XI.


Tobio war normalerweise niemand, dem es besonders leicht viel sich anderen zu öffnen. Er nahm an, dass die Tatsache, dass er nur wenige Vertraute besaß, mit Schuld daran hatte. Mit dem Tod seines Großvaters war ihm die wichtigste Person in seinem Leben verloren gegangen, und nachdem ihm Miwa im Laufe der Zeit immer mehr entglitten war und nach all seinen Erlebnissen in der Oberschule, war es ihm zunehmend schwer gefallen Vertrauen zu anderen Personen zu fassen, und jedes Mal, wenn er doch jemanden gefunden hatte, dem er sich anvertrauen konnte, dann wollte er diese Personen um keinen Preis enttäuschen, was erst recht wieder dazu führte, dass er seine Gefühle und Sorgen für sich behielt anstatt sie auszusprechen.

Und da seine Miene ja angeblich irgendwie immer unheimlich aussah, egal wie er dreinblickte, war er auch nicht gerade jemand, dem man seine Gefühle vom Gesicht ablesen konnte. Also hatte er sich gezwungenermaßen daran gewöhnt sich niemanden anzuvertrauen.

Aber Oikawa Tooru hatte schon immer die Gabe besessen Tobio aus seinem Schneckenhaus hervorzuholen, auf die eine oder andere Weise, und obwohl er das eigentlich gar nicht vorgehabt hatte, ertappte Tobio sich dabei wie er sich dem anderen Mann anvertraute und über seine Gefühle und seine Ängste sprach, und darüber was er alles verloren hatte und wie schwer ihm alles fiel.

Offenbar hatte Oikawa ihm nur versichern müssen, dass es für ihn die Möglichkeit gab weiterzumachen, um ihn dazu zu bringen das endlich auch zu zumindest irgendwie zu glauben. Ja, die Ärzte hatten ihm das auch immer wieder gesagt, und Hinata hatte es ihm natürlich ebenfalls gesagt, aber Tobio hatte ihnen allen bisher im Grunde seines Herzen nicht geglaubt. Oikawa Tooru aber glaubte er, vielleicht deswegen, weil Oikawa ihn nie angelogen hatte, vielleicht deswegen, weil er wusste, dass - trotz oder gerade wegen allem, was zwischen ihnen vorgefallen war - Oikawa ihn niemals anlügen würde.

Und sobald er einmal damit begonnen hatte seine Zurückhaltung abzulegen und alles auszusprechen, was ihn auf der Seele lag, sobald er sich nicht mehr selbst aufhielt, sobald das Thema unangenehm wurde, stellte er fest, dass es ihm sehr leicht fiel sich zu öffnen, dass es ihm sehr leicht fiel über alles zu sprechen.

Natürlich gab es Momente, in denen er das Gefühl hatte zu weit gegangen zu sein oder etwas Falsches gesagt zu haben, Momente, in denen er fliehen oder schweigen wollte, doch Oikawa schien zu spüren wann immer es soweit war, da er einfach nicht zuließ, dass Tobio eines der beiden Dinge tat – er stellte sich entweder demonstrativ vor den Rollstuhl und blockierte dessen Räder, oder er gab provokante Dinge ala „Komm schon, Tobio-chan, fang jetzt nicht damit an schüchtern zu sein!" von sich. Und dann fühlte sich Tobio genötigt zu reagieren, indem er Oikawa beschimpfte, der sich davon aber nicht beeindrucken ließ.

