Kapitel 24: Ein neues Spiel
Hogwarts war wie ausgestorben, kein Wunder um diese Zeit. Die Nacht war schon längst angebrochen, und jeder Schüler, der ihm nun über den Weg gelaufen wäre, hätte mit einem empfindlichen Punkteabzug rechnen müssen. Wenn er jetzt nur noch einen Gryffindor erwischt hätte, am liebsten Potter und seine Freunde, wäre der Tag noch zu retten gewesen. Das war auch der Grund, warum er durch das Schloss streifte, zumindest glaubte er das. Es war, als ob jemand ein längeres Stück seiner Erinnerungen herausgeschnitten hätte, und so wusste er nicht einmal, warum er an diesem Abend so schlechte Laune hatte. Vielleicht steckte dieses fehlende Stück in Dumbledores Denkarium? Er sollte so schnell wie möglich zurück in den Kerker.
Nach einiger Zeit erreichte er die Große Halle und verharrte. Seine Erinnerungslücke musste etwas größer sein, denn einiges hatte sich dort verändert. Die meisten Tische und Stühle waren verschwunden, und stattdessen bedeckte ein gigantisches Schachbrett den Boden mit menschengroßen Spielfiguren darauf. Lediglich der Hohe Tisch war geblieben, wenn auch nur eine einzige Person auf seinem angestammten Platz saß, Albus Dumbledore. Das Szenario erinnerte ihn ein wenig an Flitwicks Schachspiel vor sechs Jahren, nur war dieser Anblick um einiges Furcht einflößender.
„Direktor, was machen Sie noch hier?", begrüßte er Dumbledore. „Und was hat das hier zu bedeuten? Habe ich etwas verpasst?"
Dumbledore lächelte, aber nicht so, wie er gewohnt war. Dieses Lächeln hätte Stahl schneiden und Luft in Eis verwandeln können. Es hätte eher zu Voldemort gepasst, oder zu noch jemandem, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Doch schon allein der Gedanke an diese Person jagte ihm die Gänsehaut über den Rücken.
„Du warst wirklich lange fort, Severus", bestätigte Dumbledore. „Das da ist ein Schachbrett."
„Wie das von Professor Flitwick", bestätigte Snape, doch das stimmte nicht. Professor Flitwicks Schachfiguren waren nur Figuren gewesen, sehr große natürlich, aber nichts weiter als Figuren. Doch diese hier wirkten fast lebendig, wenn ihnen auch allesamt die Gesichter fehlten. Warum zum Teufel stellte Dumbledore ein Schachbrett mitten in die Große Halle?
„Ich hatte mir gedacht, dass es einmal Zeit für ein nettes Spiel ist", erklärte Dumbledore, als ob er die Frage laut gestellt hätte.
„Direktor, es ist mitten in der Nacht. Sie können doch auch noch morgen spielen oder…" Snape brach ab. Etwas an Dumbledore irritierte ihn und machte ihm richtig Angst.
„Nein, nein, Severus. Morgen ist es zu spät. Jetzt muss ich spielen. Aber sieh ruhig zu!"
„Direktor, Albus, Sie wissen doch ganz genau, dass ich ein miserabler Schachspieler bin."
„Ich will ja nur, dass du zusiehst."
Snape verdrehte die Augen und kam näher. An den Figuren war, wie er aus der Nähe bemerkte, nichts Besonderes, außer, dass sie so ungewöhnlich groß waren. Es gab keinen Grund, warum sie ihn beunruhigen sollten; sie taten es aber trotzdem.
„Was genau soll ich mir denn nun ansehen?", wollte Snape schließlich wissen, nachdem er einige Zeit gemeinsam mit Dumbledore stumm das Schachbrett betrachtet hatte.
„Nun, was interessiert dich mehr?" gab Dumbledore verschmitzt zurück. „Voldemorts Schreckensherrschaft vor fünfzehn Jahren oder der Voldemort von heute."
