Kapitel 23: Angra Mainyu

Er stand in einem großen, kreisrunden Saal mit einem Boden aus weißem Sand und Wänden aus einem Gestein, das wie scharfkantiger Obsidian wirkte, sich allerdings warm und fast lebendig anfühlte, als er es flüchtig berührte. An einigen Stellen waren Schlangenabbildungen zu sehen, die ihm mit ihren Augen aus funkelnden Rubinen zu folgen schienen. Sonst gab es allerdings enttäuschend wenig in diesem riesigen Saal zu bestaunen. Die einzigen Gegenstände waren ein niederer Tisch und zwei Sitzkissen genau in der Mitte. Das sah geradezu nach einer Falle aus, und so ging er einige Zeit an der Wand entlang, wie ein Panther, den man in einen Käfig gesperrt hatte.

Lediglich eine kleine Stubenfliege leistete ihm Gesellschaft und surrte beharrlich um ihn herum, obwohl er mehr als einmal vergeblich nach ihr schlug. Es war zum verrückt werden! Aber vielleicht wollte Voldemort genau das damit erreichen.

Er zwang sich dazu stehen zu bleiben und entschied sich schließlich doch auf einem der Sitzkissen Platz zu nehmen. Doch kaum machte er den ersten Schritt in die Mitte, hörte er ein höfliches Klatschen. Snape schnellte herum, doch da war niemand. Vielleicht ein Tarnumhang?

„Aber nein doch", hörte er eine freundliche Stimme mit einem starken aber undefinierbaren Akzent. „So etwas wie einen Tarnumhang habe ich nicht nötig. Doch kommt nur näher!"

Auf einem der Kissen saß plötzlich ein alter Mann, der ihn auf dem ersten Blick stark an Dumbledore erinnerte, wenn auch sein Bart um einiges kürzer und mehr grau als weiß war. Seine Augen hatten zwar eine warme braune Farbe und seine Haut war um einiges dunkler, trotzdem, eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu leugnen.

„Nur keine Scheu, Professor", munterte ihn der Fremde auf. „Ich bin alles andere als Ihr Feind, obwohl es Ihnen wohl im Augenblick schwer fällt, das zu glauben. Geben Sie einem alten Mann wie mir aber trotzdem eine Chance und nehmen Sie doch Platz!"

Snape näherte sich nach kurzem Zögern, doch er hatte eigentlich nichts mehr zu verlieren, und vielleicht sprach der Mann tatsächlich die Wahrheit.

„Was wollen Sie? Tee oder doch besser ein Glas Duagh (1)?", fuhr der Fremde fort, noch ehe Snape richtig saß, und ließ eine Kanne mit Tee und eine Glaskaraffe mit einer milchigtrüben Flüssigkeit erscheinen, anscheinend dieses Duagh. „Etwas Berauschendes kann ich Ihnen leider nicht anbieten. Ich komme aus einem Land, in dem Alkohol verboten ist. Aber Sie sehen mir ohnehin so aus, als ob sie lieber Tee hätten."

„Woher kommen Sie denn?", versuchte Snape ein Gespräch zu beginnen.

Der Mann hörte damit auf ihm unaufgefordert Tee einzuschenken – zu seinem Erstaunen in ein Glas – und sah amüsiert zu ihm hoch. „Dieses England wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben. Das Wetter kennt fast nur Regen, die Menschen sind höflich aber doch zurückhaltend und man möchte zuerst wissen, woher jemand kommt, anstatt wie er heißt." Der Alte schüttelte amüsiert den Kopf.

„Wenn Sie keinen Regen mögen, dann müssten sie ja überaus zufrieden sein", fuhr Snape ungerührt fort und griff nach dem ihm angebotenen Glas. „So regnerisch sind die letzten Wochen auch nicht gewesen, nur ein wenig stürmisch, finden Sie nicht auch, Herr…?"

„Nennen Sie mich Angra Mainyu!"

Snape versuchte den Namen geographisch einzuordnen. Leider hielten sich seine Sprachkenntnisse in Grenzen und alles, was außerhalb Europas lag, war die große weite Welt.

