VII.
Nach Sugawara-sans Besuch fiel es Tobio am nächsten Morgen noch schwerer als sonst aufzustehen. Aber Morgen arbeite ich mit Kuroo-san. Ich hab schon zugesagt. Bis das vorbei ist, muss ich mich immer noch zusammenreißen.
Er ertappte sich dabei, dass das Projekt, bei dem er eigentlich gar nicht hatte mitmachen wollen, und dem er nur zugesagt hatte um nicht einsam und verlassen auf der Straße zu enden, jetzt alles war, was ihn noch dazu brachte weiterzumachen. Offenbar war es doch eine gute Entscheidung gewesen Kuroo-san zuzusagen. Verpflichtungen, Termine … wenn er die nicht hätte, nun dann wüsste er nicht, ob er es heute über sich bringen würde sich aus dem Bett zu quälen.
Von Hinata war heute Morgen nichts zu sehen. Kozume-san übernahm wie selbstverständlich dessen Aufgaben bei Tobios morgendlicher Routine, und das obwohl er eigentlich arbeiten musste.
„Es tut mir leid, dass ich dir solche Umstände bereite, Kozume-san", erklärte Tobio schuldbewusst, als sie beim Frühstück saßen, „Mir ist klar, dass das nichts ist, wofür du dich bereit erklärt hast, als du zugestimmt hast uns hier wohnen zu lassen."
Kozume-san zuckte die Schultern. „Shouyou hat mich darum gebeten, also mache ich es", meinte er, als würde ihm die Tatsache, dass er jemand anderem bei seiner Morgentoilette helfen musste, nicht mehr Umstände bereiten als eine Katze zu füttern. Aber vielleicht tat es das auch nicht. Dafür, dass Kozume-san ein sehr zurückgezogen lebender Mensch war, der eigentlich nicht gerne mit anderen Menschen zu tun hatte, war er bisher erstaunlich rücksichtsvoll gewesen, was Tobio und dessen Bedürfnisse anging. Er hatte sogar sein Bad für den anderen Mann umgebaut, und auch wenn Kozume-san eindeutig das Geld dazu hatte, so fühlte sich Tobio doch wegen all den Umständen, die sich der Mann seinetwegen machen musste, mies.
„Ich finde übrigens, dass du aufhören solltest mich immer Kozume-san zu nennen, Kageyama", erklärte Kozume-san dann, „Immerhin sind wir Mitbewohner. Und ich war noch nie ein Fan von all diesen komplizierten japanischen Arten einander anzusprechen."
Tobio, der zur Höflichkeit seinen Älteren gegenüber erzogen worden war, wusste nicht was er mit dieser Aussage anfangen sollte. Also nickte er nur und meinte: „Ich werde versuchen es mir zu merken … Kozume."
Kozume-san musterte ihn einen Moment lang schweigend, und nickte dann als könnte er nichts anderes von Tobio erwarten. Wollte er stattdessen bei seinem Vornamen angesprochen werden oder gar bei seinen seltsamen Online-Namen? Tobio hatte mit Spitznamen immer schon seine Probleme gehabt. Es kostete ihn schon Anstrengungen Menschen, die er gut kannte, beim Vornamen zu nennen. Beides signalisierte für ihn ein Ausmaß an Intimität, das er in Bezug auf die meisten anderen Leute, für unangebracht hielt.
Kozume-san schien einen Moment lang in seinen Gedanken verloren zu sein. Dann verkündete er: „Weißt du, Shouyou meint es wirklich nur gut. Er ist jemand, der seine Zuneigung nun einmal ziemlich direkt ausdrückt, und noch dazu vielleicht nicht immer so wie das Menschen wie uns gefallen mag."
Aber leider war es komplizierter als das. Wenn es so einfach wäre, dann könnte Tobio alles, was in den letzten zwei Wochen geschehen war, einfach wegwischen und vergessen als wäre es nichts. Aber es war eben nicht so einfach. Es steckte mehr dahinter, und es war alles viel komplizierter als das. Und Hinata war nicht einmal hier um sich persönlich zu entschuldigen.
Vermutlich sucht er sich schon eine neue Bleibe. Immerhin hatte Tobio ihm gesagt, dass er gehen sollte, nicht wahr?
