Wohin verschwinden verlorene Flügel?
"Ich bin vierzehn. Kannst du fliegen?
Fliegen - die ultimative Freiheit. Kein Widerstand, keine Grenzen, einfach fallen lassen.
Wenn ich Flugangst habe - heißt das, ich habe Angst vor der Freiheit? Angst vor dem Aufprall, der unmittelbar nach dem freien Fall folgt? Angst davor, alles loszulassen? Angst davor, keine sicheres Netz mehr zu haben?"
Aus einem Tagebuch von Hermoine Granger, vermutlich im Juni 1993.
Transfiguration. Eines der Fächer, die Harry und Ron weniger mochten als Hermione. Klar, die Sprüche fielen ihnen leicht, sie hatten ja genug Zeit zu üben. Aber die Theorie – aargh! Es wurde Zeit, einen Erinnerungstauschzauber zu finden.
"Mister Potter, konzentrier dich!"
"Ja, Maam."
Harry blickte auf und verwandelte die Maus ohne mit der Wimper zu zucken in eine Teedose.
"5 Punkte für Slytherin, aber das ist kein Grund, in meiner Stunde einzuschlafen."
"Ja, Maam."
"Oder war da jemand nachts in den Gängen unterwegs?"
"Nein, Maam."
Minerva McGonnagal war lange genug Lehrerin, um sagen zu können, wenn ein Kind log.
"Und warum bist du sonst nicht wach?"
Harry zögerte einen Moment.
"Ich weiß es nicht, Maam."
"Du warst heute Nacht unterwegs."
"Nein, Maam."
"Die Stunde ist beendet. Strafarbeit, heute Abend, Potter."
"Da bin ich bei Professor Snape, Maam."
"Glück gehabt.", scheuchte sie ihn ohne einen neuen Termin aus dem Raum. Als er um die Ecke bog, hörte sie ein leises Murmeln. "Wohl eher Unglück." Sie schmunzelte. Manche Dinge änderten sich nie.
"Ich hab den Zauber gefunden, der uns unsere Erinnerungen tauschen lässt.", meinte Ron.
"Heißt das, nur Hermione braucht zu lernen?", fragte Harry.
"Harry!", fauchte Hermione. Aber sie klang nicht sehr ernst.
"Wann?"
"Heute, vor Harrys Strafarbeit. Eine Minute, ist ein Jahr, das geht sich in der viertel Stunde locker aus."
"Ist das nicht verboten?"
"Nein, aber es wird nicht praktiziert, weil die Leute alle Gedanken teilen. Da wird ziemlich viel Vertrauen abverlangt."
"Seid ihr bereit?", fragte Ron.
"Klar."
"Schwört einen Eid, nie weiterzugeben, was ihr heute erfahrt.", flüsterte Harry.
"Ich, Ronald Bilius Weasley, schwöre bei meiner Magie, nie weiterzugeben, was ich heute erfahre."
"Ich, Harry James Potter, schwöre bei meiner Magie, nie weiterzugeben, was ich heute erfahre."
"Ich, Hermione Jane Granger, schwöre bei meiner Magie, nie weiterzugeben, was ich heute erfahre."
"Gut, dann setzt euch alle auf das Bett, und haltet eure Hände.", meinte Ron, als die Magie des Eides verklungen war.
Harry und Hermione folgten ihm.
"Exchangere Memoria!"
Bilder rasten an ihm vorbei. Die Brüder, Percy, Ginnys Geburt, Fred und George werden gelobt, Tante Sera ignoriert ihn, Charlie und Vater machen einen Ausflug, er darf nicht mit, Bill und Mutter umarmen sich, Mutter hat keine Zeit, weil Ginny gleich da ist, alle haben ein eigenes Zimmer, er bekommt die Abstellkammer, Vater erinnert sich nicht an seinen zweiten Vornamen,...
Mutter und Vater schreien auf sie ein, Mutter sagt, ihre Karriere ist ruiniert, Vater hätte sich einen Stammhalter gewünscht, sie darf nicht malen, weil es nichts für die Schule bringt, Mutter zwingt sie in Tanzstunden, Vater und Mutter sind nicht zu Hause,...