„Und Sie haben Recht", fuhr der Fremde fort, „Der Regen lässt dieses Jahr wirklich auf sich warten. Keine Tragödie, wenn Sie mich fragen. Aber ich schätze, keiner von uns beiden möchte wirklich über das Wetter reden. Greifen Sie ruhig zu!"

Auf eine Handbewegung von Angra Mainyu erschienen Schüsseln mit exotischen Früchten, Fladenbrot, gelbem Reis – seine Nase vermutete mit Safran gewürzt – und gegrillten Fleischstückchen. Die Stunden ohne Essen ließen die ihm dargebotenen Speisen wie Nektar und Ambrosia erscheinen und schon wollte er nach einem köstlichen Pfirsich greifen, da setzte sich diese lästige Fliege auf die Frucht.

Mit einem Mal hatten all die Speisen ihre Anziehungskraft verloren. Blaugrauer Schimmel wucherte in dicken Matten auf Früchten und Brot, fette Maden wanden sich aus Reis und Fleisch und selbst der Tee hatte eine giftgrüne Farbe angenommen. Snapes Hand zuckte zurück, als ob ihn eine Schlange gebissen hätte.

„Alles in Ordnung?", wollte Angra Mainyu besorgt wissen.

Snape starrte auf den Tisch mit den Köstlichkeiten, die genauso verlockend aussahen wie noch vor einem Augenblick; der Hunger war ihm trotzdem vergangen. „Nichts", entgegnete er. „Es ist nur so. Das Weihnachtsessen auf Hogwarts fällt immer sehr üppig aus."

In den Augen des alten Mannes blitze es einen Augenblick lang verärgert, doch das freundliche Lächeln kurz darauf lenkte davon sofort wieder ab. Snape hatte es aber sehr wohl bemerkt. „Wie dumm von mir. So viel habe ich von Hogwarts gehört, aber ich hielt das meiste davon für, verzeihen Sie mir, Übertreibung." Auf einen Wink verschwanden die Speisen und nur die gefüllten Gläser blieben übrig. „Aber den Tee dürfen Sie mir nicht abschlagen!"

Snape wusste sehr gut, was man alles in Getränke hineinmischen konnte. Beinahe hätte er vergessen, dass dieser Mann ein Untergebener von Voldemort war und jemand, der anscheinend etwas mit diesen Ungeheuern und Schlangenstabmenschen zu tun hatte. Trotzdem führte er sein Glas zum Mund und tat so, als ob er davon trinken würde. Er wollte seinen Gastgeber zumindest vorerst in Sicherheit wiegen.

Angra Mainyu warf ihm einen misstrauischen Blick zu und stellte schließlich sein eigenes Glas zurück auf den Tisch, ohne es selbst angerührt zu haben. „Sie haben es wohl schon selbst bemerkt", begann der alte Mann, als auch Snape das Glas zurückstellte. „Sie befinden sich in ernsten Schwierigkeiten. Der Dunkle Lord", seine Stimme zitterte kaum merklich, „ist nicht gut auf Verräter zu sprechen."

„Das ist wohl der Grund, warum ich hier bin", stellte Snape fest. „Obwohl ich mir die Bestrafung ganz anders vorgestellt habe."

Angra Mainyu lächelte mild. „Ich weiß, er wollte Sie töten. Doch ich konnte ihn dazu überreden, Sie noch ein wenig am Leben zu lassen."

Snape spürte, wie die Angst wieder in ihm hochkroch.

„Der Meister", Angra Mainyu schauderte, „macht sonst keine Ausnahmen, wenn es um die Bestrafung von Verrätern geht. Aber ich habe ihm glauben gemacht, dass ich Sie wieder zu einem Todesser machen könnte. Er braucht dringend einen Spion, der Hogwarts und den Orden des Phönix im Auge behält. Ein Doppelagent wie Sie wäre ihm nur recht."

Snape wollte auffahren, doch er hielt sich im letzten Augenblick zurück. Voldemort hatte in der letzten Zeit einige Niederlagen erleiden müssen. Er könnte tatsächlich verzweifelt genug sein, sich auf so etwas einzulassen. Und wenn Snape Glück – eine riesige Portion Glück versteht sich – hatte, könnte er seine Arbeit als Agent für Dumbledore und den Orden fortsetzen und Voldemort das verlorene und wieder gefundenen Schäfchen vorspielen. Zumindest aber hätte er eine Chance zu fliehen und sein und vielleicht auch Delanos Leben zu retten.