Tobio zuckte also nur die Schultern. Er wollte Kozume-san nicht widersprechen, aber er glaubte nicht an seine Worte. Die Wahrheit war, dass Kozume-san einen anderen Hinata Shouyou kannte als Tobio. Seine Sicht auf Shouyou war um einiges vorteilhafter als die von Tobio, denn als Shouyous romantischer Partner hatte er alle Seiten von ihm zu Gesicht bekommen, auch die weniger vorteilhaften. Die hatten Tobio in der Vergangenheit nie wirklich gestört, er hatte sie immer hingenommen und akzeptiert. Selbst ihre letzte Trennung - im Grunde hatte Tobio gewusst, dass es mehr an der Tatsache lag, dass Shouyou ihn nicht so liebte wie er ihn liebte als an Shouyous Egoismus, dass sie nicht zusammen glücklich werden konnten. Und wie sollte er auch von jemandem wie Hinata Shouyou verlangen können jemanden wie Kageyama Tobio zu lieben?
Doch dieses Mal war es anders. Dieses Mal hatte Shouyou ihn mit voller Absicht weh getan. Es gab keine andere Erklärung. Niemand konnte so blind sein, noch nicht einmal Hinata.
„Ich wollte dir noch danken, Kozume-s. … Dafür, dass du mich an Kuroo-san vermittelt hast. Ich weiß, dass ich zu Beginn nicht aufgeschlossen gewirkt habe, aber jetzt stelle ich fest, dass ich mich auf morgen freue. Ich habe eine Aufgabe vor mir. Ich glaube, du hattest recht damit, dass mir das gut tun würde", sagte er stattdessen, „Auch wenn es sich nur um Handball handelt."
Kozume-san musterte ihn nachdenklich. „Hast du eigentlich überhaupt eine Ahnung von Handball, Kageyama?", wollte er dann wissen.
Tobio dachte einen Moment lang über diese Frage nach. Er hatte früher mal vielleicht das eine oder andere Spiel im Fernsehen gesehen, vor einer Volleyballübertragung oder während eines olympischen Zusammenschnitts oder dergleichen. Aber er kannte die Regeln eigentlich nicht wirklich. Im Turnunterricht hatte er es nie gespielt. „Nicht wirklich", gab er dann zu.
Kozume-san nickte, als hätte er das erwartet. „Wir können uns ja gemeinsam ein paar Spiele ansehen, als Vorbereitung für morgen sozusagen", schlug er vor.
Tobio, dem bis jetzt nicht wirklich in den Sinn gekommen war, dass er vorbereitet sein müsste, wurde klar, dass er Kuroo-san vermutlich schuldete nicht vollkommen ahnungslos in den morgigen Tag zu gehen. Also meinte er: „Das wäre vielleicht eine gute Idee."
Also sahen sie sich den Rest des Tages Aufzeichnungen von Handball-Matches an. Nach nur wenigen Minuten des ersten Matches war Tobio schon klar warum Handball der unterlegene Sport und Volleyball der überlegene war, und er sagte das auch, aber trotzdem sahen sie sich den Rest des Matches an, und dann noch ein paar weitere.
Kozume-san schien bald zu begreifen worum es eigentlich ging und gab seine eigenen Kommentare zu den Geschehnissen am Bildschirm ab, die oft hilf- und lehrreicher für Tobio waren als die der Kommentatoren. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er wieder das Gefühl etwas Neues zu lernen, und das empfand er als nicht einmal besonders schrecklich, im Gegenteil, es lenkte ihn von seinen eigenen Sorgen und Gefühlen ab und war deswegen sogar ganz angenehm. Bald waren diese Handball-Matches keine Vorbereitung für den nächsten Tag mehr, sondern eine willkommene Abwechslung von allem, was ihn bedrückte.
„Du hättest nie aufhören sollen Volleyball zu spielen. Deine Gabe Situationen zu analysieren hätte dich weit gebracht", meinte Tobio irgendwann gegen Abend zu Kozume-san nach einer besonders intelligenten Bemerkung von diesem über einen Spielzug.
Kozume-san zuckte die Schultern. „Ich hatte einfach nicht die Konstitution für den Profi-Sport. Und im Grunde habe ich mir nicht besonders viel aus Volleyball gemacht. Ich habe gespielt um mit Kuro zusammen sein zu können und meinen anderen Freunden. Und später dann wollte ich Shouyou und dich besiegen - ich wollte ein Problem lösen, nicht den Sport meistern", meinte er.
