XIII.


Zunächst war alles in Ordnung gewesen. Tobio hatte das Gefühl, dass es bergauf ging, dass es bergauf gehen musste, und er das Schlimmste endlich hinter sich hatte. Er hatte sich mit Shouyou ausgesprochen, hatte das Gefühl seine Vergangenheit endlich zu schätzen anstatt unter ihr zu leiden, hatte endlich Hoffnung auf eine Zukunft, eine bessere Zukunft. Er schien sogar in der Lage zu sein damit klar zu kommen, dass er Besuch bekam.

Kuroo-san war vorbei gekommen, und es hatte ihn nicht gestört, und das obwohl Kozume ebenfalls da gewesen war, und sie hatten zu dritt ein paar nette Stunden verbracht, in denen sich Tobio nicht beschissen gefühlt hatte.

Shouyou war wie versprochen wieder zurückgekommen von seinem Essen mit Oikawa, hatte ihn an diesem Abend ins Bett gebracht und dieses Mal hatte Tobio das nicht als demütigend empfunden, sondern sogar als einigermaßen rührend. Sein Ehemann kümmerte sich um ihn, war für ihn da, blickte ihn nicht mit Mitleid in den Augen an, sondern so als wäre er etwas Wertvolles.

Es war ein guter Tag gewesen. Er hatte gedacht, dass er mit seinem Leben, seiner Situation, Frieden geschlossen hatte. Dass alles gut werden würde.

Doch so einfach war es nicht.

Am nächsten Morgen war noch alles in Ordnung, aber dann ... dann passierte es.

Er hatte mit Shouyou und Kozume gefrühstückt und mit halben Ohr zugehört wie Kozume für ihn unverständliches Zeug über ein Spiel, dem er ein neues Youtube-Video widmete, erzählt hatte, während er in Wahrheit Shouyou beobachtet hatte wie dieser Kozume zuhörte und dabei einiges mehr zu verstehen schien als Tobio. Tobio hatte versucht herauszufinden, ob Shouyou glücklich wirkte, oder ob da irgendetwas unter der Oberfläche lauerte, was darauf hinwies, dass er in Wahrheit unglücklich war.

Es war nicht, dass er automatisch davon ausging, dass Shouyou ihn anlog, aber zuvor hatte Shouyou erwähnt, dass er aus seinem brasilianischen Team ausgetreten war, und Tobio war sich nun einfach nicht sicher, ob sein Mann diesen Schritt in Wahrheit nicht bereits bereute, und das nur nicht sagte um ihn zu verletzen.

Er konnte aber nichts an Shouyou erkennen, das darauf hinwies, dass er seine Entscheidung bereute. Immerhin gab es genug japanische Teams, die sich darum prügeln würden ihn als Spieler zu haben, das wussten sie alle, also machte es ihm vielleicht wirklich nichts aus, aber … Nun, Tobio war vielleicht einfach misstrauisch, vielleicht glaubte er einfach nicht, dass die Dinge wirklich so einfach sein würden, dass es ihnen bestimmt war glücklich zusammen zu sein. Er suchte nicht nach Ärger, nein, es war eher nur so, dass er dem Frieden nicht über den Weg traute.

Und dann kam der Anruf.

Seit seiner Verletzung hatte Tobio meistens den Unerreichbaren gespielt. Er nahm Anrufe nicht mehr entgegen, sondern ließ die Mobilbox abheben. Später hörte er sich dann an, was ihm hinterlassen worden war. Meistens hörte er sich nur die Anfänge der Nachrichten an, um festzustellen was wichtig war und was nicht. Wohlgemeinte Nachrichten von alten Teamkameraden und Bekannten ignorierte er fast vollständig, Nachrichten von der Bank, seinem Management, oder seinen Ärzten hörte er sich an, weil er das musste - immerhin könnte es um etwas Wichtiges gehen.

Doch an diesem Tag tat er etwas, das er schon lange nicht mehr getan hatte: Anstatt den Anruf nicht anzunehmen und der Mobilbox zu überlassen, hob er ab. Er konnte Shouyous überraschten Gesichtsausdruck angesichts seines Verhaltens gerade noch registrieren bevor er sich auf den Anrufer konzentrieren musste. Und er stellte zu seiner Überraschung fest, dass es sich um Miwa handelte.