Erstaunlicherweise lief es ganz gut. Tobio stellte fest, dass es ihm gut tat Dinge auszusprechen, die er bisher nie gewagt hatte zu sagen, und Oikawa fiel auch nicht auf Bullshit herein, wenn er ihn hörte. „Oh, komm schon, das denkst du doch nicht wirklich", pflegte er dann zu sagen. Oder „Ja, aber darum geht es dir doch gar nicht". Oder er schnaubte einfach nur abfällig, was Tobio erst recht wieder provozierte. Und er musste feststellen, dass er oft einfach selbst nicht wusste was er eigentlich wirklich meinte oder fürchtete oder empfand bis er sich dazu vorgearbeitet hatte. Oft war es nicht Stolz, der ihn motivierte etwas nicht tun zu wollen, oft war es Angst oder Schmerz - das musste er sich nur selbst erst einmal eingestehen.

Und dann wurden sie von Shouyou unterbrochen, und Tobio, der nie gewollt hatte, dass ausgerechnet Shouyou ihn an seinem Tiefpunkt sah, war von dessen Anwesenheit mehr als nur ein wenig überfordert, und war zu emotional ausgelaugt und verwirrt um mit dieser besonders geschickt umzugehen. Entsprechend entwickelte sich alles wieder einmal zu einer mittleren Katastrophe, und dann war Shouyou auch schon wieder weg und hatte einen Grund mehr um Tobio zu verlassen. Als ob er einen gebraucht hätte!

„Ich denke trotzdem, dass ihr beide offen miteinander reden solltet", meinte Oikawa, nachdem Shouyou seinen Abgang gemacht hatte, „Ihr müsst alles auspacken, wenn ihr weitermachen wollt."

„Es gibt kein Weitermachen", korrigierte ihn Tobio, „Er hat sich bereits dazu entschlossen mich zu verlassen. Und seine politisch-korrekte Du bist es nicht, ich bin es – Erklärung dafür will ich mir gar nicht erst anhören. Er wünscht sich einen anderen Mann, einen ganzen Mann, oder zumindest einen, der stärker ist als ich, der besser mit seinen eigenen Schmerz umgehen kann und eine weniger große Last für ihn darstellt. Ich habe ihm gesagt, dass er gehen soll, und damit die Ausrede geliefert, nach der er gesucht hat. Er hat sich das alles viel einfacher und weniger zeitraubend vorgestellt. Und er denkt, er weiß besser als ich, was ich brauche, und kann nicht akzeptieren, dass ich das nicht akzeptieren kann. Dass ich sein Tempo nicht einhalten kann." Er schüttelte traurig den Kopf. „Dieser Zug ist abgefahren. Vielleicht waren wir mal für einander bestimmt, aber jetzt … jetzt schwingen wir einfach nicht mehr auf derselben Frequenz."

„Glaubst du das oder befürchtest du es nur?", wollte Oikawa wissen, „Shouyou hat mich hergeholt, oder nicht? Ich will mich ja nicht selbst loben – dieses eine Mal nicht – aber war das nicht etwas, was du gebraucht hast? Deutet das nicht darauf hin, dass ihr auf derselben Frequenz schwingt?"

Tobio zuckte die Schultern. „Vielleicht ist Liebe nicht alles, oder vielleicht hat er in Wahrheit nur Mitleid mit mir, oder will nur, dass es mir besser geht, damit er mich ohne schlechtes Gewissen loswerden kann", erwiderte er, „Warum sollte er mich auch noch wollen? Ich kann ihm rein gar nichts mehr bieten."

„Liebe ist selten logisch. Das Herz will wen es will, und nicht denjenigen, der mehr zu bieten hat", widersprach Oikawa, „Warum sonst sollte Iwa-chan mich wollen?" Das war ein Rätsel auf das Tobio noch nie eine Antwort gehabt hatte, aber auch keines, dem er jetzt auf den Grund gehen wollte.

„Ich bin nicht sicher, ob er mich jemals wollte. Vielleicht wollte er immer nur ein Bild von mir, dass er sich seinen Kopf gemacht hat. Oder das, was ich repräsentiert habe. Ich war noch nie gut genug für ihn. Und jetzt … jetzt bin ich das noch weniger als jemals zuvor. Und früher, da hat mir das nicht so viel ausgemacht, denn ich wusste, dass ich immer Volleyball haben werde, aber jetzt …" Tobio schüttelte den Kopf. „Ich wollte immer nur ihn, aber er … bei ihm war das anders. Warum sollte er mich nehmen, wenn er Miya Atsumu haben kann?"