Angra Mainyu hatte ihn während der ganzen Zeit nicht aus den Augen gelassen. „Ganz genau, für eine Flucht würde es reichen, doch kaum für mehr", antwortete er. „Ich könnte Ihnen dazu verhelfen."

Snape zuckte zusammen. Sein Gegenüber beherrschte Legilimentik und anscheinend sehr gut. Bis jetzt hatte er es jedes Mal gespürt, wenn jemand in seinen Gedanken herumwühlte; bei diesem Angra Mainyu traf das nicht zu. „Das wäre Selbstmord, auch für Sie", entgegnete Snape mit gezwungener Ruhe. „Außerdem, was würde Ihnen das bringen."

„Ich mache das Ganze auch nicht umsonst", stellte Angra Mainyu klar.

Sämtliche Alarmglocken schrillten in Snapes Kopf. Er hielt nicht viel von Personen, die andere erpressten. Doch es stand zumindest sein Überleben auf dem Spiel, wenn dieser Angra Mainyu die Wahrheit sprach. „Und was genau wollen Sie von mir?"

Statt einer Antwort stand Angra Mainyu auf. Er ging einige Male auf und ab, ohne ein Wort zu sagen, offensichtlich scharf nachdenkend. „Es ist meine Schuld, ganz allein meine Schuld", jammerte er plötzlich, und Snape empfand fast so etwas wie Mitleid, obwohl er noch gar keine Ahnung hatte, was Angra Mainyu eigentlich sagen wollte.

„Sie haben sie vielleicht schon gesehen, nein, Sie sind ihnen bestimmt schon begegnet."

Snape wusste nicht genau, von was oder wem Angra Mainyu sprach, aber er hatte zumindest eine Ahnung: diese fremden Wesen in Voldemorts Gefolge.

„Wir werden fast überall verfolgt, als ob wir Ungeheuer wären", setzte Angra Mainyu fort. „Es ging sogar so weit, dass man uns aus unserer rechtmäßigen Heimat vertrieben hat. Und dann war da jener, dessen Namen nicht genannt werden darf." Angra Mainyu schüttelte sich voller Angst. „Er versprach uns Schutz vor unseren Verfolgern und eine neue Heimat, wenn wir ihm nur den ein oder anderen Gefallen tun, und wir haben ihm geglaubt."

So ähnlich ging Voldemort auch bei den Riesen vor. Doch vor ihm stand kein Riese, vor ihm stand ein Mensch aus Fleisch und Blut, soweit er dies beurteilen konnte. Sprach er vielleicht mit einem Werwolf oder einem Vampir?

„Nein, nein, so etwas bin ich nicht", beschwichtigte ihn Angra Mainyu und Snape musste mit Ärger feststellen, dass sein Wissen in Okklumentik bei jemandem wie seinem Gegenüber nicht richtig zu funktionieren schien.

„Verstehe ich Sie also richtig?" schlussfolgerte Snape laut. „Sie gehören zu diesen… Dingern?"

Angra Mainyu seufzte und setzte sich wieder auf sein Sitzkissen. „Sie müssen schon einen ganz schlechten Eindruck von uns bekommen haben", stellte er bitter fest. „Die meisten von uns sind nicht besonders klug, und wenn jemand uns befiehlt, in eine Schule einzudringen und Angst und Schrecken zu verbreiten, dann tun wir es. Ob dabei Menschen zu Schaden kommen, ist uns egal. Wir haben zuviel schlechte Erfahrung mit Muggel und Zauberer gemacht und haben wenig Mitleid mit ihnen. Doch der Dunkle Lord", seine Stimme bebte vor Angst, „benutzt uns nur für seine finsteren Pläne. Wir sollen für ihn die Drecksarbeit machen, und davon abgesehen sind wir ihm vollkommen egal. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft er einen Cruciatus auf mich gesprochen hat und einmal wollte er mich gar mit einem Avada Kevadra töten, nur weil er schlechte Laune hatte."

„Und was hat das alles mit mir zu tun?"

Angra Mainyu starrte ihn an, und plötzlich lag da so etwas wie eine Spur von Wahnsinn in seinem Blick. „Albus Dumbledore."