Snape blieb einen Augenblick lang die Luft weg. „Was hat das mit Schach zu tun?", brachte er heiser hervor.
„Oh, eine ganze Menge. Aber fangen wir mit der Vergangenheit an, die war ohnehin viel ereignisreicher, zumindest bis jetzt. Außerdem ist die Geschichte vom zurückgekehrten Voldemort noch gar nicht entschieden. Ich müsste raten, und das will ich nicht."
Snape verstand kein Wort, doch sein Blick wurde praktisch sofort auf das Schachbrett gelenkt. Dort hatten sich die Figuren verändert, aber auf eine Art und Weise, die ihm die Sprache verschlug. Nun waren es keine leblosen, gesichtslosen Figuren mehr, sondern Menschen, und zwar fast alles Menschen, die er kannte. Sogar sich selbst konnte er erkennen, und auch Voldemort und Dumbledore, beide Könige. Die Figuren waren so perfekt gearbeitet, dass er für einen Augenblick lang sogar annahm, den Originalen gegenüber zu stehen. Aber das konnte nicht sein, da waren einige Personen, von denen er wusste, dass sie schon längst tot waren. Eine weitere Besonderheit bestand darin, dass er nur an der Stellung erkennen konnte, welche Figur zu welcher Seite gehörte. Farblich gab es so gut wie keinen Unterschied. Da standen sich Todesser und Mitglieder des Ordens gegenüber, wie zwei gleiche Parteien. Snapes Blick fiel auf sein eigenes Abbild, einen Läufer, der bei den Todessern stand. Aber auch Peter Pettigrew war noch bei den Mitgliedern des Ordens. Snape wollte Dumbledore schon auf die beiden Fehler hinweisen, als das Spiel begann.
Er hatte ein einfaches Zauberschach erwartet, bei dem zwar Köpfe rollten, aber nur die Köpfe von leblosen Spielfiguren. Das hier war etwas anderes. Schon nach wenigen Zügen hätte er vollkommen den Überblick verloren, hätte er nicht gewusst, wer aller zu Voldemorts Anhängern gehörte und wer nicht. Auch fuhren die Figuren fast willkürlich, als ob es keine festgelegten Regeln gäbe, was vor allem für Voldemort und Dumbledore galt. Und manchmal bemerkte er eine Figur, die erst im Nachhinein in das Spiel eingefügt worden war. Doch das Schlimmste war es, wenn eine dieser Figuren geschlagen wurde.
„Die Brüder Gideon und Fabian Prewett", erklärte Dumbledore, als zwei Personen von insgesamt fünf Todessern umzingelt wurden. „Excelente Auroren, aber gegen eine solche Übermacht konnten sie einfach nichts ausrichten."
Snape sah zu seinem Entsetzen, wie diese fünf Todesser, unter ihnen Antonin Dolohov, ihre Zauberstäbe auf die entwaffneten Auroren richteten. Er wusste, was damals geschehen war, noch ehe die beiden von grünen Blitzen getroffen wurden und leblos zu Boden sanken. Sie blieben nicht lange auf dem Schachbrett, sondern lösten sich langsam auf.
„Wilkes", fuhr Dumbledore fort und deutete diesmal auf einen Todesser. „Fiel im Kampf gegen Auroren."
Wieder starb eine Figur, und wenn es auch diesmal ein Todesser war, so war es nicht weniger entsetzlich anzusehen.
„Die McKinnons wurden von Travers ermordet", kommentierte Dumbledore das Spiel weiter. „Dorcas Meadows von Voldemort persönlich getötet. Sie war vor dir unsere Spionin in Voldemorts Reihen. Wusstest du das? Und kurz darauf bist du zu uns gekommen und hast ihren Platz übernommen."
