Kapitel 18: Weihnachtsgeschenke
Wenige Tage später war Weihnachten und erst jetzt wurde Nadja so richtig bewusst, wie einsam sie hier eigentlich war. Natürlich bekam sie dicke Briefe von Rishkan und Tarson, nette Weihnachtskarten und kleine Geschenke, doch das machte ihr den Verlust erst so richtig deutlich. Es lag Monate zurück, dass sie die beiden gesehen hatte. Kenneth war zu ihrer Freude zwar geblieben, aber er war kein wirklicher Ersatz für zu Hause.
Nun saß sie ziemlich zerknittert in der großen Halle, bemerkte nicht die festliche Dekoration, die Freude und Ausgelassenheit unter den Lehrern und den hier gebliebenen Schülern und spielte gelangweilt mit ihrem Glücksbringer, den sie sich zum Zeitvertreib mitgenommen hatte.
„Ein Geschenk?", wollte Keneth neben ihr wissen.
„Nein, den hab ich schon länger", gab Nadja monoton zurück und warf einen nervösen Blick zum Lehrertisch, doch Professor Pawn schien sich im Augenblick mehr für Madam Hooch zu interessieren.
„Darf ich mal anfassen?", bettelte Keneth, und da dieser nichts von der wahren Natur der kleinen Silberfigur wissen konnte, gab sie nach.
Keneth ergriff den Glücksbringer ganz vorsichtig und wog ihn nachdenklicher in der Hand. „Das ist sicherlich wertvoll", stellte er fest und reicht ihr ihn schließlich.
„Einfach nur ein Glücksbringer." Unruhig nestelte sie an einem kleinen Päckchen, das noch immer ungeöffnet vor ihr lag.
„Und das willst du gar nicht aufmachen?"
Nadja blickte erst jetzt richtig auf das unscheinbare Geschenk. Es wirkte irgendwie zerrupft, obwohl sie sich alle Mühe beim Verpacken gegeben hatte. „Das ist nicht für mich."
„Und für wen dann?"
„Für den Professor."
Kenneth riss die Augen weit auf und auch unmittelbar neben ihr drehten sich einige interessierte Schülerköpfe zu ihr um. „Du gibst einem Lehrer Geschenke, noch dazu Snape! Fühlst du dich ganz gut?"
Nadja lächelte. „Er kann es wirklich brauchen, glaub mir!"
„Das ist Snape!"
„Genau, jemand anderer könnte damit nicht viel anfangen." Sie warf einen Blick zum Lehrertisch. Professor Pawn blickte gerade zu ihr herunter und Nadja wurde wieder ganz Angst und Bang. Sie rief sich wieder Rishkans Worte in Erinnerung. Nadja sollte sich zwar gegenüber Pawn vorsichtig verhalten, doch eine unmittelbare Bedrohung sei sie mit größter Wahrscheinlichkeit nicht. Rishkan irrte sich zwar nur selten, aber das änderte nichts an dem unguten Gefühl im Magen. Sie sah zu Snape und musste überrascht feststellen, dass dieser nicht mehr hier war.
„Professor Snape ist schon gegangen?"
„Aber ja doch", antwortete Kenneth. „Jack sagt, der bleibt nie besonders lang bei solchen Veranstaltungen."
Nadja sprang vom Tisch auf, erleichtert einen Grund zu haben den Saal zu verlassen, und ergriff das Päckchen. „Ich muss noch ein Geschenk loswerden. Wir sehen uns später im Gemeinschaftsraum." Und sie war schon weg.
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Snape war erleichtert, als er den Saal voller fröhlicher Schüler und nicht weniger ausgelassener Lehrer hinter sich gelassen hatte. Solche Feiern waren ihm ein Gräuel, doch Dumbledore bestand immer darauf, dass er als Hauslehrer von Slytherin zumindest am Anfang dabei war. Nun saß er gemütlich vorm, zur Feier des Tages, einmal gemütlich brennenden Kamin in der angenehmen Gesellschaft eines interessanten Buches über Schrumpftränke, eines gut gefüllten Glases Brandy und einiger Plätzchen, die ihm eben ein Hauself gebracht hatte. Da klopfte es.