Tobio, der das gar nicht verstehen konnte, schüttelte den Kopf. „Wolltest du denn nicht … hattest du nie das Gefühl, dass du mit anderen niemals mehr verbunden bist als wenn du ihnen Bälle zuspielst? Dass du sie nur dann wirklich verstehst?", wollte er wissen.
„Doch schon, aber das habe ich auch, wenn ich mit ihnen zocke, in Videospielen, weißt du? Oder wenn ich meine Podcasts und Youtube-Videos für sie mache. Volleyball war für mich immer nur ein Mittel, nie der Zweck. Ich war nie wie du oder Shouyou oder Bokuto", meinte Kozume-san.
„Für mich war Volleyball immer alles", erwiderte Tobio nur, „Es war Mittel und Zweck, es war … Ich hab mich nie richtig gefühlt, außer wenn ich am Platz gestanden bin. Deswegen wollte ich nie etwas anderes sein als ein Profi-Spieler." Er verstummte, bevor er zu viel sagte. Aber er musste es nicht sagen, Kozume-san hatte es trotzdem gehört, den nächsten Teil des Satzes, den er nicht ausgesprochen hatte.
„Nur weil du nie mehr Teil der Liga sein kannst, heißt das nicht, dass du nie wieder glücklich sein kannst, Kageyama", behauptete Kozume, „Eines Tages wirst du wieder am Platz stehen können. Ja, deine Karriere als Profi ist vorbei, aber es gibt andere Möglichkeiten. Und sei es nur als Trainer oder Berater. Und da ist immer noch ParaVolley…."
Tobio starrte ihn an, und schüttelte dann den Kopf. Sein Hals zog sich schmerzhaft zusammen und schien sich zu verkrampfen. Nein, darüber wollte er nicht reden, nicht darüber nachdenken, nichts davon.
„Danke für die Vorbereitung auf morgen", meinte er, „Aber ich sollte jetzt schlafen gehen, damit ich morgen bereit bin. Hilfst du mir bitte noch einmal?"
Kozume nickte gefügig und sprach das Thema nicht mehr an, sondern half ihm bei seiner Abendtoilette.
Erst als Tobio im Bett lag, fiel ihm auf, dass Shouyou bis jetzt nicht wieder zurück nach Hause gekommen war. Aber da er morgen einen großen Tag vor sich hatte, konnte er es sich nicht leisten jetzt darüber nachzudenken, also machte er die Augen zu und versuchte einzuschlafen, was ihm aber erst nach etlichen Stunden gelang.
Am nächsten Morgen wurde er wieder von Kozume-san geweckt und betreut.
„Shouyou war hier, aber er ist schon zum Sender gefahren", erklärte ihm dieser, bevor er damit begann ihm zu erklären wie der heutige Tag ablaufen sollte. Tobio versuchte sich darauf zu konzentrieren und nicht auf Shouyous Abwesenheit.
Es war gar nicht so einfach, aber er riss sich zusammen. Er sollte von Kozume Studio aus zu Kuroo-san zugeschaltet werden, der ihn interviewen würde. Es gab kein festgelegtes Skript, und es würde kein Live-Interview sein. Kuroo-san würde nachher alles zusammenschneiden. Aber Tobio hatte sich bereit erklärt mit ein paar Handballern zu reden, über Meisterschaften und Olympiaden und Sport im Allgemeinen.
Tobio war doch ein wenig nervös. Er hatte noch nie gerne mit der Presse geredet (er war darin nicht sehr gut), und sein Werbespott war die Lachnummer der Volleyball-Community, das wusste er. Sogar Ushijima, der selbst einen nicht weniger peinlich schlecht gespielten Werbespott gemacht hatte, hatte ihn immer wieder mal mit seiner darstellerischen Leistung aufgezogen. Vor Fremden zu sprechen, mit Fremden zu sprechen, das war noch nie Tobios Stärke gewesen. Das einzige Thema über das er je gerne mit anderen geredet hatte war Volleyball gewesen, und nun tat es ihm weh über Volleyball zu sprechen. Deswegen nahm er sich vor auch vor allem über Handball zu reden.