„Oh, Tobio, ich wollte wissen, wie es dir inzwischen geht", erklärte sie, „Wohnst du noch mit Hinata zusammen? Seid ihr inzwischen in eine eigene Wohnung gezogen? Wie läuft die Reha? Ich habe länger nichts von dir gehört. Weißt du schon wie es mit dir weitergehen wird? Ich habe gehört, dass du Teil eines Beitrags zur Handball-Weltmeisterschaft bist, bedeutet das, dass du einen neuen Job hast?"

Das waren sehr viele Fragen auf einmal. Und es war ungewohnt, dass seine Schwester ihm überhaupt Fragen stellte. Dass sie anrief und sich nach seinen Wohlergehen erkundigte.

Tobio wunderte sich über ihre Motive für diesen Anruf. Hatte sie ein schlechtes Gewissen? Wollte sie sich nur versichern, dass es kein Fehler gewesen war ihn mit Shouyou gehen zu lassen, um sich selbst besser zu fühlen? Oder wollte sie wirklich wissen wie es um ihn stand, aus Zuneigung heraus? Diese Fragen kamen in ihm auf, während sie redete. Doch dann verstummte sie, und er registrierte was sie wirklich alles gesagt hatte.

Bedeutet das, dass du einen neuen Job hast?

Vermutlich hielt sie es für eine harmlose Frage. Sah nichts Böses darin. Meinte es nicht böse. Aber …. Weißt du schon wie es mit dir weitergehen wird?

Tobio spürte wie sich seine Kehle zuzuschnüren schien. Wie Gefühle in ihm hochwallten - Angst, Unsicherheit, Verzweiflung, Schuld … Mit einem Mal war es alles wieder da. Seid ihr inzwischen in eine eigene Wohnung umgezogen?

In diesem Moment war es gleich, dass Kozume ihm gesagt hatte, dass er hier wohnen bleiben konnte, und dass er ihn gerne um sich hatte. In diesem Moment war es egal, dass Shouyou ihm versprochen hatte, dass er ihn niemals verlassen würde. In diesem Moment wurde ihm nur klar, dass er wie ein Parasit (ein bewegungsunfähiger Parasit) in der Wohnung eines Bekannten von dessen Wohltätigkeit lebte ohne konkreten Plan das in nächster Zeit zu ändern oder auch nur einer Idee wie es überhaupt mit ihm weitergehen sollte. In diesem Moment waren alle von Oikawas viel gepriesenen Möglichkeiten in weiter Ferne; er sah sich nur als der Klotz an Hinata Shouyous Bein, der diesen daran hinderte zu fliegen (er hatte sein Team wegen Tobio verlassen!), und der nie wieder – nie wieder! – selbst dazu in der Lage sein würde zu fliegen. Ein neuer Job, weil er das, was er bisher mit seinen Leben angestellt hatte, nie mehr würde tun können. Weil er nicht mehr gut genug dafür war.

Miwa ging davon aus, dass sein Leben sich geändert hatte, und er … er wollte nicht, dass es sich änderte. Er wollte keinen neuen Job, er wollte nicht ParaVolley spielen, oder Trainer werden, oder auch nur weiter für andere Sportler werben, die ihrer Leidenschaft immer noch nachgehen konnten, er wollte einfach nur … ein paar Jahre zurückgehen und das Leben zurück haben, das ihm so viel Freude gemacht hatte!

„Ja", hörte er sich langsam sagen, „Hinata und ich wohnen noch immer zusammen, aber wir sind noch in der bisherigen Wohnung. Die Reha läuft gut. Ich mache ständige Fortschritte. Der Beitrag zur Handball-Weltmeisterschaft sollte bald laufen. Ich werde dir das genau Datum nennen, wenn ich es weiß." Er verstummte einen Moment lang.

Und dann…

… dann log er: „Ich muss jetzt aufhören, tut mir sehr leid, Schwester, aber jemand ist an der Türe. Ich rufe dich zurück." Und dann legte er auf. Und hatte nicht die geringste Absicht sie zurückzurufen. Stattdessen starrte er auf das Display seines Smartphones und stellte sich Miwas verwirrtes Gesicht vor.

„Tobio? Ist alles in Ordnung? Wer war das?" Shouyous Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah in das besorgte Gesicht des anderen Mannes.

„Miwa", erwiderte er, „Sie wollte wohl wissen, ob es Neuigkeiten gibt."

Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen wartete Shouyou, dass er das weiter ausführte oder zumindest erklärte warum er so kurz angebunden seiner Schwester gegenüber gewesen war. Doch das konnte und wollte er nicht.

„Ich… Ich fühle mich nicht gut", meinte er dann, „Würde es dir etwas ausmachen, wenn du mir zurück ins Bett hilfst, bitte?"

Shouyou blinzelte verwirrt. Meinte aber dann: „Klar, kein Problem."

Falls er sich erhoffte, dass Tobio genauer ausführen würde was los war, wurde er aber enttäuscht. Tobio sagte nichts mehr zu diesem Thema zu ihm, und erst als Shouyou ihn zu Bett gebracht hatte, auf die Stirn geküsst hatte, und versichert hatte, dass er ihn nur rufen musste, wenn er etwas bräuchte, und alleine ließ, erst da gab sich Tobio all den in ihm aufwallenden Gefühlen hin.

Er ließ zu, dass sie ihn umschlossen, ließ zu, dass sie Macht über ihn gewannen. Er hoffte, dass sie über ihn hinwegspülen würden, dass sie am nach ein paar Stunden Schlaf einfach wieder verschwunden wären. Er hoffte es wirklich, aber er musste immer wieder an Miwas Anruf denken, und immer wenn er das tat, dann flammten diese Gefühle erneut in ihm auf. Sie vergingen nicht einfach, verschwanden nicht.

Er hoffte sich von ihnen ablenken zu können. Shouyou sollte ihn am nächsten Tag zu seiner Physiotherapie fahren, und diese würde ihn hoffentlich auf andere Gedanken bringen und keine Zeit mehr dafür lassen weiterhin über Miwas Worte und ihr unausgesprochenes Urteil nachzudenken. Doch in seinem Hinterkopf würde das Thema und alles, was damit zusammenhing, trotzdem weiterhin lauern. Bereit bei jedem noch so kleinen Anlass wieder an die Oberfläche gezerrt zu werden.


„Es wird gute und schlechte Tage geben", hatte ihm Oikawa erklärt, „Der Weg zur Besserung ist keine gerade Linie von Schlecht zu Gut. Du kannst nicht erwarten, dass du dich einmal aussprichst und danach alles, was dich belastet, auf magische Weise verschwunden ist."

Tobio nahm an, dass es naiv gewesen war anzunehmen, dass das sehr wohl der Fall sein würde. Klar, er hatte nicht mit Magie gerechnet, aber zumindest hatte er gehofft, dass es ihm länger besser gehen würde als nur ein paar Tage lang.

Oikawa war bei ihm aufgetaucht um sich zu verabschieden, weil er zurück nach Argentinien fliegen wollte. Er war am Nachmittag nach dem Anruf aufgetaucht und hatte keine Ausreden nicht zu Tobio vorgelassen zu werden gelten lassen, da er behauptete noch am selben Abend abfliegen zu müssen.

Tobio war eigentlich nicht danach gewesen ihn zu sehen, aber er wusste, dass er Oikawa viel verdankte, und außerdem gebot ihm die Höflichkeit sich zu verabschieden. Aber wenn er ehrlich war, dann traute er Oikawa zu einfach in sein Schlafzimmer zu stürmen um sich von ihm zu verabschieden, ob Tobio damit einverstanden wäre oder nicht, was der Hauptgrund dafür war, dass er sich aus dem Bett helfen ließ um noch einmal mit Oikawa zu sprechen.

Oikawa wusste sofort was los war. Vielleicht hatte Shouyou gepetzt, aber vielleicht hatte er auch einfach eine Art sechsten Sinn dafür, oder vielleicht sah Tobio einfach so mitleidserregend aus, dass er es deswegen wusste. „Oh, Tobio-chan", seufzte er, kaum, dass er Tobio erblickt hatte, „Und ich hatte gehofft, dass du wenigstens durchhältst bis Land verlassen habe! Was ist passiert?"

Tobio zögerte einen Moment, doch dann erzählte er vom Anruf seiner Schwester und den Dingen, die sie gesagt hatte, und was diese in ihm ausgelöst hatten. „Ich weiß selbst nicht was passiert ist", schloss er, „Einen Moment lang war noch alles in Ordnung, und dann … dann auf einmal nicht mehr."