Snape war so überrascht, dass er beinahe das Buch hätte fallen lassen. Es war Weihnachten! Welcher normale Mensch trieb sich an einem Abend wie diesem im Kerker von Hogwarts herum und wagte es darüber hinaus noch an seiner Tür zu klopfen? Der Direktor? Das sähe ihm wieder ähnlich. Begriff der denn nie, dass er gerade zu Weihnachten keine Gesellschaft brauchte? Aber draußen stehen lassen durfte er den Schulleiter auch nicht.
Seufzend legte er das Buch auf den Tisch und ging rasch zur Tür. Je schneller er Dumbledore wieder loswurde, desto eher könnte er auf seine Art Weihnachten weiterfeiern. Er riss die Tür auf. „Direktor, Sie wissen doch, dass ich noch etwas zu erledigen ha…." Er unterbrach sich, denn vor ihm stand nicht Dumbledore. „Delano? Warum sind Sie nicht in der Großen Halle?"
Die kleine Hufflepuff wirkte irgendwie erleichtert und etwas außer Atem. „Es ist Weihnachten", keuchte sie, als ob dies ein Grund wäre das fröhliche Weihnachtsessen zu verlassen.
Snape hatte einen ganz bösen Verdacht. „Hat Sie der Direktor geschickt mich zurück zu holen?"
Das Mädchen starrte ihn etwas verwirrt an, doch dann schüttelte es schnell ihren Kopf. „Nein, Professor. Ich wollte Ihnen nur frohe Weihnachten wünschen."
Snape seufzte. Erst diese lästige Weihnachtsdekoration, die die ganze Zeit ihre Nadeln verlor, und nun auch noch das. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber jetzt gehen Sie wieder zurück in die Große Halle." Er verstummte, als er das kleine zerrupfte Päckchen sah, das ihm das Mädchen gerade entgegenstreckte.
„Frohe Weihnachten!", sagte sie erneut und wartete geduldig, bis er endlich seine Hand ausstreckte und das Geschenk etwas überrumpelt an sich nahm.
Snape wog das Päckchen nachdenklich in seinen Händen und versuchte sich an die Gelegenheiten zu erinnern, bei denen er in der Vergangenheit ein Weihnachtsgeschenk bekommen hatte. Viele waren es nicht.
Das Mädchen blickte ihn gespannt an und er begriff, dass sie darauf wartete, dass er es auspackte. Er wurde misstrauisch. Keiner hätte das jemals gewagt, aber das Ganze sah verdächtig nach einem Schülerstreich aus, aber bei Delano…
„Also gut, dann kommen Sie rein", knurrte er.
Das Mädchen wirkte einen Augenblick lang verunsichert, doch dann trat sie ein. Neugierig sah sie sich um, während Snape hinter ihr die Türe schloss.
„Sie werden sich bei Ihren Schülern nicht sehr beliebt machen, wenn Sie Weihnachtsgeschenke an Lehrer austeilen, schon gar nicht an jemanden wie mir", sagte Snape und wandte sich ihr wieder zu.
„Nur Kenneth weiß davon."
„Und Ihre Noten werden deswegen auch nicht besser werden", fuhr er fort, als ob er ihre Worte nicht gehört hätte.
„Die Noten sind ja nicht so wichtig", beteuerte das Mädchen.
Snapes Augenbrauen wanderten missbilligend nach oben. Doch dann seufzte er und begann tatsächlich das Geschenk auszupacken und staunte nicht schlecht, als er damit fertig war. Es war ein kleines Fläschchen mit einer kupferroten Flüssigkeit darin.
„Das ist der Trank der wandernden Seelen", erklärte die kleine Hufflepuff, noch ehe Snape fragen oder das kleine beiliegende Pergamentstück lesen konnte. „Und er enthält drei Haare aus der Mähne eines Einhorns und 20 Gramm gemahlenes Einhornhorn."