Kozume erklärte ihm welche Knöpfe er drücken musste und versprach ihm die ganze Zeit über im Studio zu bleiben um ihm im Notfall auszuhelfen. Er schien vorzuhaben Tobio den Rücken zu stärken, wofür ihm dieser sehr dankbar war. Er wurde jeden Moment nervöser und war sich nicht sicher, ob er im entscheidenden Moment überhaupt in der Lage wäre irgendetwas ins Mikrophon zu sagen.
Wenn Shouyou jetzt wenigstens hier bei mir wäre. Wir wollten das doch gemeinsam machen. Aber Shouyou war niemand mehr auf den er sich verlassen konnte.
Und dann war es soweit - er wurde zugeschaltet. „Alles klar bei euch da drüben? Hört ihr mich? Hier ist Kuroo!", erschall Kuroo-sans Stimme im Studio.
„Ja, wir empfangen dich, Kuro", erwiderte Kozume, „Kageyama ist hier bei mir und ist schon sehr aufgeregt."
Tobio räusperte sich und meinte vorsichtig: „Hallo."
„Hallo, Kageyama Tobio!", erwiderte Kuroo fröhlich, „Ihr alle kennt natürlich Kageyama Tobio, einen von Japans berühmtesten Volleyballern! Kageyama und ich kennen uns schon ewig, tatsächlich haben wir in der Oberschule gegeneinander Volleyball gespielt! Es freut mich, dass du dich bereit erklärst hast dich heute zuzuschalten, Kageyama."
„Ich … freue mich hier zu sein, Kuroo-san", erwiderte Tobio vorsichtig.
„Und wir freuen uns dich hier zu haben. Auf Kageyamas Wunsch hin, gibt es kein Bild in seiner Live-Zuschaltung, aber es tut gut seine Stimme zu hören, nicht wahr? Ich weiß, dass viele von euch sich Sorgen um ihn gemacht haben, aber wie ihr hört, geht es ihm gut genug um uns seine Gedanken zur bevorstehenden Handball-Weltmeisterschaft mitzuteilen!", erklärte Kuroo-san, „Bist du ein Fan von Handball, Kageyama?"
Tobio wusste einen Moment lang nicht was er dazu sagen sollte. „Ich …. Ich habe mir einige Spule- ich meine - Spiele angesehen", erklärte er dann.
„Es gibt keinen Grund nervös zu sein, Kageyama-kun", meinte Kuroo jetzt, „Wenn was nicht passt, dann schneiden wir es raus. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst, bevor du antwortest. Auch die Pausen können wir rausschneiden – atme tief durch und denk daran, dass du nichts falsch machen kannst. Wir plaudern nur ein bisschen miteinander, ja? Einfach zwei alte Freunde, die über Sport reden."
Tobio nickte, obwohl die Webcam ja abgeschaltet war. „Ich habe mir einige Spiele angesehen", wiederholte er dann ruhiger, „Und dabei habe ich einiges gelernt und bemerkt."
„Wirklich? Was denn zum Beispiel? Teil uns deine Gedanken mit!"; forderte Kuroo ihn auf, bevor er noch hinzufügte, „Denk daran, dass das nicht live ist, ich bin's nur. Erzähl mir was über Handball."
Tobio rief sich die Matches, die er gestern gesehen hatte, zurück ins Gedächtnis und begann mit ein paar allgemeinen Bemerkungen über japanische Spieler, die ihm aufgefallen waren, und ging dann zu den allgemeinen Regeln über und zu dem Unterschied zu Volleyball. Und auf einmal merkte er, dass es ihm ganz leicht fiel über Handball zu reden.
Kuroo-san lenkte das Gespräch manchmal geschickt um, wenn er zu ermatten drohte oder in eine Richtung lief, die zu nichts führen würde, aber Tobio bestritt den Hauptteil der Unterhaltung und hatte damit erstaunlicherweise kein Problem.
„Ja, und ich denke schon, dass Japan zu beschäftigt mit Basketball ist und daher Handball zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Wir haben ein wirklich gutes Nationalteam zusammengestellt, das es geschafft hat sich für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren, und daher genauso viel Aufmerksamkeit verdient hat wie andere Sportarten", schloss Tobio.