Vernon und Petunia schreien, Mama stirbt, Dudley spielt Harry jagen, er macht den Abwasch und kocht, Petunia sperrt ihn in den Kleiderschrank, Tante Marge erzählt ihm von seinen drogenabhängigen Eltern, Vernon wird rot vor Wut...
"Gott- Harry!", keuchte Ron. Die drei starrten sich an. Eine Welle des Verständnis und Vertrauens huschte über ihre Gesichter. Vertrauen, so tief, wie es in dieser Zaubererwelt kein zweites Mal gab. Harry senkte die Augen. "Ich muss zu Snape." Er rannte los, ohne zurückzublicken.
"Potter! Du bist spät."
"Ja, Sir."
"Was ist deine Ausrede?"
"Ich habe keine, Sir."
"Das macht dann noch eine Woche Strafarbeit."
"Ja, Sir."
Der Junge gehorchte schnell, dachte Severus Snape. "Putz die Kessel."
"Ja, Sir.", antwortete Harry lächelnd, noch bevor Severus Snape "ohne Magie" hinzufügen konnte, hatte er einen Reinigungszauber gesprochen. Aargh!
"Du wirst heute abend beim Sortieren der Vorratskammer helfen." Severus Snape sah die Begeisterung in den Augen des Jungen "und wenn auch nur eine Unze Flubberwurmmist fehlt.." Der Kopf des Jungen senkte sich, wenn auch kaum merkbar. Woher konnte er eigentlich den Reinigungszauber? Und warum verdammt legte er es darauf an, den Strafarbeitenrekord seines Vaters schon im ersten Jahr zu brechen?
Währenddessen begann Ron Weasley, einen Brief zu schreiben.
"Liebe Mama,
egal was du von mir denkst, weil ich in Slytherin bin, ich hoffe, du verstehst, wenn ich dich darum bitte, mir zu helfen. Ich bin, wie du sicher schon weißt, im selben Raum wie Harry – und du musst ihm helfen! Kannst du dir vorstellen, dass jemand sein eigen Fleisch und Blut verprügelt? Mama – auch wenn du Probleme hast, dass ich in Slytherin bin, bitte lass ihn nicht hängen! Ich – "
Ron pausierte, nur um festzustellen, dass der Text dank der Magie des Eides unsichtbar geworden war.Er fluchte. Er wusste nicht, wie stolz seine Mama in diesem Moment auf ihn wäre. Er würde einen Weg finden, diesen Eid zu brechen. Er würde Harry helfen! Und wenn er dafür jede Nacht in der Bibliothek saß!
Es war bereits nach Mitternacht, als Harry von Snape aus gehen durfte.
Ron und Hermione waren noch wach.
"Harry?"
"Ja."
"Wir müssen reden."
"Worüber?"
"Die Dursleys."
"Kann das nicht bis morgen warten?"
"Nein."
"Ihr wisst eh schon alles."
"Nein."
"Nein?"
"Wie können wir dich da rausholen?"
"Gar nicht."
Ron und Hermione tauschten einen Blick.
"Also gut, ihr könnt es mir leichter machen. Heiltränke und Schutzzauber und so Sachen."
"Du solltest darüber reden", meinte Hermione, "Ich hab ein Buch gelesen, wo sta.."
"-ich kenn deine Erinnerungen, Hermione. Lass gut sein für heute. Ich bin müde."
"Ja aber du kannst doch nicht einfach – träumst du nicht davon, ihnen es heimzuzahlen? Einmal sie zittern sehen?", fragte Ron.
"Ich träume davon, ja. Es ist einer meiner größten Wünsche, sogar. Eine Versuchung. Aber wenn ich es tue, dann bin ich nicht besser als sie. Kein bisschen."
Hermione und Ron wussten, sie konnten niemanden informieren, ihr Eid band sie. Ihre stummen Schreie würden von den Lehrern unbemerkt bleiben. In dieser Nacht wurden zwei Kinder ein wenig erwachsener. Sie wussten ein Geheimnis, ein schreckliches Geheimnis, und ihnen war bewusst, dass sie nun Verantwortung trugen. Verantwortung für einen Helden, der in Wirklichkeit nur ein kleiner, verängstigter Junge aus einem Schrank unter der Treppe war.