In diesem Augenblick konnte es Snape sehr gut verstehen, warum manche ihn für einen ungerechten Lehrer hielten, und im Falle der kleinen Delano tat es ihm sogar leid. „Das geht nicht. Einhornhaar und das Horn eines Einhorns kommen niemals zusammen in einem Zaubertrank vor. Versuche das Gegenteil zu beweisen, haben meistens zu spektakulären Unfällen geführt, und wenn nicht, dann hatte der Trank absolut keine Wirkung." Sein Blick fiel nun endgültig auf das Pergament. Da stand tatsächlich „Trank der wandernden Seelen" und eindeutig nicht in der Handschrift der kleinen Hufflepuff. Als er aber die Zutatenliste überflog, blieb sein Blick an zwei Punkten hängen.
„Affodillwurzel und Wermutaufguss? Das sind die Zutaten für den Trank der lebenden Toten."
„Aber auch für diesen Trank", warf das Mädchen ein. „Schließlich bewirkt er ebenfalls einen todesähnlichen Schlaf, aber nicht nur. So wie ich das verstanden habe, kann bei diesem Schlaf die Seele den Körper verlassen und herumwandern, sogar zaubern, wenn der Zauber nur den Schläfer selbst betrifft. Und kein Mensch kann einen bemerken, weil man schließlich ganz woanders ist."
Snape überflog das Rezept erneut. Es war kompliziert, sicherlich fast so schwer wie der Wolfsbann-Trank, doch er würde den Trank sicherlich einmal ausprobieren, nur um zu erfahren, ob bei diesem Rezept kein Kessel in die Luft fliegen würde. Und vielleicht war auch etwas an Delanos Worte dran, vielleicht…
Da kam der Schmerz. Snape unterdrückte einen Schrei und umklammerte krampfhaft seinen linken Arm. Beinahe hätte er das Fläschchen fallen lassen und stellte es daher vorsichtig auf den Tisch. Gut, Voldemort hatte ihn wieder gerufen. Wurde also nichts aus Weihnachten. Schon wollte er in sein Schlafzimmer eilen, um die weiße Maske und den Kapuzenumhang zu holen, als er sich erinnerte, dass die kleine Hufflepuff hier war.
„Zurück in die Große Halle!" blaffte er sie an, doch das Mädchen starrte ihn nur aus Schreckens geweiteten Augen an und rührte sich nicht von der Stelle, sehr zu seinem Ärger.
„Danke für das Geschenk, aber ich habe noch Wichtiges zu erledigen", fuhr er fort und biss die Zähne zusammen. So schmerzhaft hatte er das Dunkel Mal noch nie gespürt. Oder lag das einfach nur daran, dass ihn Voldemort so lange nicht gerufen hatte?
„Sie dürfen nicht gehen", flüsterte das Mädchen. „Voldemort wird sie töten."
Nun starrte Snape das Mädchen an.
„Sie haben ja jetzt den Trank", fuhr sie eindringlich fort. „Sie müssen nicht einmal mehr fort, um zu spionieren."
„Wer hat Ihnen einen solchen Unsinn erzählt?", bluffte Snape.
„Das ist doch egal. Sie dürfen nur nicht gehen!", flehte das Mädchen. „Der Trank…"
Snape holte einige Male tief Atem, um sich zu beruhigen. „Miss Delano, Sie werden zurück in die Große Halle gehen, sofort! Haben Sie verstanden?"
Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle.
„Muss ich Ihnen wieder Punkte abziehen oder mit Schulverweis drohen?"
„Nein, aber…"
„Dann gehen Sie schleunigst zurück zu Ihren Mitschülern und erzählen Sie ihnen kein Sterbenswörtchen von Ihren absurden Vermutungen!" Er zückte sogar seinen Zauberstab und richtete ihn auf die kleine Hufflepuff, natürlich ohne die Absicht ihn gegen sie einzusetzen.
Delano schüchtere er allerdings ein, denn sie machte einen zögerlichen Schritt zurück, einen weiteren und stand schließlich mit dem Rücken zur Tür.
