XVI.
Als Shouyou nach Hause zurückkam, war er zugleich müde, besorgt, und glücklich. Es war eine ungewohnte Mischung aus Gefühlen, mit denen er bisher in dieser Art nicht hatte umgehen müssen. Müde und glücklich zugleich war er nach gewonnen Matches in der Vergangenheit öfter gewesen, doch nun kam die Sorge um Tobio hinzu, die ihn begleitete seit er Tokyo verlassen hatte.
Sie hatte ihn so sehr abgelenkt, dass er darum gebeten hatte den Beginn des Matches auf der Bank verbringen zu können, um sein aufgewühltes Innenleben beruhigen zu können und sich von einer anderen Perspektive aus auf das Match konzentrieren zu können. Und es hatte funktioniert - als er das Spielfeld schließlich betreten hatte, hatte er an nichts anderes mehr gedacht als das Match; er war dafür bereit gewesen und hatte alles geben können.
Doch kaum, dass sie gewonnen hatten, war sie Sorge zurückgekehrt. Am Telefon hatte Tobio nur ein paar kurze Worte für ihn übrig gehabt, ihm versichert, das alles in Ordnung war, und gesagt sie würden sich bald sehen. Shouyou glaubte zwar nicht, dass sein Ehemann ihn anlügen würde, aber wer wusste schon wann die depressiven Gedanken Tobio wieder einholten? Wann ihm klar geworden war, dass Shouyou immer noch Volleyball spielte, aber er das nie wieder tun konnte, und was diese Erkenntnis ihm antun würde.
Die ganze Fahrt über zurück nach Tokyo hatte Shouyou sich Sorgen gemacht. Und nun, als er mitten in der Nacht die Wohnung betrat, wusste er nicht was ihn erwarten würde.
Zunächst erwartete ihn gar nichts. Alle schienen zu schlafen. Es war dunkel in der Wohnung, keines von Kenmas Geräten war eingeschalten, und es war auch kein Laut aus irgendeinem der Zimmer zu hören.
Auf dem Bett vor Tobios Türe schlief niemand, aber das war nicht überraschend. Kenma hatte sich immer schon geweigert sich „wie ein Gefängniswärter oder eine Mutterhenne" aufzuführen, wenn er die Nachtschicht übernehmen musste, und hatte Tobio stattdessen mit einem Baby Phon und einem weiteren Funkgerät für alle Fälle ausgestattet. Dass niemand auf war, bedeutete also vermutlich, dass Tobio entweder schlief oder zumindest so tat als würde er schlafen.
Shouyou versuchte extra leise zu sein, für den Fall, dass sein Mann tatsächlich schlief. Er sperrte die Türe hinter sich ab, stellte seine Sporttasche ab, und holte sich erst einmal einen Smoothie aus dem Kühlschrank.
Als er sich umdrehte, nachdem er den Kühlschrank wieder geschlossen hatte, stieß er beinahe mit einer großgewachsenen Gestalt im Dunkeln zusammen. Erschrocken holte Shouyouy mit einem Arm aus um sich zu verteidigen, falls das notwendig werden sollte, doch eine bekannte Stimme beruhigte ihn: „Wow, immer mit der Ruhe, Kleiner. Ich bin kein Einbrecher, ich bin's nur!"
„Kuroo?!"
Das Licht ging an, und Shouyou blinzelte einige Male, bevor er einen nur mit einer Boxershort bekleideten Kuroo Tetsuro erkannte, der mit noch zerzausteren Haaren als sonst vor ihm stand.
Shouyou wollte schon eine dumme Frage stellen, als er sah, dass die Türe zu Kenmas Schlafzimmer einen Spalt offenstand, und erkannte, dass Kuroo offenbar aus diesem Zimmer gekommen war.
„Ich – ehm – verbringe die Nacht hier. Ich wollte mir nur etwas zu trinken holen", erklärte Kuroo.
Shouyou starrte ihn an. „Du hast in Kenmas Zimmer geschlafen?", wunderte er sich. Normalerweise, wenn Kuroo hier die Nacht verbrachte (was selten vorkam, und Shouyou wusste ja auch warum das so war), benutzte er das Sofa im Wohnzimmer. Und außerdem war er normalerweise auch bekleideter als jetzt. Es handelte sich nicht einmal um eine besonders warme Nacht, was seine Fast-Nacktheit doppelt verdächtig machte.