Snapes Augen weiteten sich vor Unglauben.

„Keine Angst", beruhigte ihn Angra Mainyu. „Dumbledore gehört zu den wenigen Menschen, die Voldemort die Stirn bieten können. Ich würde ihm meine Hilfe anbieten, wenn ich und meine Diener im Gegenzug Schutz vor Voldemort gewährt bekommen."

Snape vertraute ihm, und genau das machte ihn misstrauisch. Denn eigentlich traute er niemandem, schon gar nicht jemandem, dessen Anhänger Hogwarts überfielen – aus welchen Gründen auch immer – emotionslos zusahen, wie Menschen ermordet wurden und denen es wohl genauso wenig ausgemacht hätte, wenn er an der Stelle von Walsingham gestorben wäre. Solchen Personen, nein Wesen, vertraute niemand, und erst recht nicht er. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass dieser Angra Mainyu wahrscheinlich schon längst wusste, was er dachte.

„Wie machen Sie das?", wollte er nach einigen Augenblicken wissen, um ein wenig Zeit zu gewinnen.

Angra Mainyu lächelte unschuldig. „Wie mach ich was?"

„Ich kenne mich soweit in Okklumentik aus, dass ich es spüren müsste, wenn jemand in meinen Geist eindringt. Aber Sie machen das die ganze Zeit."

Diesmal lachte Angra Mainyu leise. „Das liegt vermutlich daran, dass ich nicht auf normalem Weg versuche, in den Geist anderer einzudringen. Legilimentik ist nur ein zweitklassiges Mittel, um an gewünschte Informationen zu gelangen."

Snape runzelte die Stirn. Wenn man Legilimentik sehr gut beherrschte, konnte man an praktisch alle Informationen gelangen, die man benötigte.

„Legilimentik spürt man, wenn sie angewendet wird", erklärte Angra Mainyu amüsiert. „Und man bekommt nur eine zufällige Auswahl von Erinnerungen zu sehen. Je besser man den Zauber beherrscht, desto zielgerichteter ist die Auswahl. Trotzdem bleibt es nichts weiter als ein Glücksspiel."

„Und mit Ihrem Zauber ist das anders?", Er verstand sich und die Welt nicht mehr. Da war er vor kurzem noch von einem ehemaligem Schulfreund verpfiffen worden, Voldemort hatte den Cruciatus gleich zweimal an ihm angewandt, ihn statt zu töten in den Kerker werfen lassen. Und nun saß er einer Person gegenüber, die für den Monsterüberfall auf Hogwarts verantwortlich war, trank mit ihm Tee – oder tat zumindest so – und unterhielt sich mit ihm über das, was Potter damals so falsch und doch so treffend Gedankenlesen genannt hatte.

Angra Mainyus wissendes Lächeln verriet ihm, dass dieser alles von seinen verschobenen Gedankengängen mitbekommen hatte. „Nun, sagen wir so. Es ist weniger ein Zauber als eine Gabe. Aber Sie haben mir noch keine Antwort gegeben."

Snape schwieg.

„Ich verlange ja nicht von Ihnen, dass sie Albus Dumbledore umbringen. Sie sollen ihn lediglich um Hilfe bitten. Und ich bin auch bereit, mich dafür erkenntlich zu zeigen. Warum sagen Sie nicht ja?"

Snape dachte an den Überfall in Hogwarts, daran wie ihn diese Riesenschlage und dieser Schlangenstabmensch beinahe umgebracht hätten, kaltblütiger als es selbst Voldemort tat. Obwohl Angra Mainyu praktisch nichts von ihm verlangte, hätte er es sich zehnmal überlegt sein Angebot anzunehmen, selbst wenn sein Leben auf dem Spiel stand. Aber es stand ja nicht nur sein Leben auf dem Spiel.

„Ich werde es tun", sagte Snape und stellte fest, wie ein selbstzufriedenes Lächeln über Angra Mainyus Gesicht huschte. „Ich werde Dumbledore Ihr Angebot überbringen, mehr nicht."

„Mehr hab ich auch nicht verlangt", unterbrach ihn sein Gegenüber.

„Aber nur unter eine Bedingung."