Am nächsten Morgen war alles ganz anders. Sie saßen beim Frühstück, als eine unbekannte Eule Harry ein Paket brachte. Die drei öffneten es vorsichtig.
Ein Pergament flog heraus
.. der Tag wird kommen, an dem du bereuen wirst, diesen Weg gegangen zu sein... Happy Halloween!
Harry schluckte und blickte in die Kartonschachtel. Auf einmal wurde er kalkweiß.
"Hedwig!", flüsterte er. "Hedwig."
Ron und Hermione starrten fassungslos auf Harry, der wie in Trance seine Eule aus der Schachtel hob.
"Wer auch immer dich getötet hat, Kleines", flüsterte er, "wer auch immer es getan hat, hat mich nicht besiegt. Ich werde mich nicht rächen, meine Schöne, ich werde dich rächen."
Er trug die Eule quer durch die Halle. Rubeus Hagrid blickte ihm unglücklich nach. "Er hat gesagt, sie war das erste Geburtstagsgeschenk, das er je erhalten hat. Armer Junge.", sagte er zu seinem Tischnachbarn, Severus Snape. Dieser schwieg in Gedanken versunken.
Niemand sagte etwas, als an diesem Tag Harry, Hermione und Ron nicht zum Unterricht erschienen.
"Ja aber es muss ihnen doch klar sein, dass die Leute uns das Leben zur Hölle machen. Sie müssen es doch wissen, sie sehen es doch", rief Ron wütend. Harry blickte auf, sein Gesicht blank.
"Intellektuell wissen sie es vielleicht. Sie finden es schlimm, grausam, vielleicht tragisch. Aber ihr Herz realisiert es nicht. Du weißt, dass die Kinder in Afrika hungern. Schrecklich, oder? Dasselbe empfinden sie, wenn sie an uns denken."
"Aber..."
"-das ist nicht fair? Nicht richtig? Nicht okay? Sorry, Schätzchen, die ganze Scheisse nennt man Leben.", fauchte Harry.
Hermione blickte Harry und Ron traurig an. "Wir haben uns von Illusionen blenden lassen. Dachten, wir könnten die Welt verändern, indem wir sie ein bisschen schrecken."
"Wir können es ihnen noch beweisen.", flüsterte Harry, "auf sieben magere Jahre folgen sieben fette Jahre. Das ist es doch, was Flint und Malfoy wollen? Dass wir aufgeben. Dass wir zusammenbrechen. Dass wir betteln, und um eine zweite Chance flehen. Wir brauchen keine Hilfe! Wir brauchen keine zweite Chance! Wir haben uns – wir brauchen sie nicht."
"Wie kannst du nur weiterkämpfen?", fragte Hermione.
"Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich das Abbild meiner Eltern. Sie waren stolze Kämpfer, Helden. Man hat mir gesagt, sie würden sich im Grab umdrehen, wenn sie wüssten, was ihr Sohn tut. Man hat mir gesagt, sie waren anders als ich, vollkommen anders, mutig, tapfer, selbstlos. Ich werde beweisen, dass ich nicht nur ihr Antlitz trage. Ist es selbstlos, seine Kindheit für den Krieg zu opfern? Ist es tapfer, sieben Jahre Hölle zu ertragen? Ist es mutig, gegen alle Widerstände den richtigen Weg zu gehen?"
"Du hast recht. Diese verdammte Welt wird schon noch sehen, was aus ihr passiert. Eines Tages, eines Tages werden wir in den Spiegel schauen, und stolz sein. Eines Tages werden wir stolz sein, dass wir aufgestanden sind, stärker als je zuvor.", sprach Hermione mit zitternder Stimme. Und zum zweiten Mal schworen sich die drei Kinder, sie würden die Welt verändern. Sie wussten nicht, wie sehr sie es schon getan hatten.
"Los geht's, lasst uns einen schmerzhaften Tod sterben."
Harry und Ron lächelten müde. Der Spruch war zu einem Leitmotiv für die Drei geworden, wenn sie wieder mal nach unten zum Stein der Weisen schauten. Heute war das Ganze kein Problem. Heute würde niemand wagen, sie zu stören.