„Ja?", lautete die verunsicherte Antwort, die er bekam.
Wieso formuliert er das als Frage? Müsste er das nicht besser wissen als ich?
Shouyou versuchte alle Puzzelteile, die sich ihm boten, zusammenzusetzen. „Hast du in Kenmas Bett geschlafen?", wollte er dann wissen.
Kuroo wirkte etwas unangenehm berührt ob dieser Frage, was praktisch eine Antwort war. „Entschuldige, wenn mich das verwirrt, aber du bist doch derjenige, der mir seit Monaten jedes Mal, wenn ich auch nur andeute, dass du ihm deine Gefühle gestehen solltest, erklärt, dass so etwas wie das hier gerade niemals passieren kann, und zwar zu Kenmas eigenem Besten!", empörte sich Shouyou jetzt, „Was genau wird das hier jetzt?" Falls er etwas laut wurde, dann lag das nur an seiner Verwirrung und seiner Verärgerung.
„Kenma ist derjenige, der mir seine Gefühle gestanden hat", erwiderte Kuroo nun, „Ich habe nur … reagiert. Und es ist nichts Unlauteres vorgefallen, wir haben nur geschlafen. Vielleicht ein wenig leichter bekleidet als sonst, aber das war auch schon alles. Na ja, das und die Küsse, aber das war seine Idee, und er hat mich überstimmt."
„Moment." Shouyou hob seine Hand und machte ein „Stop"-Geste. „Wann genau ist das alles passiert?", wollte er wissen.
„Gestern Abend. Nach dem Match", erklärte Kuroo, „Kageyama-kun wurde ein wenig emotional, und das hat Kenma ebenfalls emotional werden lassen, schätze ich. Er war wohl inspiriert, wollte die wichtigen Dinge ebenfalls beim Namen nennen. Wir haben uns ausgesprochen, und eines hat zum anderen geführt, und …."
„Tobio wurde emotional? Hat er sich etwa das Match angesehen?!" Auf einmal war jeder Gedanke an Kenma und Kuroo vergessen, und Shouyou war kurz davor in Tobios Zimmer zu stürmen um nach seinem Ehemann zu sehen, ihn wach zu rütteln, wenn es nötig sein sollte.
„Nein, warte." Kuroo hatte seine Gedanken erraten und ihn am Ellenbogen geschnappt. „Tut mir leid, so war das nicht gemeint. Er wurde auf eine gute Weise emotional. Es geht ihm gut, glaub mir. Ja, er wollte sich das Match ansehen, und Kenma hat mich zur emotionalen Unterstützung angerufen, und wir haben es zusammen angesehen und ihn dabei genau im Auge behalten, bereit jederzeit abzudrehen und emotional beizuspringen. Aber das war nicht nötig. Er hat es sich angesehen und hat dir gerne zugesehen. Und wir haben ihn auch Stunden nachher im Auge behalten. Es gab keinen emotionalen Crash, er konnte mit uns sogar über das Match reden als wäre alles beim Alten, und dann ist er schlafen gegangen und hat wie ein Baby geschlafen. Wir haben nachgesehen. Es ist alles in Ordnung, wirklich", versicherte er Shouyou, „Es gibt keinen Grund zur Sorge."
Shouyou war sich aber nicht so sicher, ob er das glauben konnte. „Ich sollte trotzdem nach ihm sehen", meinte er, schüttelte die Hand des anderen Mannes ab, und stürmte in Tobios Zimmer.
Dieser hatte sich verwirrt in seinem Bett aufgerichtet so weit es ging und schaltete das Licht ein und blickte Shouyou an, als dieser herein kam. „Ist was passiert?", wollte er wissen.
Shouyou setzte sich auf sein Bett und musterte seinen Ehemann misstrauisch. Keine verräterischen roten Augen oder Tränenspuren waren im Gesicht seines Mannes zu erkennen, und er wirkte auch wirklich vor allem verwirrt und nicht verzweifelt oder traurig. Offenbar hatte Kuroo recht gehabt; Kageyama Tobio war in Ordnung.
„Ich habe Kuroo getroffen, und er hat was gesagt, und ich … es ist blöd. Ich habe mir einfach Sorgen gemacht", gab Shouyou zu, „Ob es dir auch wirklich gut geht, meine ich." Abwesend griff er nach Tobios Hand und drückte diese. „Ich hab dich vermisst", gab er zu, und küsste die Hand seines Mannes sanft, „Aber ich hätte dich nicht einfach so wecken sollen. Wenn du lieber schlafen willst, dann können wir auch Morgen reden."