Das Lächeln in Angra Mainyus Gesicht gefror und die warmen braunen Augen bekamen einen leichten gelben Stich. „Ich denke nicht, dass Sie in der Lage sind, Forderungen zu stellen", knurrte er, allerdings noch immer in einem freundlichen Ton.

„Nun, dann können Sie sofort die Todesser zurückrufen. Ich werde es nämlich sonst nicht machen."

Angra Mainyu schwieg und starrte ihn lange an. „Also gut, hören wir uns an, was Sie zu sagen haben!"

„Es geht um eine Schülerin."

Angra Mainyus Augenbrauen wanderten plötzlich amüsiert nach oben. „So, eine Schülerin? Und wie kann ich Ihnen dabei helfen?"

„Sie ist mir irgendwie gefolgt, und…"

„… jetzt sitzt sie im Kerker", unterbrach ihn Angra Mainyu. „Meine Diener haben mich schon darüber informiert."

„Nun, dann wissen Sie ja, vor welchem Problem ich stehe. Wenn eine Schülerin verschwindet, wird es zu Fragen kommen. Und das will ich vermeiden."

Angra Mainyu lachte. Snape versuchte sich einzureden, dass es ein warmes, freundliches Lachen wäre, aber es wollte einfach nicht gelingen. Für einen Augenblick glaubte er sogar, dass Voldemorts Lachen angenehmer war. „Anscheinend hängen sie sehr an dem Kind", behauptete er schließlich.

„Unsinn! Ich kann Kinder nicht ausstehen", antwortete Snape aus Gewohnheit, doch noch während er sprach, musste er feststellen, dass Angra Mainyu Recht hatte. Delano gehörte zu jener kleinen Zahl von Schülern, die nicht vor seiner bloßen Anwesenheit Angst hatten, sie war gut in Zaubertränke (obwohl, da hatte er mit seinen Bestrafungsmethoden wohl ein wenig nachgeholfen), leistete ihm hie und da am Abend Gesellschaft – mittlerweile freiwillig – und schien mit seinen gelegentlichen sarkastischen und bissigen Kommentaren umgehen zu können. Um es kurz zu machen, er hatte sich an das Mädchen gewöhnt und er würde etwas vermissen, wenn er es nicht mehr in den Gängen Hogwarts sehen würde. Außerdem fühlte er sich für sie verantwortlich, seit er sie im Verbotenen Wald gefundenhatte.

„Wenn Sie ohnehin keine Kinder mögen, ist das ja kein Problem. Die Kleine kannte das Risiko, als sie Ihnen folgte", unterbrach Angra Mainyu seine Gedanken. „Daher wird sie es auch verstehen, wenn weder Sie noch ich versuchen ihr zu helfen. Was Hogwarts betrifft, so ist das Mädchen eben auf rätselhafte Weise verschwunden. Ich glaube kaum, dass das Ministerium besonders intensiv nach ihr suchen wird."

Snape glaubte sich verhört zu haben. Das klang nicht nur fast wie ein Todesurteil, es war auch eines. Doch dann erinnerte er sich an das Entsetzen in den Augen der Schlangenstabmenschen.

„Ihr wollt aus Angst nicht helfen", stellte er fest.

Angra Mainyu wirkte nun wirklich überrascht. „Angst? Ich? Vor einem Kind? Warum sollte mir etwas wie ein Kind Angst einflößen?"

„Ich bin nicht blind."

Sein Gastgeber lachte auf. „Dumbledores Spion glaubt tatsächlich, dass wir vor Nadjeschda Delano Angst haben. Aber das entspricht nicht ganz der Wahrheit."

„Ihr kennt sie?"

Angra Mainyu blickte ihn amüsiert an, und diesmal hatte sich eindeutig etwas an seinem Aussehen geändert. Die einst gütigen braunen Augen hatten nun die Farbe von Schwefel, mit schlitzförmigen Pupillen wie bei Katzen. „Aber ja doch, besser als ihr wahrscheinlich angenehm ist", behauptete er. „Sie mag lästig sein, immer dann auftauchen, wenn man sie am allerwenigsten brauchen kann – eine bedauerliche Angewohnheit von ihr. Aber warum sollte ich deshalb Angst vor ihr haben?"