Oikawa gab ein abfälliges Geräusch von sich. „Miya Atsumu, dieser Poser", murmelte er, „Der ist wirklich keine Konkurrenz für dich. Und Shouyou hat dich geheiratet und nicht ihn, oder nicht? Hör mal, eines weiß ich mit Sicherheit: Chibi-chan war immer schon vernarrt in dich, und daran wird sich nie was ändern. Selbst damals, als er in Brasilien war, hat er immer nur an dich gedacht."

Tobio fand das schwer zu glauben, und sein Blick musste das auch ausdrücken. „Gerade weil ich so vielseitig talentiert bin, war das ja ein Kompliment für dich", behauptete Oikawa, „Nein, hör, mal, wir haben nie darüber geredet, und jetzt, wo ihr verheiratet seid, ist das vermutlich vollkommen unangebracht, aber uns beide hat nie geschert war angebracht ist und was nicht. Also, ja, es war ein kleiner Urlaubsflirt, wenn du so willst, aber für keinen von uns war es was Ernstes. Shouyou hat sich einsam gefühlt und dich vermisst, und ich habe Iwa-chan vermisst und vergessen, dass Volleyball Spaß machen soll. Der Sex war umwerfend, aber wir hatten ganz gewiss nicht vor mehr aus der Sache zu machen als ein einmaliges Abenteuer. Und seit damals ist nichts mehr gelaufen, okay? Wir sind Freunde, und neben Volleyball warst du immer schon unser Hauptgesprächsthema. Bilde dir von mir aus was darauf ein, wenn du willst."

„Aber das war ein Mann, den es jetzt nicht mehr gibt", erwiderte Tobio nur, „Ich bin nicht mehr dieser Mann. Und nein, es ist kein Selbstmitleid, und es geht nicht darum, dass ich nicht mehr am Platz stehen kann. Ich bin auch innerlich verkrüppelt. Und das wird jeden Tag offensichtlicher. Außerdem…." Er verstummte.

„Außerdem was?", wollte Oikawa wissen.

„Du hast es selbst gesagt … Shouyou mag Sex", murmelte Tobio und spürte wie er errötete.

Das ließ Oikawa einige Momente lang verstummen. Dann erklärte er: „Falls das der einzige Grund sein sollte, weswegen du nicht mehr gut genug für ihn sein solltest, bring ich ihn persönlich um, Tobio, denn dann ist Shouyou derjenige, der nicht der Mann ist, für den wir beide ihn immer gehalten haben."

Tobio senkte peinlich berührt den Blick.

„Ich werde ihn immer lieben, aber er … sollte mehr haben können als mich. Er verdient mehr. Aber er ist auch alles, was mir geblieben ist", sagte er leise.

Er musste nicht aufsehen um zu wissen, dass Oikawa ihn strafend ansah. Trotzdem zwang er sich den Blick zu heben. „Nein, so meine ich das nicht. Ich meine, dass ich nie jemand anderen oder etwas anderes so lieben kann wie ich ihn geliebt habe. Ich weiß, dass ich Freunde habe, ich weiß, dass ich Möglichkeiten habe, das weiß ich. Aber er ist … er hat mich gekannt und begriffen und hat zu mir gehört, und er hat mich nie im Stich gelassen und er ist immer zurückgekommen. Alle anderen sind gegangen, aber er ist der Einzige, der immer zurückgekommen ist. Aber wenn er dieses Mal geht, dann geht er für immer", erklärte er bemüht (Worte waren manchmal so schwer und unzulänglich), „Und das wäre schlimmer als nie mehr Volleyball spielen zu können."