Am Abend kam Severus Snape in ihren Raum.
"Alles okay, Potter?", fragte er pflichtbewusst.
"Was soll nicht okay sein, Sir?", gab der Junge bitter zurück.
Severus Snape reagierte nicht darauf. "Der Direktor will dich um acht sehen."
"Ja, Sir."
"Ich werde dich dann abholen, nachdem du den Weg nicht weißt."
"Ja, Sir."
"Die Strafarbeit wird selbstverständlich nachgeholt."
"Ja, Sir."
"Genauso wie der Unterrichtsstoff, den ihr versäumt habt."
"Ja, Sir."
Severus Snape drehte sich um, und verließ den Raum. Im Hinausgehen hörte er den Jungen zu Granger murmeln.
"Warum immer Halloween?" "Shhh, Harry, lass sie nicht gewinnen. Shh."
Halloween. Es war Halloween. Vor zehn Jahren waren sie Voldemort losgeworden. Vor zehn Jahren waren Potters Eltern gestorben. Was war das für ein Gefühl, wenn alle den Todestag deiner Eltern feierten?
"Ah Severus, und Harry."
Der Zaubertränkemeister nickte. "Direktor."
"Du kannst gehen. Harry, magst du einen Tee?"
"Bitte, Sir."
"Nun, wie gefällt es dir in Slytherin?"
"Gut, Sir."
Harry hob den Kopf und lächelte den alten Mann an.
"Was ist heute passiert?"
"Das wissen Sie selbst, Sir. Hedwig wurde umgebracht."
"Wer war es, glaubst du?"
"Ich weiß es nicht, Sir."
Harry blickte dem Direktor in die Augen. Plötzlich hatte er das selbe Gefühl, wie wenn Ron an ihm Legilimentik ausprobierte. Konzentriert dachte er an eine Flamme, so wie es ihm Ron erklärt hatte. Er merkte, dass Dumbledore es schwerer hatte, aber er fühlte auch, dass er nicht mehr lange halten konnte. Er konzentrierte sich auf eine harmlose Erinnerung und ließ seinen Schutzwall fallen.
Hermione, Ron und Harry saßen in der Großen Halle, es war ihr erster Tag. Dumbledore endete seine Festrede. "Nitwick. Bubbler. Tack! "
"Ist er ein bisschen verrückt?", fragte ein Junge namens Blaise Zabini. "Man hat mir eigentlich gesagt, er ist ein Genie."
"Genialität und Wahnsinn gehen oft Hand in Hand.", bemerkte Hermione.
Malfoy starrte sie an. "Ach ja, Granger. Intelligente Aussage, ja? Er ist gut, ja. Aber genau darum ist er nicht irre. Wenn er verrückt wäre, so wäre er nicht der Führer des Lichts", er spie die Worte aus, als wäre es etwas Ekelhaftes.
Harry lächelte. "Wäre peinlich, wenn der Dunkle Lord nicht gegen einen Verrückten gewinnen kann, oder? Nein Malfoy, du wolltest zwar wahrscheinlich nur Hermione widersprechen, aber du liegst falsch. Man muss in gewisser Weise verrückt sein, wenn man genial sein will. Erklär mir, wie jemand in die Luft starren kann, und auf einmal eine wunderschöne Melodie aus dem Nichts komponiert, die noch nie dagewesen war, wenn er nicht verrückt ist? Wie kann einer nicht irre sein, der aus bloßer Vorstellungskraft ein Buch schreibt, dass Millionen von Menschen fesselt? Wer ist nicht verrückt, der hunderte Tage in einem Labor steht, um eine einzige Formel zu finden?"
Die Erinnerung ließ nach, und Harry und Dumbledore blickten sich noch immer nach.
Dumbledores Phoenix begann, leise zu singen.
"Du bist ein seltsamer Junge, Harry. Du weißt, dass du immer zu uns kommen kannst, wenn du ein Problem hast?"
"Ja, Sir."
"Erlaubst du mir eine Frage, nur aus Neugier? Warum hat dich der Hut nach Slytherin geschickt?"