„Darin sind wir uns einig. Danke, dass du deine Einsichten mit uns geteilt hast, Kageyama", erwiderte Kuroo in seiner Sprecherstimme, bevor er weicher hinzufügte: „Das war wunderbar, Kageyama-kun. Ich dachte, du hast gesagt, dass du keine Ahnung von Handball hast? Aber was habe ich erwartet? Kageyama Tobio macht nichts halbherzig, nicht wahr? Das war alles sehr brauchbar. Danke. … Okay, jetzt kommt der schwierige Teil, wir haben hier ein paar Handballer, die gerne mit dir sprechen wollen. Sie werden höflich sein, keine Sorge. Wenn du irgendeine Frage nicht beantworten willst, dann sag das einfach, okay? Und halte deine Antworten wenn möglich kurz und aussagekräftigt."
Tobio spürte wie er wieder nervös wurde. Mit Kuroo-san zu sprechen war leicht gewesen, aber nun wollten Fremde mit ihm reden, und sie würden ihm Fragen stellen. Fragen über Volleyball vermutlich. Würde er das aushalten können?
Aber das sind selbst Sportler. Die werden nicht so unsensibel sein, dass sie mich nach meiner Verletzung fragen, oder? Das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Und doch fürchtete er die Möglichkeit.
Trotzdem beschloss er Kuroo-san zu vertrauen. Immerhin blieb ihm in Wahrheit auch keine andere Wahl. Nicht wirklich zumindest.
Der erste Handballer meldete sich zu Wort. Sein dahingehaspelter Name sagte Tobio gar nichts, stattdessen versuchte er sich auf die Frage, die der Mann ihm stellte, zu konzentrieren. Er fragte ihn danach wie man seine Nerven bei einem internationalen Bewerb behielt. Im ersten Moment erschien Tobio diese Frage einfach nur töricht. Er hatte jedem Spiel, an dem er teilgenommen hatte, die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt, hatte jedes immer gewinnen wollen, egal ob es ein Zwei-gegen-Zwei Trainingsspiel gewesen war oder die Olympiade. Mehr Zuseher hatten ihn nie nervös gemacht, nicht wirklich, ihn hatten immer nur unbekannte Rahmenbedingungen wie größere Hallen mit einer weiter oben angesetzten Decke durcheinander gebracht, nicht etwa die Frage wer im Publikum saß. Seiner Meinung nach sollte jeder diese Einstellung vertreten, und jeder immer jedes Macht gleich ernst nehmen, ansonsten hätte so eine Person im Profi-Sport nichts zu suchen!
Doch dann fiel ihm ein wie Shouyou sich immer vor jedem großen Match vor lauter Aufregung übergeben hatte. Nicht jeder war so unbeeindruckt von äußeren Umständen wie er, das wusste er.
„Ich war kaum aus der Schule heraus, als ich mit den Nationalteam bei meinem ersten internationalen Match angetreten bin", sagte er auch, „Der Erwartungsdruck war groß, und ich wollte niemanden enttäuschen. Ich wollte beweisen, dass ich es verdient habe am Platz zu stehen. Um im Grunde war es das, was mir geholfen hat, gut zu spielen - das Wissen, dass ich nicht für das Publikum gespielt habe, sondern für alle anderen, die mich so weit gebracht haben. Es kommt nicht darauf an wie viele Leute einem beim Spielen zusehen, es kommt nur auf die Menschen an, die mit einem am Platz stehen. Die, die zur eigenen Mannschaft gehören, so wie die, gegen die man antritt." Das war eine ganz gute Antwort geworden, fand er.
Der Spieler bedankte sich und der nächste – dieser Name sagte Tobio sogar etwas – wollte von ihm wissen wie man auf internationalem Niveau mithielt. „Immer sein Bestes geben, sich immer weiter verbessern, egal was passiert", erwiderte Tobio sofort, „Niemals nachlassen, seinen Erfolg niemals für selbstverständlich hinnehmen. Es ist ein Privileg, wenn man mit den besten Spielern der Welt zusammen spielen darf. Auch von seinen Gegner lernt man viel, manchmal sogar mehr als von seinen Teamkameraden. Niveau entsteht nicht über Nacht, und man darf sich darauf auch nicht ausruhen. Man muss immer weiter kämpfen um es zu halten."