Als Shouyou endlich zurückkehrte, war Oikawa schon seit einiger Zeit weg. Genauer gesagt war er losgegangen um Shouyou zu suchen, nachdem dieser von selbst nicht wieder zurückgekehrt war, also war anzunehmen, dass er ihn gefunden und nach Hause geschickt hatte. Wenn das hier überhaupt Shouyous Zuhause war, woran Tobio immer noch seine Zweifel hatte.

Bevor Oikawa gegangen war, hatte er Kozume damit beauftragt sich um Tobio zu kümmern wie es schien, da der eigentliche Besitzer der Wohnung verdächtig gut getimed aufgetaucht war, kaum, dass Oikawa gegangen war, und Tobio seit dem Gesellschaft leistete.

Er hatte Tobio in sein Studio geschleppt und zeigte ihm dort den Handball-Beitrag, an dem er und Shouyou mitgearbeitet hatten. Tobio empfand es als unangenehm seine eigene Stimme zu hören, aber nichts von sich zu sehen. Was mussten die Leute, die diesen Beitrag sahen, über ihn denken? Aber wäre es nicht viel schlimmer, wenn ihn die Öffentlichkeit in seinem derzeitigen Zustand gesehen hätte?

Er wusste es nicht, er wusste aber, dass es Spekulationen geben würde. Shouyou seinerseits wirkte in seinen Interviews seltsam abgelenkt und nicht so als wäre er mit dem Herzen bei der Sache.

Werden mir bald nur noch Aufnahmen wie diese von ihm geblieben sein? Könnte er es überhaupt aushalten sich alte Aufnahmen von Shouyou am Volleyball-Feld anzusehen, ohne dass ihm das zu sehr verletzen würde? Aber wenn er das nicht täte, was bliebe ihm dann? Diese Clips hier und Interviews, in denen er über Volleyball sprach?

Tobio wusste nicht, ob er überhaupt Fotos von Shouyou besaß. Ihm waren solche Memorabilien nie wichtig erschienen, aber nun bereute er wie er sich immer darauf verlassen hatte, dass Shouyou immer Teil seines Lebens sein würde, und wie wenig Wert er darauf gelegt hatte Dinge, die nichts mit Volleyball zu tun hatten, aufzubewahren. Es gab nicht einmal ein Hochzeitsfoto. Aber vielleicht war das alles in allem genommen doch ganz gut so. Wieso sich an Etwas erinnern, das er verloren hatte?

Kozume schlug ihm vor sich mit ihm ein Handball-Spiel anzusehen, und obwohl Tobio den Vorschlag als die Beschäftigungstherapie, die er darstellte, erkannte, stimmte er trotzdem zu. Shouyou tauchte auf, bevor das Match aus war. Er huschte stumm ins Studio, baute sich hinter Kozume auf, und hätte vermutlich gar nicht auf sich aufmerksam gemacht, wenn ihm eine andere Wahl geblieben wäre.

„Wir sollten miteinander reden", meinte er leise, als Tobio sich zu ihm umdrehte.

Nun war er also gekommen, der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte – der Moment, in dem Shouyou ihm mitteilen würde, dass er ihn verließ.

Tobio fühlte sich von seinen langen Gespräch mit Oikawa immer noch emotional ausgelaugt, und er hatte nach wie vor keine Lust sich anzuhören warum er nicht gut genug für den anderen Mann war, aber er nahm an, dass Oikawa recht hatte: Kommunikation war wichtig, und ewig konnte er den Moment der Wahrheit nicht hinauszögern, egal wie sehr er das auch versuchte.

Vielleicht war es besser dieses Gespräch endlich hinter sich zu bringen, danach könnte er zumindest damit beginnen seine Möglichkeiten, wie Oikawa sie nannte, durchzugehen. Man konnte seine Zukunft erst dann planen, wenn man wusste wie sie wirklich aussah.

