Verwandlungen, ihrem erklärten Schreckensfach, war sie das einsame Schlusslicht. Da sie noch immer kein Streichholz in eine Nadel verwandeln konnte, hatte sie in ihrer Panik eine echte Nadel hereingeschmuggelt und gegen das Streichholz ausgetauscht. McGonagall hatte das natürlich bemerkt, wie hätte sie etwas anderes erwarten können, doch sie kam mit Schelten und 10 Punkten Abzug davon.
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Cyberrat: Danke für das nette Review. Aber was heißt T.T?
Lucina: Die Kapitel bleiben aber jetzt ungefähr so lang wie dieses hier (wenn ich mich recht erinnere). Ausnahmen gibt es, aber da sind die Kapitel meistens länger. Ich hab mir gedacht, bis Kapitel elf werd ich täglich posten, danach muss ich mich ein wenig einschränken.