Oikawa nickte wissend. „Ja, so was kommt vor", erwiderte er ruhig, „Und hängt mit dem Grund zusammen, warum ich noch einmal mit dir sprechen wollte. Ich finde es ja großartig, dass du dich geöffnet hast, mit mir gesprochen hast, mit Shouyou gesprochen hast, und dass dir das auch wirklich geholfen hat, aber … na ja eine Wunderheilung für deine Seele war es nicht."

Tobio blickte ihn verwirrt an und versuchte zu begreifen, was der andere ihm da sagte. „Heißt das ich bin … irgendwie defekt?", wollte er dann wissen, „Innerlich auch noch? Dass ich zu fragil bin um jemals wieder normal zu funktionieren?"

„Nein, nein, jetzt spiel doch nicht gleich die Drama-Queen - das ist meine Rolle!", beschwichtigte ihn Oikawa, „Es ist nur menschlich und normal Gefühle zu haben. Und dass du die nicht immer unter Kontrolle hast, ist auch klar. Hör mal, was dir passiert ist, das ist nichts, was von heute auf morgen wieder gut wird, und deswegen ist es nur folgerichtig, dass du auch innerlich nicht wieder von heute auf Morgen heilst. Aber deswegen bist du noch lange nicht defekt, du bist einfach nur ein Mensch." Und dann erklärte er ihm, dass es gute und schlechte Tage geben würde, und der Weg zur Besserung keine gerade Linie darstellen würde.

„Und ich kann nicht immer da sein, um dich aufzufangen. Und so sehr Shouyou sich bemüht, wird er dazu auch nicht in der Lage sein, und deine Freunde auch nicht", fuhr Oikawa fort, „Und deswegen wollte ich dir vorschlagen, dass du dir professionelle Hilfe suchst, dich in Therapie begibst, Psychotherapie, meine ich. Psychologische Hilfe kann sehr wertvoll sein und ist manchmal dringend notwendig. Und du solltest sie wirklich in Anspruch nehmen."

Das hörte Tobio gar nicht gerne. „Also bin ich doch defekt, so defekt, dass ich mich nicht selbst heilen kann", stellte er bitter fest, „Das ist im Grunde das, was du mir sagst, oder nicht? Dass ich zu schwach bin um alleine klar zu kommen."

Oikawa seufzte leidend. „Das hat nichts mit Schwäche zu tun! Kein Mensch kann sich selbst heilen!", gab er leicht genervt zurück, „Und das solltest du auch nicht müssen. Ja, ich weiß, du verbringst bereits genug Zeit bei diversen Ärzten und mit der Physiotherapie. Und fühlst dich deswegen bereits genug wie ein Versager. Aber gerade deswegen ist es nur folgerichtig, dass es dir schlecht geht. So schlecht, dass es wichtig ist, dass dir jemand beisteht, der auch weiß was er tut. Und ich denke, dass Shouyou ausreichend bewiesen hat, dass er das nicht weiß. Und auch wenn ich den Eindruck vermittle, als wäre ich dein weiser Senpai, der alles mit einem Fingerschnipsten lösen kann, weiß auch ich das nicht. Hilfe anzunehmen macht einen nicht schwach, Tobio-chan, das solltest du wissen. Keiner steht alleine am Volleyball-Feld, und am Spielfeld des Lebens steht auch keiner alleine da."

Tobio schüttelte nur seinen Kopf. Er wollte einfach nicht …. der Welt offenbaren, dass er noch kaputter war als sowieso schon alle wussten. „Ich verstehe ja, was du meinst, wirklich. Keine magische Heilung, von mir aus. Es wird Rückschläge geben. Und ich werde mich öfter wieder schlecht fühlen als gut. Aber das bedeutet nicht, dass ich deswegen in Therapie gehen muss", argumentierte er.

„Natürlich musst du das nicht, aber es wäre besser, wenn du es tust", entgegnete Oikawa, „Es wäre besser für dich, und es wäre besser für dein Umfeld. Shouyou würde sich weniger Sorgen um dich machen, wenn er wüsste, dass du in professionellen Händen bist."

Dieses Argument gefiel Tobio gar nicht. „Es ist nicht notwendig", beharrte er stur.

Oikawa rollte mit den Augen. „Ein paar harmlosen Fragen deiner Schwester haben dich zurück in eine depressive Phase versetzt, also ja, es ist notwendig!", schnappte er.