Also nickte er, und rollte hinaus in den Wohnbereich. Shouyou folgte ihm.

Kozume schien sich in seinem Studio den Rest vom Match anzusehen, oder vielleicht tat er nur so um ihnen ihre Privatsphäre zu ermöglichen. Tobio und Shouyou starrte sich einen Moment lang schweigend an.

Tobio beschloss es dem Anderen leicht zu machen. Das war das Mindeste, was er ihm schuldete, immerhin war Shouyou seinetwegen zurück nach Japan gekommen. Ihn freizugeben war nun Tobios Aufgabe.

„Weißt du, wann ich zum ersten Mal gedacht habe, dass du ein Wunder bist? Damals, als wir uns kennengelernt haben, in der Mittelschule bei unserem ersten Match. Dir wurde ein Ball zugespielt, und du bist hochgesprungen um ihn zu schlagen. Und ich weiß nicht mehr, ob du den Ball getroffen hast oder es ein besonders guter Schlag war, aber ich weiß noch, dass ich in diesem Moment regelrecht erschrocken bin, und dass ich nur einen Gedanken hatte", begann Tobio, „Ich dachte: Er fliegt! Damals habe ich dich zum ersten Mal fliegen gesehen, und mir wurde klar, dass ich nie zuvor etwas Derartiges gesehen hatte, am Feld, abseits vom Feld, nie in meinem Leben. Du bist geflogen, Shouyou, und du hast dabei so glücklich ausgesehen. Und so natürlich. Als hättest du in deinem Leben nie etwas anderes getan. Und du warst wunderschön."

Die Erinnerung stand ihm nun vor Augen, und er konnte sie ganz deutlich sehen. Und plötzlich wusste er, dass er keine Fotos oder Aufnahmen brauchte, er wusste, dass er seine Erinnerungen hatte, und dass er diese immer haben würde, und sie ihn vielleicht verletzen mochten, aber sie ihn auch immer glücklich machen würden. Und er Shouyou niemals vollkommen verlieren würde, solange er diese Erinnerungen hatte.

Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit lächelte er, während er sich an die Vergangenheit erinnerte.

„Und ich wollte immer derjenige sein, der dir ermöglicht zu fliegen, und niemals derjenige, der dir die Flügel stutzt", fuhr er dann fort, „Du wurdest dafür geschaffen zu fliegen, und ich würde nie von dir verlangen, dass du aufgibst, was dir bestimmt ist. Meine Flügel wurden mir genommen, aber das muss dich nicht aufhalten. Ich weiß, dass wir zusammen so lange wie möglich am Platz stehen wollten, dass wir es gemeinsam bis an die Spitze schaffen wollten, aber jetzt musst du eben alleine weitermachen. Und ich verstehe, dass du dabei keine Rücksicht auf mich nehmen kannst."

Er spürte den Kloß in seinen Hals, und unterdrückte die aufsteigenden Tränen. „Du musst keine Rücksicht auf mich nehmen. Du sollst nicht tun, was für mich richtig ist, du sollst tun, was für dich richtig ist", meinte er, „Ich weiß nicht, ob ich zurecht kommen werde, aber ich verspreche dir, dass ich mein Bestes versuchen werde. Und Kozume hat mir gesagt, dass ich weiterhin hier wohnen kann, und Kuroo-san und er wollen sich um mich kümmern, und ich glaube Oikawa fühlt sich ebenfalls dazu berufen auch mich aufzupassen. Also wäre ich nicht mehr alleine. Du kannst also … du kannst also gehen. … Wenn es das ist, was du willst."

Er schniefte. „Ich wollte immer nur, dass du glücklich bist. Ich hatte nur gehofft, dass du das mit mir an deiner Seite sein kannst. Aber jetzt … ich verstehe warum das jetzt nicht mehr möglich ist", schloss er, und blinzelte die Tränen davon.