Tobio schien seinerseits sein Gesicht zu studieren. „Ich hab dein Match angesehen", erklärte er, „Und bin daran nicht zerbrochen." Seine Gedanken schienen einen Moment lang abzuschweifen, vielleicht erinnerte er sich an das Match. „Es war schön dir dabei zuzusehen wie du das tust, was du liebst. Was wir beide lieben", fuhr der dunkelhaarige Mann fort, „Ich war ganz zufrieden mit deiner Leistung. Aber natürlich hättest du auch besser spielen können."
Shouyou blinzelte ungläubig, als er das hörte. „Jetzt hör mal…", setzte er an, „Ich habe so gut gespielt wie ich konnte! Du weißt, dass ich immer mein Bestes gebe! Wie kannst du mir vorwerfen, dass ich…" Er verstummte, als er bemerkte, dass Tobio hämisch grinste.
„Du kannst immer besser spielen", merkte der ehemalige Zuspieler an, „Aber wie gesagt, ich war ganz zufrieden…." Jetzt hatte er Shouyous rechte Hand in seine genommen, führte diese zu seinen Mund und drückte einen Kuss darauf und dann gleich noch einen und noch einen. „Du hast sogar einen Annahme gemacht, die mich beeindruckt hat…" Dann begann er damit Shouyous Finger zu küssen.
Dieser schauderte. „Ninja Shouyou liefert immer gute Annahmen ab!", behauptete er, „Das solltest du eigentlich wissen!"
„Mhm…" Tobio schien nicht vorzuhaben damit aufzuhören Shouyous Finger zu küssen, wogegen dieser an sich keine Einwände vorzubringen hatte, aber …
„Ich – ehm – war unhöflich zu Kuroo-san. Ich sollte noch einmal mit ihm reden, bevor wir … ich meine …", stotterte er herum und war vollkommen verwirrt, weil er nicht wusste was er eigentlich mit „bevor wir" meinte, oder ob er überhaupt etwas damit meinen durfte. „Er –ehm – hat gesagt, dass du emotional wurdest und was gesagt hat, was … Kenma inspiriert hat etwas Uncharakteristisches zu tun?"
Tobio ließ von seiner Hand ab, hob den Blick, und starrte ihn an. „Ich habe nur gesagt, dass ich sehr froh bin, dass ich dir gesagt habe, was ich empfinde, weil ich dich ansonsten vielleicht verpasst hätte", erklärte er, „Ich bin sehr stolz auf dich, Shouyou. Auf alles, was du erreicht hast, und auf alles, was du noch erreichen wirst. Und ich liebe dich."
„Ich liebe dich auch", platze es aus Shouyou heraus.
„Ich weiß dieses Bett ist nicht besonders groß, aber vielleicht könntest du trotzdem-", setzte Tobio an.
„Ja! Ich meine, ich schlafe gerne heute Nacht bei dir", meinte Shouyou etwas zu schnell, „Vielleicht … ich meine, wir könnten uns ja umsehen nach einem größeren Bett. Es gibt auch Nicht-Krankenhaus-Betten, die man verstellen kann. Oder wir könnten zwei zusammenschieben… Wenn du willst, können wir uns das überlegen, meine ich."
Tobio lächelte milde. „Ich will dir auch wieder näher sein", gab er zu, „Aber du weißt, dass es mir immer noch nicht besonders gut geht, und das manche Dinge…."
„Diese Dinge kümmern mich nicht, okay?", erwiderte Shouyou, „Ich will einfach nur neben dir liegen. Alles andere … es ist wie es immer war, du gibst den Ton an. Wir tun was du willst, und was du nicht willst tun wir nicht." Daraufhin fielen ihm wieder Kenma und Kuroo ein. „Oh, ich muss dringend noch mal mit Kuroo reden. Gib mir einen Moment, ja?" Er drückte Tobio schnell einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Ich bin gleich wieder da!"
Kuroo erwartete ihn in der Küche. Zusammen mit einem verschlafen wirkenden Kenma, der aussah als wäre er gerade in einen Wirbelsturm geraten.
„Und? Ist alles in Ordnung mit ihm?", wollte Kuroo wissen.