Snape war damals bei Dorcas Tod dabei gewesen. Voldemort hatte alle Todesser rufen lassen, was ihm seltsamerweise irgendwie vertraut vorkam. Doch selbst im Angesicht ihres Todes hatte sie nicht um ihr Leben gebettelt, etwas, was ihn damals so imponiert hatte, dass er Dumbledore schließlich seine Hilfe anboten hatte. Denn einen solchen Mut hatte er bei keinem Todesser, nicht einmal bei Voldemort selbst finden können. Diese hätten alles und jeden verraten, wenn es um ihr Leben gegangen wäre, und Snape wollte auf einer Seite stehen, auf die er sich verlassen konnte, wenn er einmal in Gefahr war. Dorca jetzt wieder sterben zu sehen, genauso wie damals vor siebzehn Jahren, tat weh.
Doch sie blieb nicht die letzte. Er sah noch, wie Caradoc Dearborns Leiche im Meer versenkt wurde (woher wusste eigentlich Dumbledore, was damals mit ihm geschehen war, schließlich galt er als verschollen), den Tod von Edgar Bones und seiner Familie, genauso wie den vieler anderer. Die Ermordung von Regulus Black tat ihm erneut weh, denn Voldemort hatte ihn getötet, als er seine ersten Zweifel über seine Spionagetätigkeit bekam. Dass Voldemort einen aus den eigenen Reihen nicht nur folterte sondern gar tötete, hatte ihn schließlich davon überzeugt, dass der Oden des Phönix der sicherere Hafen war. Den Schlussstrich in dem Massaker auf dem Schachbrett machten zu seiner Verwunderung nicht Lily und James Potter, sondern die Longbottoms. Sie starben zwar nicht, verschwanden aber aus dem Spiel, nachdem die gefoltert wurden, schon lange, nachdem das Spiel mit einem überraschenden Matt zu Ende gegangen war.
„Hat es dir gefallen?", wollte Dumbledore wissen, nachdem sich die Überlebenden – er war einer von ihnen – zu ihren Ausgangspositionen zurückgezogen hatten und nun wieder gesichtslos auf eine weitere Partie warteten.
„Gefallen!", hauchte Snape schockiert. „Du glaubst im Ernst, das Ganze hätte mir gefallen?"
„Nun, du hast ganz gespannt das Spiel verfolgt. Also nahm ich an, dass es dir schon gefallen hat. Aber wenn nicht, es gibt auch ein weiteres Spiel: Voldemorts Rückkehr vor zwei Jahren."
Wieder wurden aus den leblosen Figuren fast real wirkende Kopien von Personen, und es waren alte Bekannte dabei. Lord Voldemort, wie er einen unbekannten Mann – offenbar einen Muggel – tötet, Barty Crouche senior, ermordet von seinem eigenen Sohn, Cedric Diggory, der so sinnlos sterben musste, weil er den Fehler machte gemeinsam mit Potter den Feuerkelch zu ergreifen. Gefolgt von dem Ministeriumsangestellten Boderick Bode, erdrosselt von einem tödlichen Weihnachtsgeschenk in Sankt Mungo's, Sirius Black, der durch den Vorhang in der Mysterienabteilung wortwörtlich in den Tod stürzte, und dann kamen jene Opfer, von denen er nichts wusste. Eine ihm nur flüchtig bekannte Todesserin, die an irgendetwas erstickte, allerdings konnte er keinen Grund dafür erkennen. Nur ganz vage erinnerte sich Snape an einen Zeitungsartikel über den Tod eines Todessers (oder anscheinend einer Todesserin) bei einem Überfall, getroffen von einem Zauber aus den eigenen Reihen. Das musste sie gewesen sein. Und schließlich wurde jemand von Voldemort getötet, von dem sich Snape nicht sicher war, ob er Clay oder Walsingham hieß. Wahrscheinlich steckte dieses Stück Erinnerung gemeinsam mit ein paar anderen wichtigen Informationen im Denkarium.