Da, du hast es gesagt. Du hast alles ausgesprochen. Das war gut so. Es war richtig so, sagte er sich selbst, Und du hast es beinahe geschafft ohne zu viel deiner Würde dabei zu verlieren.

Er schniefte noch einmal.

Und dann merkte er, dass Shouyou auf einmal neben seinem Rollstuhl kniete und seine Hand auf sein Knie gelegt hatte. „Tobio…" Shouyous Gesicht war ganz nahe an seinem. Nein, küss mich jetzt nicht, küss mich nicht, wenn vorhast mich zu verlassen. Shouyou küsste ihn nicht. Stattdessen umarmte er ihn kurz aber heftig.

Dann löste er sich von ihm und kniete sich wieder neben ihn. Tobio blickte zu ihm herab und er stellte fest, dass Shouyou ihm niemals kleiner erschienen war als in diesem Moment.

„Tobio", sagte Shouyou noch einmal, „Ich wollte auch immer nur, dass du glücklich bist. Mein Leben lang habe ich alles versucht um dich glücklich zu machen. Und ich weiß, dass das für dich angesichts von manchen Dingen, die passiert sind, wie ein Witz klingen muss, aber es ist wahr: Ich wollte, dass diese Leere in dir verschwindet, dass du aufhörst immer so traurig zu sein."

„Aber je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr dachte ich, dass ich nicht derjenige bin, der das in dir ändern kann. Oder vielleicht einfach nur noch nicht. Ich habe alles getan um dir würdig zu werden. Ich wollte derjenige sein, der bis am Ende an deiner Seite steht, am Platz ist bis zum letzten Moment, egal auf welcher Seite des Spielfeldes. Ich dachte, dass es das ist, was du brauchst. Aber jetzt … jetzt weiß ich nicht mehr wie ich in dein Leben passen. Oder ob ich da überhaupt noch hinein passe." Er schüttelte den Kopf. Und dann blickte er Tobio an, streckte seine Hand nach dessen Gesicht aus, hielt aber inne.

„Ich habe das Gefühl, dass ich dir nur noch weh tue, egal was ich mache", fuhr er fort, „Und ich will nicht der Grund dafür sein, dass es dir schlecht geht. Aber Volleyball … ich wollte nie das Einzige, worin ich gut bin, aufgeben müssen, nur um mit dir zusammen sein zu können. Ich glaube, weil ich Angst habe, dass ich ohne Volleyball einfach nur noch irgendwer bin. Alles, was ich mir erarbeitet habe, der ganze Respekt … Wer bin ich, wenn das alles aufgebe? Für die Liebe? Was werden sie über mich sagen, wenn herauskommt, dass ich das alles eingetauscht habe, nicht einmal für eine Frau, sondern für einen Mann?"

Er ließ seine Hand wieder sinken. „Damals, als ich zurück nach Brasilien gegangen bin, da dachte ich du stellst mich vor die Wahl: Entweder wir oder meine Karriere. Und ich konnte mich nicht für uns entscheiden. Wenn ich mir meine Zukunft ausgemalt habe, dann dachte ich immer, dass ich beides haben würde: eine erfolgreiche Karriere und eine erfolgreiche Beziehung", gab er zu.

„Aber der Gedanke dich zu verlieren, wirklich zu verlieren für immer. … Ich weiß, dass ich nicht gut genug für dich bin. Dass ich, wenn unsere Rollen vertauscht wären, niemals so selbstlos sein könnte wie du. Weil ich immer Sachen haben will. Und nie bereit bin zu verzichten. Aber seit ich in der Mittelschule einen unglaublich ungehobelten arroganten dunkelhaarigen Jungen, der genialer Volleyball spielen konnte als irgendjemand sonst, den ich jemals getroffen habe, kennengerlernt habe, da wollte ich vor allem eines: Diesen Jungen. Ich habe ihn geheiratet, weil ich zwar weiß, dass ich nie gut genug für ihn sein kann, aber auch nichts und niemanden jemals mehr gewollt habe."