Harry blickte ihn nachdenklich an. "Ihr verbannt einen Teil eurer Gesellschaft, und beschuldigt sie dann, gegangen zu sein."
"Was meinst du damit?"
"Das was ich gesagt habe."
Severus Snape schaute herein. "Albus, der Junge hat noch Strafarbeit."
Harrys Körper straffte sich, er blickte auf.
"Geh schon," nickte der Direktor und beobachtete das ungleiche Paar.
"Er ist seltsam, nicht Fawkes?"
Der Vogel tschirpte nur fröhlich.
"Verbannt und beschuldigt... Ich bin hier der Typ mit den kryptischen Aussagen!"
Harry leistete seine Strafarbeit bei Professor Snape ab. Er musste Zutaten zubereiten, und ohne, dass Snape es realisierte, tat er Harry damit einen großen Gefallen. Schließlich war das nur zusätzliche Übung für ihn in der Klasse. Praktische Übung, denn die Theorie beherrschte Harry perfekt.
Er rannte zurück in seinen Raum, nicht ohne von einem Geist und zwei unsichtbaren Gestalten mit ein paar unguten Flüchen attackiert zu werden. Wenigstens hinterließen die nur ein paar blaue Flecken und taten nicht so weh, wie seine Rippe. Und die Haarfarbe konnte er zwar nicht entfernen, aber leicht durch eine Illusion überdecken und abwarten, was zweifelsohne eine gute Übung war.
"Kein Grund, sich zu beschweren", meinte er zu Hermione und Ron, "wir gehen Hedwig begraben."
"Wo?"
"Verbotener Wald."
"Du weißt, dass der Wald nicht ohne Grund verboten ist.", versuchte Hermione, ihn davon abzubringen.
"Ja. Aber ich gehe auch nicht ohne Grund dorthin."
"An den Rand?", versuchte Hermione noch einmal halbherzig.
"Die Lichtung, wo wir das Einhorn gefunden haben."
"So weit drinnen? Das ist gefährlich!"
"Wir haben die Zentauren und die Einhörner. Und wir können uns wehren. Hedwig ist es mir wert."
Harrys Freunde nickten. Er hatte recht. Ein paar Gefahren würden sie nicht daran hindern, Abschied zu nehmen. Abschied vom ersten Opfer der Revolution. Ihr persönlicher Krieg hatte begonnen.
Sie wussten nicht, wie viele Menschen und Wesen in jener Nacht unsichtbar in jener Lichtung standen, und die Rede Harrys mit anhörten, und sie wussten nicht, dass sie nicht die einzigen waren, denen die Tränen in dieser Nacht über das Gesicht liefen.
"Du schläfst, meine Schöne", flüsterte Harry, "Ich werd an dich denken, ich werde mich an dich erinnern. Nicht daran, dass du ermordet worden bist, um mir Kummer zuzufügen, nicht daran, dass du das erste Geschenk warst, das ich je bekommen hab. Sondern daran, dass du da warst. Dass du mir an den Tagen zugehört hast, und mich nie verlassen wolltest. Dass du in den Nächten an meinem Bett gesessen bist, und mich sanft in den Schlaf geschuhust hast. Dass du mich gemocht hast, und ich dich.
Dein Tod hat Hermione, Ron und mir gezeigt, dass die Welt nicht immer so läuft, wie wir es wollen. Dein Leben hat uns gezeigt, dass sie trotzdem schön ist.
Schlaf gut, Kleines."
Der Harry Potter, der am nächsten Tag den Unterricht betrat, war ein anderer. Sein Gesicht war eine Spur härter, seine Augen einen Hauch älter. Wenn die Dursleys noch etwas von seiner kindlichen Unschuld gelassen hatten, so war es jetzt verschwunden. Nein, diese Tat hatte Harry nicht verzweifelt, so wie erhofft, aber sie hatte ihn nicht kalt gelassen. Severus Snape wollte sich nicht eingestehen, dass er das leicht amüsierte Grinsen des Jungen lieber gesehen hatte, als die Maske, die er jetzt trug. Minerva McGonnagal bemerkte, dass die Verwandlungen Rons nicht mehr die verspielte Note trugen, sondern praktischen und klaren Formen gewichen waren. Filius Flitwick las den Aufsatz von Hermione Granger, und fragte sich, wann der freudige Eifer des Mädchens einer wissenschaftlichen Korrektheit gewichen war.