„Und dann", fuhr Dumbledore mit seinen Erklärungen fort, denen er in diesem letzten Spiel ohnehin nicht mehr gefolgt war, „kommen wir leider zu dir. Am selben Tag als Spion enttarnt, von einem alten Freund verraten."
Snape glaubte einen Auenblick lang, das Herz würde ihm stehen bleiben, als seine eigene Spielfigur von Voldemorts Avada Kevadra tödlich getroffen auf den Boden sackte.
„Hast du vielleicht eine Ahnung, wie diese Partie ausgehen wird, jetzt, wo du nicht mehr mitspielst?", wollte Dumbledore plötzlich von Snape wissen, während seine Spielfigur sich langsam in Luft auflöste und die Überlebenden zu ihren Startpositionen zurückkehrten. „Nein? Nun, wie wäre es dann mit einer weiteren Partie? Mit einer, die in zehn Jahren spielt, in fünfzig, in hundert? Wer sind dann die Figuren? Du auf alle Fälle nicht mehr, und wahrscheinlich auch ich nicht." Auf eine Bewegung von Dumbledores Zauberstab verloren die Spielfiguren wieder ihre Gesichter und stellten sich gehorsam auf ihre Startpositionen.
„Direktor, warum glauben Sie, dass ich enttarnt werde und dass mich Voldemort tötet. Ich meine, ich bin ja schließlich am Leben und hier in…" Er brach ab, denn langsam kamen ihm ernsthafte Zweifel, ob er tatsächlich noch am Leben war. Wo immer er auch war, das sah vielleicht auf dem ersten Blick wie Hogwarts aus, war es aber nicht. Vielleicht war es wirklich so, wie er soeben gesehen hatte. Vielleicht war an seinem Vergessen nicht das Denkarium schuld, sondern die Tatsache, dass er schlicht und einfach nicht mehr am Leben war.
„Keine Sorge, Snape, noch bist du nicht tot. Doch das ist nur noch eine Frage der Zeit."
„Aber wenn es noch nicht geschehen ist, warum zeigen Sie es mir dann?"
Dumbledore schwieg, kein nachdenkliches Schweigen, sondern ein abschätzendes, als ob der Direktor darauf warten würde, was seine nächste Reaktion wäre.
„Direktor", fragte Snape schließlich, als ihm gar nichts mehr einfallen wollte. „Nach welchen Regeln spielen Sie eigentlich?
Dumbledore lachte, und wieder kam ihm das Lachen bekannt vor, obwohl es nicht zu dem alten Zauberer passte. „Regeln, welche Regeln? Das Leben folgt keinen Regeln, Severus. Ich dachte, das hättest du schon begriffen." Dumbledores Gesicht wurde dann aber schlagartig wieder ernst. „Obwohl, ich denke, eine Regel gibt es schon, nämlich die, dass sich alles wiederholt. Es ist immer dasselbe Spiel, nur die Figuren werden ausgetauscht." Dumbledores Augen suchten die von Snape. „Es ist ganz egal, was du machst, was Potter tut, oder was ich mache. Im Endeffekt ist alles zwecklos, denn es wird sich wieder ereignen."
„Das meinen Sie nicht ernst", hauchte Snape und starrte auf die Figuren, noch immer gesichtslos, aber für wie lange.
„Oh doch, Severus. Ich hab es dir doch gerade gezeigt. Das Spiel ist immer das gleiche, nur die Spielfiguren ändern sich, und nicht einmal das." Dumbledore seufzte resigniert und deutete auf den schwarzen König. „Siehst du, ich habe Grindewald besiegt." Der König bekam jenes Gesicht, von dem er wusste, dass es das von dem gefürchteten Schwarzmagier Grindewald war. „Damals, 1945, als ich noch jung war." Dumbledore lachte. „Zumindest um einiges jünger als heute. Und was hat es mir gebracht? Die Dementoren blieben, obwohl sie Grindewalds größte Verbündete waren. Und er bekam schnell einen Nachfolger." Grindewalds Gesicht verblasste und wurde zu dem eines Jugendlichen. „Tom Riddle nahm seinen Platz ein und wurde Voldemort, wie ich dir schon erzählte habe."