Tobio wandte sein Gesicht von dem anderen Mann ab, und spürte wie Ärger in ihm aufstieg. Also wollte ihm Oikawa doch sagen, dass er defekt war. Na gut, dann war er eben defekt, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er das alle wissen lassen musste! Oder sich das auf regelmäßiger Basis von einer fremden Person bestätigen lassen musste! Wer wusste schon was diese Person ihm noch alles sagen würde? Was noch alles, das nicht mit ihm stimmte, ans Tageslicht kommen würde?

Er konnte Oikawa seufzen hören. Dann fragte sein ehemaliger Senpai: „Denkst du wirklich, dass jeder, der sich psychologische Hilfe holt, schwach ist?"

Tobio erwiderte nichts darauf und weigerte sich den anderen Mann anzusehen.

„Na ja, dann schätze ich, dass ich auch schwach bin", fuhr Oikawa fort, was Tobio nun doch dazu veranlasste seinen Blick in die Richtung des älteren Mannes zu wenden, „Ich war nämlich einigen Zeit lang in psychologischer Betreuung. Hatte einen Therapeuten, den ich regelmäßig aufgesucht habe."

Tobio warf dem anderen Mann nun doch einen erstaunten Blick zu.

Dieser nickte ernst. „Das war kurz nachdem ich Shouyou zum ersten Mal in Brasilien getroffen hatte. Mir ging es schon während meiner Schulzeit nicht besonders gut. Ich bin mir nicht sicher, ob dir das aufgefallen ist, aber ich habe dazu geneigt mich ein wenig zu sehr unter Druck zu setzen, weil ich unbedingt gewinnen wollte. Hab mich in Rivalitäten hineingesteigert, Versagensängste entwickelt, und na ja irgendwann ist mir aufgefallen, dass mir Volleyball im Grunde keine Freude mehr macht. Nachdem ich ein wenig Beachvolleyball mit deinen Chibi-chan gespielt habe, da wurde mir klar, dass ich etwas tue, das ich früher mal geliebt habe, aber das für mich jetzt zu einer gefürchteten Aufgabe geworden ist. Ich habe meinem Coach davon erzählt, und der hat mich in Therapie geschickt. Deswegen und noch wegen ein paar anderen Dingen."

Oikawa legte eine Pause ein und schien sich zurück zu erinnern. „Ich war damals auch nicht besonders scharf dorthin zu gehen. Aber alle haben sich Sorgen um mich gemacht – zumindest alle, auf die es angekommen ist - also habe ich nachgegeben. Im Grunde habe ich es für sie getan und nicht für mich, damit sie mich weiter spielen lassen", berichtete er, „War nicht mein stolzester Moment, aber na ja, ich ging hin, und es hat mir geholfen. Es hat mir wirklich geholfen nicht mehr alles so ernst zu nehmen, nicht mehr alles als Frage von Leben und Tod anzusehen. Es hat mir geholfen wieder Spaß am Sport zu finden. Und Freude in meinem eigenen Leben."

Er nickte, als er Tobios ungläubigen Blick sah. „Ich gehe immer noch hin, nicht mehr regelmäßig, aber ab und zu. Obwohl, wenn ich bedenke welche Standpauke mir Iwa-chan gestern gehalten hat, sollte ich vielleicht wieder öfter hin gehen, er denkt meine Essstörung kommt zurück, was ich nicht hoffen will, aber … na ja, ich bin mein eigener größter Feind, wenn es um meine Gesundheit geht", fuhr er fort, „Ich habe das noch niemandem jemals erzählt. Ich meine, es gibt natürlich Leute, die davon wissen. Iwa-chan weiß es, einiger meiner Freunde und Teamkameraden, aber die wissen es alle, weil sie in den schlimmen Zeiten dabei waren, sonst habe ich niemanden jemals davon erzählt. Aber jetzt sage ich es dir. Ich sage es dir, Tobio-chan. Und weißt du warum?"

„Weil du willst, dass ich mir helfen lasse?", vermutete Tobio.

