Kapitel 9: Angst

Auch an einem Freitag mitten im November musste sie wieder nachsitzen, wieder weil sie keinen Einhorntrank nennen konnte. Kenneth hatte ihr angeboten sie bis zum Kerker zu begleiten und Nadja hatte keine Ahnung, was sich Snape wohl diesmal einfallen lassen würde. Mittlerweile durfte sie ihm schon bei einigen leichteren Tränken zur Hand gehen, was auf alle Fälle spannender war als irgendeinen Kessel zu schrubben.

„Ich glaub, ich geh dann wohl", verabschiedete sich Kenneth kurz vor der Kerkertür und verschwand. Einen Augenblick lang runzelte Nadja die Stirn. Es war, als ob sie etwas Wichtiges übersehen hätte, doch dann zuckte sie mit den Schultern und wollte schon an der Kerkertür klopfen, als sie Stimmen von drinnen hörte, Snapes Stimme und die einer Frau, die offenbar miteinander stritten. Ihr Ohr wanderte ganz selbstständig näher zu der massiven Eichentür und so konnte sie hören.

„Sie wird jeden Augenblick hier sein", knurrte Snape. „Sie kommt nie zu spät."

„Fein", konterte die Frau, es war eindeutig Pawns raue Stimme. „Dann können Sie ihr vielleicht einen Erinnerungstrank brauen, damit wir endlich erfahren, was sie angegriffen hat. Ich habe keine Ahnung, warum Sie Delano so hassen, aber…"

„Hassen? Warum sollte ich sie hassen?"

„Halten Sie mich nicht für dumm. Jede Stunde stellen Sie ihr die gleichen dummen Fragen, jeden Freitag muss sie hier unten die Kessel schrubben und Schleimpilze sammeln. Glauben Sie mir, ein kleines Mädchen hat andere Vorstellungen davon, wie es ihre Freizeit gestaltet."

Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen.

„Aber ich bin nicht hier, um ihre Unterrichtsmethoden zu kritisieren", fuhr Pawn fort. „Ich möchte nur wissen, was sie im Wald verfolgt hat und wie sie diesem Wesen entkommen konnte."

„Entkommen!" schnaubte Snape. „Die Kreatur hat sie ganz übel zugerichtet. Eine ganze Woche lag sie mehr tot als lebendig auf der Krankenstation. Es ist ein Wunder, dass sie das Gift aus eigener Kraft bekämpfen konnte, denn wir hatten keine Ahnung, um was es sich dabei handelte."

„Gift?" Pawns Stimme war plötzlich sehr leise. „Und sie haben nicht zufällig den Angreifer gesehen?"

„Nein", blaffte Snape. „Und ich hab schon viel zu lange mit Ihnen geredet. Wenn Sie etwas von Nadjeschda Delano wissen wollen, dann sollten Sie die junge Dame lieber selbst fragen. Dort ist die Tür!"

Samantha Pawn war anscheinend ziemlich wütend und riss die Tür mit mehr Kraft auf, als man ihr eigentlich zutraute. Wie eine zornige Furie rauschte sie ab, ohne sich die Mühe zu machen die Bürotür wieder zu schließen.

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Snape wartete, zuerst fünf Minuten, dann zehn. Die Tür stand noch immer offen. Delano würde kommen und sie schließen. Sie war immer gekommen, niemals zu spät. Langsam bereute er seine schroffen Worte. Er tat Professor Pawn sicherlich unrecht und sie machte sich wahrscheinlich wirklich nur Sorgen um das Mädchen und die andern Schüler. Aber ein tief in ihm versteckter Instinkt riet ihm vorsichtig zu bleiben. Vielleicht lag das daran, dass sie zu den Auroren gehörte. Er galt zwar offiziell als unschuldig, doch er wusste sehr wohl, dass einige Auroren das nie wirklich akzeptiert hatte und ihm noch immer misstrauten. Gehörte Pawn zu ihnen?

Wo blieb nur Delano? Nun gut, jeder konnte sich einmal verspäten. Peeves spielte einen Streich, bei dem jemand unfreiwillig eine Rolle spielen musste, die Treppen erwachten wieder zu ihrem seltsamen Eigenleben und man musste einen weiten Umweg nehmen oder…

Nach fünfzehn Minuten wusste er nicht, ob er wütend oder besorgt sein sollte. Er beschloss die Schülerin suchen zu gehen und sich erst dann zu entscheiden, wenn er sie gefunden hatte. Sicherheitshalber griff er nach seinem Zauberstab und verließ den Kerker. Erst als er die Tür zuknallen wollte, bemerkte er das leise Schluchzen dahinter. Irritiert schloss er die Tür, ganz vorsichtig, und erkannte Nadjeschda Delano, wie sie zwischen Tür und Wand am Boden kauerte, die Arme fest um ihre Beine geschlungen und das Gesicht auf die Knien gepresst. Wie lange saß sie schon dort? Auf jeden Fall musste sie hier gewesen sein, bevor Professor Pawn das Büro verlassen hatte, andernfalls hätte er ihr Kommen bemerkt. Sie hatte also mit großer Wahrscheinlichkeit Teile des Gesprächs gehört. Gut, Pawn hatte ihn über sie ausgefragt, er war unfreundlich geworden, aber all das war kein Grund für den Zustand der Schülerin. Pawn hatte schließlich nicht von ihm verlangt sie zu vergiften, sie wollte lediglich Informationen über sie, zu ihrem eigenen Schutz. Snape wusste nicht so recht warum, aber die ganze Sache kam ihm im Nachhinein nicht ganz geheuer vor.