Entsetzt beobachtete Snape, wie sich das Gesicht des Jungen erneut in das flache Schlangengesicht von Voldemort verwandelte.
„Und wer wird Voldemorts Nachfolger werden, wenn wir Erfolg haben? Und dessen Nachfolger?"
Snape ging einen Schritt zurück. Der Direktor schien vollkommen den Verstand verloren zu haben.
„Das macht dir Angst, Severus, das kann ich verstehen. Mir ging es genauso. Aber so ist das nun mal. Immer wird es jemand geben, der versucht, mit Gewalt Macht an sich zu reißen, der versucht sie mit allen Mitteln in seinen Fingern zu behalten. Er oder sie wird vielleicht einen guten Grund dafür haben, oder gar gute Absichten. Das ändert aber nichts an den Dingen, die deswegen geschehen."
Snape bemerkte erst jetzt, dass er angefangen hatte zu zittern.
„Hast du gewusst", fuhr Dumbledore ungerührt fort, „dass die meisten Verbrechen, die wirklich großen Verbrechen, im Namen des Guten begannen werden?"
Er konnte nur fassungslos seinen Kopf schütteln. Albus musste krank sein, das war die einzige Erklärung.
„Denn die Menschen, egal ob Zauberer oder Muggel sind im Grunde ihres Herzens böse."
„Nicht alle", behauptete Snape. „Sie sind es nicht, zumindest waren Sie es nicht, als…"
Er brach ab, als Dumbledore zu lachen begann, diesmal ein spöttisches und abfälliges Gekicher, das Snape so weh in seiner Seele tat, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
„Oh, was glaubst du, wie oft ich Voldemort den Tod gewünscht habe. Und auch Grindewald starb nicht friedlich. Aber möchtest du nicht das Spiel sehen, unsere Zukunft?
Die Schachfiguren bekamen wieder Gesichter, Gesichter, die ihm nur zum Teil vertraut schienen. Er vermeinte einige seiner Schüler zu erkennen, wenn auch deutlich älter. Verzweifelt suchte er sein Gesicht, aber es war nicht dort. Natürlich, er hatte ja soeben seinen Tod gesehen. Und wieder begann das grausame Spiel, wieder zogen die Figuren, wieder wurde Figuren geschlagen, und wieder waren es Menschen, die vor seinen Augen starben, kein Spielzeug.
„Albus, hör auf!", flehte Snape, doch der Direktor lachte nur. Nein, das war kein kranker oder wahnsinnig gewordener Dumbledore. Das war jemand anderer.
Er ging einen Gang entlang, flankiert von einigen Todessern, drei Personen mit schlangenähnlichen Stäben und sogar zwei Dementoren.
Vor ihm stand noch immer das Wesen, das wie Dumbledore aussah, doch nun wusste er, dass es nicht Dumbledore war. Es war Voldemorts neuster Verbündeter, Angra Mainyu.
Albus/Angra Mainyu wurde von einem Augenblick auf den nächsten ernst. Seine Augen waren nun nicht mehr blau, sondern wieder gelb mit den schlitzförmigen Pupillen. „Gar nicht mal so dumm", stellte Angra Mainyu anerkennend fest. „Es ist zu schade, dass Sie nicht auf mein Angebot eingegangen sind."
Snape griff automatisch nach seinem Zauberstab, war aber nicht einmal so überrascht, als er ihn nicht in seiner Tasche fand. Voldemort persönlich hatte ihn ja an sich genommen. Und mit diesem Gedanken kehrte seine Erinnerung zurück, so heftig und so schnell, dass es fast körperlich wehtat.
Angra Mainyu beobachtete ihn einen Augenblick amüsiert, wandte sich aber schließlich von ihm ab und spielte weiter mit seinen Figuren, als ob er nicht da wäre.