Snape öffnete diese, schob das Mädchen einfach hinaus und knallte dann die Tür hinter ihr zu.
Kochend vor Wut stampfte er in sein Schlafzimmer. Wie konnte eine Schülerin nur so einfach dahinter kommen, dass er ein Todesser gewesen war und noch dazu, dass er nun für Dumbledore spionierte? Wahrscheinlich hatten Potter und seine Freunde nicht ihren Mund halten können. Was sollte er schon anderes von denen erwarten? Er zog den schwarzen Umhang und die weiße Maske aus einer verborgenen Lade heraus und wollte schon wieder seine Wohnung verlassen. Als er an dem Tischchen vorbeikam, auf dem das Fläschchen mit dem angeblichen Trank der wandernden Seelen stand, hielt er kurz inne. Das Geschenk hatte ihm wirklich eine Freude gemacht, obwohl ein Kind eigentlich seine Finger von solchen Tränken lassen sollte. Und wenn er tatsächlich funktionierte, dann könnte dies das letzte Mal sein, dass er wirklich bei Voldemort erscheinen musste, ohne seine Tätigkeit als Spion aufgeben zu müssen.
Das Dunkle Mal brannte wieder. Er musste los.
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Nadja lugte hinter der Ritterrüstung hervor, als der Tränkemeister mit wehendem Umhang und weißer Maske in der Hand an ihr vorbeihastete. Voldemort hatte Snape gerufen und der Tränkemeister war gegangen. Ganz deutlich hatte sie ihre sonderbaren Tagträume vor wenigen Tagen in Erinnerung. Jedes Mal, wenn sie von irgendetwas geträumt hatte, war in der Zukunft etwas geschehen, das mit diesem Traum zu tun gehabt hatte. Was würde nun geschehen? Zwar war keine grüne Schlange erschienen und hatte den Tränkemeister verschluckt, aber die Sprache der Träume war immer sehr kryptisch und sie wusste, was jeder Todesser auf dem linken Arm trug. Snape lief einer Gefahr entgegen und jemand musste ihn aufhalten. Dumbledore verständigen? Der Direktor würde ihr glauben, aber bis sie bei ihm war und er etwas tun konnte, wäre Snape schon längst weg. Das gleiche galt noch viel mehr für Rishkan und Tarson. Blieben nur noch sie übrig und Anatol, der irgendwo im Verbotenen Wald war und noch keine Ahnung hatte, was geschehen war und – hoffentlich nicht – noch geschehen würde.
Sie vergewisserte sich, dass sie ihren Dolch und den Glücksbringer dabei hatte, zog sogar ihren Zauberstab und lief dann los. Sie war keine normale Schülerin, sie musste nicht unbedingt den Befehlen eines Lehrers Folge leisten, vor allem dann nicht wenn es um Leben und Tod ging.
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Computerproblem ist noch immer nicht beseitigt, aber irgendwann... Und dann werden auch die Kapitel regelmäßiger kommen. Versprochen.
Ich hoffe, das Rätsel, warum Nadja trotz tatkräftiger Hilfe keinen Einhorntrank finden konnte, ist gelöst.
Dax: Danke. :-)
Cyberrat: Vielen Dank für das liebe Review.
Abhaya: Ein neuer Leser! Ich kann es nicht fassen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich über dein Review bin. Und zweieinhalb Stunden durchgelesen, wahrscheinlich vom Bildschirm! Großes Lob! Was Nadja angeht, so bin ich richtig froh, dass sie anscheinend doch noch nicht zu einer Mary-Sue mutiert ist. Was sie ist, will ich noch nicht verraten. Da möchte ich erst noch Snape die Chance geben, dahinter zu kommen. Was die anderen drei Leute betrifft, so stimmt das schon, dass einer von ihnen (Tarson) kaltherzig ist. Aber die drei kommen ohnehin bald genauer. Und Voldemorts neuer Verbündeter hat in den nächsten Kapiteln seinen großen Auftritt.