Snape fühlte sich so hilflos ohne seinen Zauberstab. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätten den Raum verlassen, und er hätte das auch getan, wenn es noch eine Tür gegeben hätte. So beschränkte er sich aber bloß darauf tonlos zu antworten: „Sie wollen also einfach zusehen, wie Voldemort ein Kind ermordet?"

Wieder lachte Angra Mainyu. „Wenn Sie wüssten, über wen wir uns gerade unterhalten, würden Sie nicht so dumme Forderungen stellen. Aber…" Er schwieg und starrte Snape plötzlich an, „…bevor Sie mich für einen Unmenschen handeln, sollten Sie wissen, dass dieses kleine Kind für gewöhnlich mit einer Person zusammenarbeitet, die mehr Menschen auf dem Gewissen hat, als Voldemort und Grindewald zusammen."

Snape hielt es in der Nähe von diesem Angra Mainyu nicht mehr aus, rappelte sich auf und wich vor seinem Gastgeber zurück. Was dieser sagte, nahm er gar nicht richtig wahr.

„Vielleicht sind Sie ihm ja schon begegnet", fuhr Angra Mainyu fort, als ob nichts wäre. „Obwohl er ein Meister im Tarnen und Untertauchen ist, kann man ihn ganz leicht an den roten Schuppen am Handrücken erkennen."

„Ich kenne niemanden mit Schuppen auf den Händen", zischte Snape. „Und wenn, dann wären Sie der letzte, dem ich es verraten würde." Er zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich mit dem Rücken zur Wand stand.

„Wo wollen Sie denn hin?", wollte Angra Mainyu freundlich wissen und stand ebenfalls auf, machte aber keine Anstalt, sich ihm zu nähern. „Kommen Sie zurück zu mir!"

Snape musste mit Entsetzen feststellen, dass seine Beine ihm nicht mehr gehorchten und tatsächlich Angra Mainyus Befehl befolgten. Es war kein Imperius, das wusste er genau, aber das änderte nichts an der ähnlichen Wirkung.

„Warum wollen Sie nicht mir und sich selbst einen Gefallen tun, und nebenbei noch den meisten anderen Menschen?", wollte Angra Mainyu wissen, noch immer mit einer so unerträglich freundlichen Stimme.

„Ich wusste gar nicht, dass sie sich plötzlich so für Menschen interessieren", entgegnete Snape und war erleichtert darüber, dass ihm noch seine Zunge gehorchte. „Schließlich sind sie ja keiner."

Angra Mainyus Augen verengten sich zu kleinen, gelben Schlitzen, eindeutig ein Zeichen von Zorn. „Bas (2)!", zischte er und hielt ihm plötzlich Nadjas silberne Insektenechse entgegen. „Kennen Sie das?"

„Es gehört nicht Ihnen", erwiderte Snape ruhig.

„Nein, tut es nicht, aber auch nicht Eurer bemitleidenswerten, etwas zu neugierigen Schülerin. Oh nein, aber es ist etwas ganz besonderes." Mit einer schnellen Handbewegung ließ er die Figur zu Boden fallen, und wieder geschah das kleine Wunder. Die Figur bewegte sich und krabbelte zielsicher von Angra Mainyu fort. Hätte sie mehr als ihredrei Beinchen gehabt, vielleicht wäre ihr die Flucht sogar geglückt. Aber so musste sich Angra Mainyu nur kurz bücken, um das zappelnde Ding wieder in der Hand zu halten.

„Sehen Sie?", schnaubte Angra Mainyu. „Ein nützliches kleines Wesen. Es kann jede noch so große Verletzung heilen. Nun gut, bei Giften und Krankheiten hat es einige Probleme, aber bei Verletzungen gibt es keinen Zauber, keinen Trank, der besser helfen würde als dieses kleine Wesen." Angra Mainyu hielt das beißende und zischende Tier direkt vor Snapes Nase und der Tränkemeister erinnerte sich daran, dass es wahrscheinlich auch einmal sein Leben gerettet hatte.