Snape versuchte das Entsetzen der letzten Stunden fürs erste einmal zur Seite zu schieben und sich einen Plan zu überlegen, wie er Angra Mainyu entkommen und den echten Albus Dumbledore warnen konnte. Mittlerweile war er sich fast sicher, dass dies alles überhaupt nicht Hogwarts war, sondern nur irgend so ein Trick von Angra Mainyu. Und wenn das nicht Hogwarts war, dann hatte es vielleicht auch keinen Sinn vor Angra Mainuy davon zu laufen. Trotzdem, das war das einzige, was ihm im Augenblick einfiel, abgesehen von den vielen Möglichkeiten, die ihm sein Zauberstab geboten hätte.
Da Angra Mainyu noch immer damit beschäftigt war, Personen aus der Zukunft auf seinem Schachbrett zu massakrieren und nicht sonderlich auf ihn achtete, begann er mit leisen Schritten unauffällig auf den nächsten Gang zuzugehen. Als er den halben Weg zurückgelegt hatte, sah der falsche Dumbledore sogar einmal kurz in seine Richtung, keinesfalls darüber beunruhigt, dass sein Gefangener möglicherweise entkommen konnte. Doch für Snape war dieser kurze Blick Grund genug, endgültig die Flucht zu ergreifen.
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„Du kannst nicht entkommen!", rief ihm Angra Mainyu lachend hinterher, nachdem er schon eine ganze Weile durch die Gänge gehetzt war. „Das Spiel wird immer gespielt, und ist man nicht Spieler, so ist man Figur, daran kannst du nichts ändern."
Snape versuchte nicht hinzuhören, und wäre dies hier alles echt, dann hätte er Albus/Angra Mainyu längst nicht mehr hören können, zu weit war er schon von der Großen Halle entfernt. Eigentlich hätte Snape nun gedacht, dass ihn seine Beine automatisch in den Kerker tragen würden, dorthin, wo er sich normalerweise sicher fühlte. Aber wahrscheinlich hatte Angra Mainyu auch sein Refugium nach seinen Wünschen gestaltet, und vielleicht war dieses innere Wissen der Grund, warum er sich schließlich dabei ertappte, nicht die Treppen hinunter, sonder hinauf zu laufen.
Er saß in einer Zelle, vor ihm ein kleines Mädchen, das ängstlich die Arme um die Beine geschlungen hatte und ihn entsetzt anblickte. Er wusste, dass er sprach, doch nicht, was er sagte.
Snape blieb zitternd stehen, vertrieb mühsam die Bilder aus seinem Kopf und versuchte sich zu orientieren. Wenn dies Hogwarts gewesen wäre, dann wäre er nun auf dem Weg zum Astronomieturm. So hatte er aber keine Ahnung, wohin ihn die Treppe tatsächlich führte. Trotzdem hatte er das verrückte Gefühl dass er dort vor Angra Mainyu in Sicherheit war.
„Alles, was du tust, ist zwecklos, Zauberer. Du musst dich damit abfinden", zischte Angra Mainyu, als ob er direkt neben ihm stehen würde, doch er war nicht hier. Stattdessen hatten sich die Bilder in den Rahmen verändert und zeigten nun ausnahmslos Schlangen aller Art.
Snape war ein Slytherin, er hatte keine Angst vor dem Wappentier seines Hauses. Doch als die Reptilien damit begannen aus den Bilderrahmen zu kriechen, lief er so schnell wie ihn seine Beine trugen weiter nach oben. Die Treppen verwandelten sich immer mehr in Schlangengruben und Snape musste höllisch aufpassen, von den unnatürlich aggressiven Tieren nicht gebissen zu werden. Aber irgendwie gelang es ihm doch die Tür zum Dach des Astronomieturms aufzustoßen und erleichtert ins Freie zu stolpern.