Draco Malfoy würde nie wieder Opfer von kindlichen Scherzen werden. Severus Snape hatte nie herausgefunden, wer es gewesen war.
Nein, Harry Potter, Ronald Weasley, und Hermione Granger waren keine Kinder mehr. Aber dem nachzutrauern – dafür war später Zeit. Jetzt galt es erst einmal, Quirrell zu Fall zu bringen.
"Was lernst du da, Harry?"
"Die siebenunddreißig Zutaten von Skele-Grow."
"Die Zubereitung?"
"Das kann ich, nein, die Gründe, warum die Zutaten interagieren."
"Harry – meinst du nicht, du nimmst das ein bisschen – zu ernst? Ich meine, das kommt frühestens in der siebten!"
"Aber ich muss-"
"- ausruhen und zu Bett."
"Versteh doch.. Ich muss das können."
"Nein, Harry, das versteh ich nicht. Du bist besessen. Du beherrscht den Stoff besser als viele, die abgeschlossen haben. Du musst das Zeug nicht auch noch verstehen!"
"Mann, Hermione, seit wann hältst du mich vom Lernen ab?"
"Ich mach mir nur Sorgen. Sag ehrlich, wann hast du zuletzt eine Frage Snapes nicht beantworten können? Wann hast du zuletzt gelacht?"
"Hermione... Es ist unfair, mit so was aufzukommen. Und du solltest aufhören, mich zu bemuttern. Eine halbe Stunde noch, ja?"
Hermione seufzte und nickte. Eine halbe Stunde, ja. Wenn sie in drei Stunden nachschauen gehen würde, würde er immer noch daliegen, und über seinen Formeln brüten. Typisch Harry. Wenn doch nur jemand ihre Blicke sehen würde! Wenn doch nur jemand einen Verdacht hätte!
Der Orden des Phönix, der nun zum zweiten Mal seit Voldemorts Besiegung tagte, pinnte eine weitere Notiz an die Wand.
Wie viele Illusionen musstest du verlieren, bis du begannst, aus purer Verzweiflung mit vollem Elan für die Sache zu kämpfen? Wie viele Träume hast du vergessen, wie viele Hoffnungen hast du aufgegeben? Wie viel von dir selbst hast du zurückgelassen? War es das wert?
"Wer auch immer uns diese Briefe schickt", sagte Albus Dumbledore, "hat viel gezweifelt, viel gekämpft, und viel verloren. Er gehört zu den Menschen, die wissen, dass dieser Weg ein schwieriger ist, und er hat sich bewusst dafür entschieden, nicht den leichten zu gehen. Wir sollten diese Fragen ernst nehmen, und über sie nachdenken.
Und nun zum heutigen Thema: Wie alle mitgekriegt haben, empfing Harry Potter gestern beim Frühstück ein Paket. Er öffnete es und... "
Es schien Jahre her, dass er sich einen Besen aus dem Schulbesitz geliehen hatte, und gemeinsam mit Ron über das Feld geflogen war, Jahre, seit sich Hermione an eine Feuerstelle gesetzt hatte, und ein Rätsel gelöst hatte, aber in Wirklichkeit war es nur eine Sache von Tagen. Nur noch selten setzten sich die Drei in eine Ecke und lasen friedlich ein Buch, und selbst wenn, dann war es Literatur über Geschichte, Krieg, dunkle, schwere Literatur. Die meiste Zeit lernten sie. Sie standen auf, lasen ihre Zeitungen, lernten, gingen in den Unterricht, machten Hausaufgaben, gingen in die Bibliothek, lernten, saßen Strafarbeiten ab, und schliefen. Essen, lernen, schlafen.
Diese Drei hatten einmal Flügel gehabt, dachte Rubeus Hagrid, dem auffiel, dass Harry nicht mehr lachte. Die Flügel waren verloren gegangen, im Laufe der letzten Wochen. Er konnte nicht anders, als sich zu wundern, wohin sie verschwunden waren.