„Und jetzt, jetzt sage ich dir, dass ich bereit bin zu wählen, und dass du meine Wahl bist, okay? Wenn ich nicht alles haben kann, dann will ich zumindest dich. Und wenn du es nicht erträgst, dass ich immer noch spiele, dann höre ich auf zu spielen. Und wenn du nicht erträgst, dass ich deinetwegen aufhöre zu spielen, dann höre ich nicht auf. Wenn du jemand anderen willst, dann kannst du jemand anderen haben, und das wäre okay, weil es mich glücklich macht zu wissen, dass du glücklich bist. Aber wenn es irgendwie möglich ist, dann bitte, wähle mich, und sag mir einfach was ich tun soll um uns zu retten." Er ballte seine Hand zu einer Faust.

„Die Wahrheit ist, dass ich gelogen habe, als ich dich bei deiner Schwester ausgelöst habe. Ich habe nie akzeptiert, dass es vorbei ist. Ich habe immer gehofft, dass du einsiehst, dass ich gut genug für dich bin, dass es mir gelingt dich zurückzugewinnen. Aber jetzt ist mir nur noch wichtig, dass du das bekommst, was du brauchst. Und wenn das Abstand ist, wenn es eine Scheidung ist, ich in Brasilien oder sonst wo sein soll, dann akzeptiere ich es", schloss er, „Aber was mich angeht, so liebe ich dich so verdammt sehr, dass es weh tut, und das ist der Grund warum ich alles so versaut habe, als ich versucht habe dir zu helfen und damit alles nur noch schlimmer gemacht habe."

„Weil ich einfach wollte, dass es dir so schnell wie möglich wieder besser geht. Aber von jetzt an, da gibst du das Tempo vor, da triffst du die Entscheidungen, und ich akzeptiere sie. Sag mir bitte nur, ob es noch eine Chance für uns gibt. Und dann verspreche ich dir, dass ich für dich immer weiterfliegen werde, egal in welcher Form."

Tobio nahm die Faust des Anderen in seine Hände und öffnete sie. „Shouyou", meinte er, „Ich kann vielleicht lernen ohne Volleyball zu leben, aber ich weiß nicht, ob ich jemals lernen könnte ohne dich zu leben. Alles andere weiß ich nicht, aber das, das weiß ich."

Shouyou richtete sich auf und lehnte sich gegen den Rollstuhl, während er sich zugleich vorlehnte und Tobio auf die Wange küsste. „Das musst du nicht, ich schwöre dir, das musst du nicht", versicherte er Tobio, „Ich bin da, was immer du brauchst, ich bin da."

„Ich will nicht, dass du aufhörst zu spielen, nur weil ich es nicht mehr kann", erklärte Tobio, „Aber ich weiß nicht, ob ich versprechen kann, dass ich es ertrage, wenn du spielst. Es tut mir leid, ich weiß, du wolltest eine klarere Antwort…"

„Das macht nichts", versicherte ihm Shouyou und küsste ihn noch einmal sanft auf die Wange, „Wir finden das gemeinsam heraus. Wir beide zusammen finden heraus wie wir zusammen weitermachen können. Ich werde fliegen, und du wirst nicht mehr traurig sein; du wirst schon sehen. Irgendwann werden wir das beide wieder zusammen erleben, egal wie viel Zeit es kostet. Wir kämpfen darum, okay? Seite an Seite." Er presste seine Stirn gegen Tobios. „Als Partner. Ich verspreche es dir."

Und Tobio wollte ihm so gerne glauben, dass sie das auch wirklich eines Tages gemeinsam erleben würden.


A/N: Endlich die Aussprache. Da ich selbst geweint habe, als ich dieses Kapitel geschrieben habe, entschuldige ich mich für möglicherweise aufgewühlte Emotionen bei euch.

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