Wenn er trotz der letzten Erlebnisse noch immer in dem Glauben gewesen wäre, in Hogwarts zu sein, hätte dieser Ausblick alle Zweifel zerstört. Zum Gelände von Hogwarts gehörte zwar ein Gewässer, allerdings nur ein See, kein Meer wie dieses, das um den Astronomieturm, und nur um diesen, brodelte. Der Rest von Hogwarts war nicht zu erkennen.
Doch Snape achtete kaum darauf, auch nicht auf den Regen, der in sein Gesicht peitschte und in kürzester Zeit seine Kleidung durchdrang. Denn er konnte spüren, dass Angra Mainyu fehlte, genauso wie er gespürt hatte, dass mit dem falschen Direktor etwas nicht stimmte. Und auch dieser Gedanke wurde zur Nebensache, als er etwas sehr seltsames draußen auf dem Meer entdeckte.
Zuerst hielt er es für Felsen oder eine Gruppe von Eisbergen mitten auf dem Meer, doch er verwarf den Gedanken sofort wieder, als sein Blick höher wanderte. Drei Eisberge in unmittelbarer Nähe waren eine Seltenheit. Noch seltener war, dass diese Eisriesen weiter oben zusammenwuchsen und… Erst jetzt erlaute sein Gehirn sich die Vorstellung, dass das da vorne nicht irgendwelche bizarr geformte weiße Felsen oder Eisberge waren, sondern eine riesige Statue, die mitten auf dem Meer stand, oder gar ein Lebewesen. Snape hatte heute schon eine Menge gesehen: ein wahrhaft teuflisches Wesen, ein monströses Schachspiel, Bilder, die ihre Rahmen verließen und zu beißen begannen. Da konnte ein dreibeiniger Esel mit einem einzigen goldenen Geweih auf der Stirn (das mehr einem gigantischen Baum glich), der mitten auf der Meeresoberfläche stand, auch nicht so abwegig sein. Das Wesen war zwar weit entfernt, trotzdem musste es eine Höhe von mindestens hundert Metern haben, vielleicht das einzige, was Snape in seiner Lage wirklich verwundert hätte. Um den Kopf des Riesenesels zuckten Blitze, schlugen zum Teil in ihm ein, ohne ihn allerdings irgendwie zu stören. Snape wusste, er hätte zumindest eine Spur von Angst vor dieser Kreatur fühlen müssen, aber dem war nicht so. Im Gegenteil, der dreibeinige Eselhirsch beruhigte ihn, und als er seinen Kopf zu ihm wandte und ihn aus seinen drei Augen, schwarz wie leere Tunnel, ansah, wusste er, dass er Angra Mainyu entkommen war, noch bevor der Astronomieturm und das tobende Meer verschwunden waren.
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Ich hab das Kapitel gehasst, als ich es geschrieben habe – hoffentlich merkt man das nicht so sehr. Es war einfach ein Alptraum, nicht nur für Snape, aber jetzt bin ich froh, dass es hinter mir liegt.
Vielen, vielen Dank für die lieben Reviews! Die haben mich bei all dem Prüfungsstress richtig aufgebaut.
Lucina: Macht ja nichts wegen dem letzten Kapitel. Ich bin froh, dass du wieder da bist. Dass da irgendetwas bei nicht so funktioniert hat, wie es sollte, hab ich auch bemerkt. In diesem Kapitel ist Nadja leider noch nicht da, aber das ändert sich im nächsten. Versprochen!
Dax: Danke:-)
Abhaya: Ich kann Angra Mainyu auch nicht ausstehen, ich weiß schließlich, was der alles noch vorhat. Aber auch er macht zum Glück Fehler, und einer davon war, die Silberfigur zu zerstören. Ich schätze, mittlerweile bereut er es schon. Die Fliege war übrigens kein Zufall, die hat Snape ganz bewusst das Leben gerettet (und das war mittlerweile ihr dritter Auftritt).