Hatte das zu hart geklungen? Tobio hatte nur gesagt wie er es immer gehalten hatte. Er hatte nur gesagt wie er es bis an die Spitze geschafft hatte. … Und warum er nun nie wieder zurück an die Spitze gelangen würde…
Der nächste Spieler fragte ihn nach Fan-Aufmerksamkeit, wie man damit umging berühmt zu sein. Da war Tobio der falsche Ansprechpartner. „Da bin ich der falsche Ansprechpartner", gab er zu, „Ich bin noch nie gut darin gewesen mit den Medien oder den Fans umzugehen. Ich habe meine Social Media immer vernachlässigt, und in Interviews das Falsche gesagt. Und Fans ständig enttäuscht. Alle haben mir immer gesagt, dass ich gefälligst netter zu meinen Fan-Girls sein soll." Das schien seinen Gesprächspartner zum Lachen zu bringen, Tobio wusste allerdings nicht warum.
„Aber Sie sind trotzdem irgendwie damit klar gekommen", meinte der Handballer.
„Na ja, ich habe einfach weitergemacht wie immer", erklärte Tobio, „Also ja, ich schätze, ich bin irgendwie damit klar gekommen. Nur weil man bekannt und berühmt ist, ändert das ja nichts an dem wer man ist oder was man zu tun hat."
Das ändert sich erst, wenn man das, was man bisher getan hat, nicht mehr tun kann.
Kuroo-san mischte sich an dieser Stelle in das Gespräch ein und erklärte die Interviews für beendet. „Vielen Dank noch einmal für deine Mitarbeit, Kageyama", meinte er, „Das waren alle Fragen, die unsere Handballer dem Star zu stellen hatten. Bisher war das alles nur Theorie für sie, aber nun müssen sie sich daran gewöhnen selbst im Mittelpunkt zu stehen. Wir sind alle gespannt wie sich sie schlagen werden und halten ihnen die Daumen. Was denkst du, Kageyama?"
„Ich … Ich werde ihren Weg zur Spitze auf jeden Fall gespannt mitverfolgen", meinte Tobio, weil ihm das ein passendes Schlusswort zu sein schien.
Damit war seine Arbeit des heutigen Tages offiziell beendete. Kozume zeigte ihm einen Daumen hoch, und Kuroo-san meinte nun wieder in seiner normalen Stimme: „Das war sehr gut. Danke fürs Mitmachen, Kageyama-kun. Das Handball-Team ist dir sehr dankbar, das soll ich dir ausrichten. Sie sind alle große Fans von dir." Noch mehr Leute, die er enttäuscht hatte, also.
„War kein Problem", behauptete Tobio.
„Wenn du in Zukunft vielleicht bereit wärst noch mehr mit mir zu arbeiten, dann wäre das sicherlich für uns alle eine gute Sache", meinte Kuroo-san.
„Ich – Ich muss darüber nachdenken", erwiderte Tobio, „Ich weiß nicht, ob … ich weiß nicht, ob das hier so gut für mich war…" Er fühlte die altbekannte Verzweiflung in sich aufsteigen und wollte ihr nicht nachgeben, doch er wusste auch nicht wie er sie bekämpfen sollte.
„Kageyama-kun", setzte Kuroo-san an.
„Nein, ich … ihr versteht das nicht. Ihr habt freiwillig aufgehört, ich hattet nie …. Ihr hattet immer ein Leben, andere Ziele, einander", erklärte Tobio leise, „Diese Handballer, die habe ihre ganze Karriere, ihr ganzes Leben noch vor sich, aber ich …" Er verstummte.
Sein Leben war vorbei. Er konnte anderen nur noch dabei zusehen wie sie aufstiegen und Erfolge einheimsten, er konnte ihnen dafür gerade einmal noch sinnlose Ratschläge geben, die aus einem Leben stammten, das er nie wieder führen konnte. Und das Einzige, das er abgesehen von Volleyball noch gehabt hatte – Shouyou – das hatte er nun ebenfalls verloren. Das hatte er verloren, weil er zu sehr er selbst war, und nicht dazu in der Lage war mit Schicksalsschlägen umzugehen.
Und das - nun, das machte ihn erst so wirklich klar wie erbärmlich er in Wahrheit eigentlich war.
A/N: Irgendwie entwickelt sich diese Fic langsam aber sicher mehr zu einer Kenma/Kageyama-Freundschafts-Geschichte als einer Kagehina-Romanze. Aber keine Sorge, es muss erst schlechter werden, bevor es besser werden kann.
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