„Weil ich will, dass du dir selbst hilfst, indem du deinen verdammten Stolz überwindest und dein falsches Schamgefühl und aufhörst zu denke, dass ein Kämpfer zu sein bedeutet, dass man nie Schwäche zeigen darf und immer alles alleine lösen muss", berichtigte ihn Oikawa, „Du wärst doch auch nicht auf die Idee gekommen alleine zu leben direkt nach deinem Unfall, oder? Weil du wusstest, dass es nicht möglich gewesen wäre. Es ist auch nicht möglich sich selbst von all seinen seelischen Leiden zu heilen. Manchmal da wird auch die Seele krank, und manchmal gerät die Chemie des Körpers durcheinander, und dann hilft keine mentale Disziplin, dann helfen nur noch Medikamente. Und ich weiß, du denkst, dass es peinlich ist dein Innenleben vor einem Fremden auszubreiten, aber ich kann dir sagen, dass das manchmal um einiges einfacher ist als es vor seinen Lieben zu tun. Diese Menschen werden dafür bezahlt dir zu helfen, nicht dafür dich zu verurteilen. Wenn du dir dein Handgelenk verstauchst, verurteilt dich ein behandelter Arzt auch nicht dafür, sondern er hilft dir es wieder in Ordnung zu bringen. Das ist nicht anders. Das denkst du nur, weil es dir irgendjemand eingeredet hat."

Tobio schüttelte seinen Kopf. „Aber ich bin doch schon so kaputt. Mein Körper ist schon in Behandlung. Und jetzt soll ich auch noch meinen Geist behandeln lassen?", wandte er ein.

Oikawa nickte. „Wenn du willst, dass es dir und allen anderen, die dir am Herzen liegen, wieder besser geht, dann ja, dann sollst du das tun", bestätigte er, „Ich weiß, dass es Überwindung kostet, aber es wird sich lohnen, das verspreche ich dir. Keiner, der weiß, was dir passiert ist, würde darüber die Stirn runzeln. Die würden sich höchstens darüber wundern, warum du so lange gewartet hast um dir Hilfe zu besorgen. Ich dachte damals, dass ich keine Hilfe brauche, weil alles mit mir in Ordnung ist. Aber wenn mir passiert wäre, was dir passiert ist, wäre ich freiwillig ohne Anregungen von anderen zum Psychiater gegangen, das kann ich dir versichern."

Tobio dachte über diese Worte nach, und nickte dann langsam. „Also gut, ich kann nichts versprechen, aber ich werde darüber nachdenken", sagte er schließlich.

„Mehr kann ich nicht verlangen. … Vor allem auch, weil ich keine Zeit für längere Diskussionen habe, wenn ich meinen Flug nicht verpassen will", meinte Oikawa dazu und warf einen Blick auf seine Uhr, „Okay, das wollte ich noch loswerden. Ich muss dann mal los. Wir sehen uns. Und denk darüber nach, ja? Wenn ich tapfer genug war über meinen Schatten zu springen, dann bist du es doch alle mal." Er drückte kurz Tobios Schulter. „Pass auf dich auf, ja?"

Tobio nickte, und erkannte etwas in Oikawas Augen, das er dort noch niemals zuvor entdeckt hatte. Er war sich nicht sicher, worum es sich handelte, doch es schien ihm fast so als könnte es Sorge sein. Sorge um ihn, nahm er an.

Oikawa war von Argentinien nach Japan geflogen, nur um mit ihm zu reden, hielt er sich vor Augen. Zwischendurch hatte er nur kurz Iwaizumi gesehen, aber die meiste Zeit hatte er damit verbracht mit Tobio zu reden. Bisher hatte dieser angenommen, dass der ältere Mann das vor allem für Shouyou getan hatte, aber jetzt …

„Danke, dass du gekommen bist", sagte Tobio schnell, „Danke für alles."

Oikawa nickte nur unwirsch. „Wenn du dich bedanken willst, dann hol dir psychologische Unterstützung", meinte er, „Das würde ich sehr zu schätzen wissen."

Tobio sah ihm wenig später immer noch nachdenklich hinterher, auch nachdem Oikawa die Wohnung längst verlassen hatte.

Zumindest musste Tobio jetzt nicht mehr ständig an Miwas Anruf denken. Dafür aber gab es jetzt genug andere Dinge, über die er nachdenken sollte, und diese Dinge waren auch nicht viel angenehmer.


A/N: Das war theoretisch das letzte wirklich „schwere" Kapitel, von jetzt an sollten wir die wirklich belastenden Themen hinter uns haben.

Ich kann die Frage, wie lange diese Fic noch sein wird, nicht genau beantworten. Es gibt noch ein paar Dinge, die passieren sollen, aber da ich für die Dinge, die bisher passiert sind, mehr Platz gebraucht habe als gedacht, weiß ich nicht wie lange ich dafür noch brauche. Aber der Großteil des Inhalts sollte hinter uns liegen.

Reviews?