Das Mädchen wimmerte, als ob es Schmerzen hatte. Vielleicht war sie verletzt?

„Miss Delano?", versuchte er vorsichtig.

Keine Reaktion. Snape wurde unruhig. Unsicher ging er in die Knie und berührte vorsichtig ihre Schultern. Sie zuckte erschrocken zusammen. Das Schluchzen und Wimmern hörte zu seiner Erleichterung aber auf.

„Alles in Ordnung?", wollte er wissen und bemerkte sofort, wie dumm die Frage gewesen war. Natürlich war nichts in Ordnung, sonst würde die kleine Hufflepuff nicht hinter der Tür sitzen.

„Pawn, Professor Pawn", brachte sie über ihre bebenden Lippen und blickte ihn aus geröteten Augen an.

„Sie ist fort", erklärte er ruhig. „Und Sie werden sich erkälten, wenn Sie noch länger hier herum sitzen."

Die Schülerin nickte, wischte sich möglichst unauffällig die Tränen aus dem Gesicht und versuchte unsicher auf die Beine zu kommen. Snape reichte ihr hilflos die Hand und schließlich stand sie ziemlich wackelig vor dem von allen gefürchteten Professor. Ja, sie hatte panische Angst, aber eindeutig nicht vor ihm. Snape wusste nicht so recht, was er mit ihr anfangen sollte. Wegschicken konnte er sie schlecht in ihrem Zustand. Jeder würde glauben, sie hätte diesen Nervenzusammenbruch wegen ihm, und wenn es auch genug Schüler gab, die heulend seinen Unterricht verlassen hatten, so war dies hier eindeutig mehr. Weil ihm nichts Besseres einfiel, führte er sie schließlich nicht ins Klassenzimmer sondern in sein Büro und bot ihr dort einen Stuhl an.

Delano ließ sich widerstandslos nieder und starrte ins Leere, während Snape im Klassenzimmer Wasser aufsetzte und nach wenigen Minuten mit zwei Tassen und einer dampfenden Teekanne zurückkam, diese auf den Tisch stellte und dem Mädchen und sich selbst einschenkte. Delanos Blick hatte sich zu seiner Besorgnis nicht viel geändert. Im Stillen stellte er sich schon auf eine Diskussion mit Professor Sprout ein, die sich wie durch ein Wunder noch nicht über seine Unterrichtsmethoden bezüglich Nadjeschda Delano geäußert hatte. Wenn die kleine Hufflepuff aber in einem solchen Zustand seine Nachsitzstunde verließ, dann würde ein solches Gespräch sehr schnell kommen, da machte er sich keine Illusionen.

Erst jetzt bemerkte er ihr Zittern und schlussfolgerte, dass nicht nur die Angst daran schuld war. In seinem Büro war es ein wenig kälter als im Klassenzimmer, wo fast immer ein Kessel vor sich hin blubberte und etwas Wärme an die Umgebung abgab. Er selbst hatte sich an die Kälte des Kerkers längst gewöhnt, doch das galt allein für ihn. Snape seufzte tief, als er seinen Zauberstab auf den Kamin richtete und ein angenehmes Feuer zu prasseln begann. Er selbst benutzte den Kamin kaum, das unruhige Flackern machte ihn nervös. Dann entledigte er sich seines eigenen Umhangs und legte ihn stattdessen über Delanos Schultern. „Besser?", fragte er und gewann etwas an Zuversicht, als ein dankbares Lächeln über ihr Gesicht huschte.

„Ich friere immer so leicht", gestand sie ihm schließlich ohne ihn dabei anzusehen.

Snape nickte knapp und setzte sich schließlich ihr gegenüber. Sie sah ihn noch immer nicht an, ihre Augen schienen vielmehr etwas zu betrachten, das in weiter Ferne lag und was nur sie sehen konnte. „Du kannst ruhig zugreifen. Keine Sorge, der Tee ist nicht vergiftet."

Mit noch immer leicht zitternder Hand griff sie nach einer Tasse, verschüttete aber beinahe die Hälfte. Snape beobachtete sie dabei. Es hatte in der Vergangenheit Situationen gegeben, in denen er eine solche Panik in den Augen von Menschen gesehen hatte, doch niemals, wenn nicht unmittelbar das eigene oder das Leben einer nahe stehenden Person in Gefahr gewesen war.