„Aber offensichtlich will es mir nicht helfen", sprach Angra Mainyu plötzlich ruhig und zuversichtlich. „Und ich bin jemand, der keinen Ungehorsam duldet, egal ob von einem so nützlichen Wesen wie diesem, oder einem nützlichen Zauberer wie Ihnen." Er berührte das fauchende Wesen an der Schnauze, und es wurde wieder zu einer kleinen Silberfigur. „Wollen Sie sich noch immer weigern?", fragte er mild und drückte seine Finger zusammen.

Snape hatte keine Ahnung, wie stabil diese Figur war, doch er hielt sie eindeutig zu hart, um sie mit der bloßen Hand zu zerquetschen. Sogar ein Riese hätte dabei seine Probleme gehabt, Angra Mainyu aber anscheinend nicht. In seinen so zerbrechlich wirkenden Fingern zerbröselte buchstäblich die Insektenechse und schließlich ließ er die Splitter achtlos zu Boden fallen, wo sie sich für einen Augenblick in zuckende, lose Gliedmaßen verwandelten und dann leblos liegen blieben. Snape wusste ganz genau, dass man diese Figur oder was auch immer das war, nicht mehr reparieren konnte.

„Ich hoffe, Sie haben sich endlich eine Antwort überlegt", erinnerte ihn Angra Mainyu freundlich. „Denn mit der Zeit verliere ich die Geduld mit Ihnen."

Snape hätte jetzt sagen können, dass er seinen Vorschlag annehmen würde, um dann wie bei Voldemort zu spionieren. Doch im Vergleich zu Angra Mainyu schien Voldemort einfach zu täuschen gewesen zu sein. Sein Gegenüber war ein Meister der Legilimentik, wusste wahrscheinlich längst, was er dachte, und er hatte keine Ahnung, wie er dieses Einmischen in seinen Gedanken aufhalten konnte. Er spürte es ja nicht einmal. Und dann war da noch der unglückliche Ministeriumsagent, der genau das Gleich vorhatte zu tun, oder es zumindest behauptet hatte, was Angra Mainyu nun von ihm verlangte zu tun.

„Sie wollen Voldemorts Fall", flüsterte Angra Mainyu, „und Dumbledore will ihn auch. Was gibt es denn da noch zu überlegen?"

„Nicht so", stellte Snape tonlos fest, wohl wissend, dass es sein Todesurteil sein konnte. „Dumbledore wird dem nie zustimmen."

„Das können Sie nicht wissen, bis er von diesem einmaligen Angebot weiß", antwortete Angra Mainyu geduldig.

„Und ich bin mir mittlerweile sicher, dass nicht Voldemort, sondern Sie das größere Übel sind", fuhr Snape ruhig fort und schloss dabei endgültig mit seinem Leben ab.

„Das wird auch Dumbledore erkennen, wenn er es nicht schon längst weiß."

Angra Mainyu fauchte und schien sich aufzublähen. Sein Körper dehnte und streckte sich, während Arme und Beine immer kleiner wurden, bis ihn ein gigantisches schlangenähnliches Wesen aus starren gelben Augen anstarrte.„Ich bekomme immer das, was ich will", zischte er, „und Sie sind da keine Ausnahme. Nur schade, dass es so enden muss."

1) Eine Art Molkegetränk, das im Iran gerne getrunken wird (hat mir zumindest ein Reiseführer verraten).
2) Ist persisch und heißt „genug" (aus dem gleichen Reiseführer). Ob ich das richtige Genug erwischt habe, kann ich leider nicht sagen.

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Nur ein Review! Niemand hier? Oder sind die vielen Cliffhanger schuld?
Diesmal eines der längeren Kapitel, und endlich taucht dieser mysteriöse Angra Mainyu auf, zumindest länger als nur ein paar Zeilen. Ich weiß, einige Fragen wurden (ansatzweise) beantwortet, hauptsächlich von Angra Mainyu selbst, aber da sind wahrscheinlich noch einige dazugekommen. Angra Mainyu lügt übrigens nicht, aber die Wahrheit sagt er auch nicht wirklich.

Abhaya: Danke, danke für das Review! Keine Sorge wegen Malfoy. Tarson ist sehr kreativ, wenn er verärgert ist. Was die Schokofroschkarten betrifft, Portschlüssel sind die keine (sonst wäre Malfoy ja schon in Hogwarts), aber trotzdem ganz nützliche Helfer für jemanden, der spioniert.