„Ich weiß nicht, warum ich eine solche Angst habe", begann das Mädchen schließlich von selbst zu erzählen. „Manchmal passiert überhaupt nichts, im Unterricht zum Beispiel. Aber wenn ich sie außerhalb der Klasse sehe, schnürt mir die Angst meine Kehle zu, selbst in der Großen Halle beim Essen." Sie schauderte und nippte an dem Tee.

„Du bist von irgendetwas im Verbotenen Wald angegriffen worden", erinnerte er sie. „Vielleicht hat Professor Pawn etwas damit zu tun?" Nun war es gesagt und konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Doch für ihn war dies die einzige logische Konsequenz. Pawn hatte selbst gesagt, das Mädchen könne sich nicht an den Angriff nicht erinnern. Vielleicht hatte Pawn etwas damit zu tun, vielleicht erinnerte sie Delano an den Angriff, ohne dass es ihr wirklich bewusst war. Vielleicht war dies der Grund, warum Pawn unbedingt wissen wollte, was damals geschehen war, um rechtzeitig einzugreifen, bevor die Hufflepuff etwas Verfängliches erzählen konnte. Vielleicht… Nun setzte er einen Schlussstrich unter diesen Gedanken. Er durfte jemanden nicht so grundlos verdächtigen.

Delano hingegen erblasste, obwohl er nicht gedacht hatte, dass das noch möglich wäre.

„Ich hab ja nicht gesagt, dass sie giftig wäre und sich in ein Monster verwandeln könnte", versuchte er sie wieder zu beruhigen. Allerdings erreichte er genau das Gegenteil. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.

„Gibt es noch andere Dinge, vor denen du solche Angst hast? Irgendwelche Tiere, große Höhen? Madam Hooch sagt, dass du nicht gerne fliegst."

„Das stimmt nicht", entgegnete sie gepresst. „Ich fliege nur nicht gerne auf Besen. Die sind so ungemütlich."

Snape lächelte. Auch er konnte Fliegen nicht ausstehen und zwar aus genau dem gleichen Grund. „Aber im Ernst, gibt es Dinge, vor denen du eine ähnliche Angst hast?"

Er konnte genau sehen, wie es in ihr arbeitete und dass sie tatsächlich etwas fand. Wieder senkte sie den Kopf, um seinem Blick auszuweichen. „Nicht viel", gestand sie.

Die Art, wie sie dies sagte, machte ihm klar, dass es besser war nicht nachzufragen. Da war eine große Narbe auf der Seele dieses Kindes und Snape wollte diese nicht wieder aufreißen.

„Was soll ich denn heute machen, Sir?", fragte Delano plötzlich und riss ihn aus seinen Gedanken. Sie wollte wieder einmal das Thema wechseln und ihn davon abhalten länger über sie nachzudenken. Darin war sie richtig gut, wie er festgestellt hatte. Snape lächelte. Die Kleine hätte eine hervorragende Slytherin abgegeben. Wieder fragte er sich, was sich der Hut da wohl gedacht hatte, als er sie nach Hufflepuff gesteckt hatte.

„Nun, zuallererst werden Sie in aller Ruhe den Tee austrinken und dabei können Sie sich gleich einmal überlegen, ob Sie mir schon einen Einhorntank nennen können!" An ihrem schuldigen Blick erkannte er, dass sie noch immer keinen gefunden hatte, aber etwas anderes hatte er auch gar nicht erwartet.

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Es tut mir so leid, dass ich gestern nicht mehr posten konnte, aber ich hatte meinen ersten Arbeitstag (nur so ein kleine Nebenjob) und bin erst um elf heimgekommen. Erschöpf, mit schmerzenden Füßen (und linkem Arm, der mir noch immer weh tut), leichtem Sonnenbrand und Augen, mit dem ich Graf Dracula vor Neid erblassen lassen hätte können (so richtig blutunterlaufen, weil ich Kontaktlinsen nicht gewohnt bin). Trotz all dieser Kleinigkeiten hat's mir furchtbar viel Spaß gemacht. Aber gestern hab ich dann nicht mehr die Kraft gefunden, mich vor den Computer zu setzen.

Cyberrat: Snape wird jetzt auch immer netter werden, ich glaub, das hat man schon bemerkt. Man kann sich das mit Nadja so vorstellen, dass es dort, woher sie kommt, keine Zaubererschulen gibt. Nähere Informationen kommen noch. Ihr Geheimnis darf ich noch nicht lüften, sonst hat ja Snape nichts mehr zum Tun.

Sevina: Das macht ja nichts. Vor meinen Matheschularbeiten ab ich auch nichts anderes tun können als lernen, und wenn ich das nicht gemacht habe, sahen meine Noten dann dementsprechend aus. Ich hoffe, sie war nicht schwer.

Lucina: Das mit dem täglichen Posten ist mir diesmal leider nicht geglückt, aber bis Kapitel elf werd ich versuchen das Tempo durchzuhalten. Weil Wochenende ist, wird es mir wohl gelingen.