„Ja." Shouyou fühlte Scham in sich hochsteigen. „Es tut mir leid, dass ich ausgerastet bin. Ich glaube, ich bin nur überbesorgt", erklärte er, „Die letzten Tage waren verdammt stressig."
„Schon gut, wenn es um Kenma ginge, dann wäre ich auch wenig verrückt vor Fürsorge", erwiderte Kuroo unbeeindruckt.
„Ähm…" Shouyou blickte zwischen dem hochgewachsenen Mann und seinen kleineren zarten besten Freund hin und her. „Seid ihr jetzt … ein Paar?", wollte er dann wissen.
Kuroo und Kenma wechselten einen kurzen Blick, der ihnen aber viel zu sagen schien.
Dann meinte Kuroo langsam: „Ja, ich denke, das kann man so sagen, ja." Er nahm Kenmas Hand in seine und drückte sie. „Wie sich herausgestellt hat, mussten wir uns nur aussprechen."
„Was euch Kageyama Tobio klar gemacht hat. Ausgerechnet!", stellte Shouyou fest, „Und ich war schon dabei mir komplizierte Pläne zu überlegen, wie euch zusammenbringen kann, ohne das Vertrauen, das ihr in mich gesetzt habt, zu brechen. Aber zumindest habe ich jetzt weniger Arbeit!" Er schüttelte den Kopf. „Ich freu mich für euch, wirklich", beteuerte er, „Das mag vielleicht nicht so wirken, aber das ist nur der Fall, weil ich übernächtig bin. Und nur Kageyama und Volleyball im Kopf habe, wie immer eben. Aber: Daumen hoch!"
Kenma schüttelte nur den Kopf. „Nun, da das geklärt ist: Können wir alle wieder schlafen gehen? Ich hab in wenigen Stunden einen Livestream, ich brauche meinen Schlaf!", meinte er und wankte dann in Richtung seines Schlafzimmers.
Shouyou blickte ihm hinterher. Nun, das war wohl typisch Kenma, nahm er an. Nachdem alles gesagt worden war, war ein Thema für ihn abgehakt.
Kuroo zuckte die Schultern. „Wir sehen uns Morgen, schätze ich", meinte er, „Wie sich herausgestellt hat, hattest du recht und ich unrecht. Was nicht heißt, dass das hier einfach wird."
„Hauptsache er ist es wert", erwiderte Shouyou, „Gute Nacht. Ehm, es tut mir wirklich leid, Kuroo-san. Ich freue mich - ehrlich. Ich weiß was ihr füreinander empfindet, und dass du nie etwas tun würdest, was Kenma unangenehm wäre. Das würde ich nie denken. Und du solltest das von dir selbst auch nicht denken. Kenma ist nicht … nun, ich weiß nicht was Kenma ist, aber ich weiß, dass er weiß was er will und was nicht, und solange du das respektierst, solange ist alles gut. Auch wenn du wohl mit seiner Arbeit um seine Aufmerksamkeit konkurrieren werden müssen wirst."
„Was nichts Neues ist", stellte Kuroo fest, „Gute Nacht, Shouyou, bis Morgen."
Dann tapste er Kenma hinterher, und Shouyou, Shouyou kehrte zu seinem Ehemann zurück.
Von da an waren es kleine Schritte, aber es waren Schritte, Schritte in Richtung Normalität, wenn man so wollte, Schritte in Richtung neue Realität.
Shouyou stellte fest, dass er mit Tobio wieder über Volleyball reden konnte. Sie kaufen sich ein neues Bett, schliefen wieder nebeneinander. Sie küssten sich wieder öfter auf den Mund, etwas, das sie vorher nicht wirklich gewagt hatten, ihnen nun aber wieder natürlich vorkam. Tobio machte Fortschritte, was seinen Körper anging, und auch, was seine Psyche anging, während Shouyou weiterhin Volleyball spielte.
Es war Kenma, der vorschlug, ein größeres Appartement zu suchen. Er und Kuroo wollten zusammen ziehen, so viel war klar, und Kenma meinte, dass sie dann doch gleich etwas zu Viert, am Besten im Erdgeschoss, suchen könnten. (Tobio brach bei dieser Ankündigung spontan in Tränen aus und musste von drei Mann hoch beruhigt werden).
Da Shouyou mit Volleyball alle Hände voll zu tun hatte, lag es an Tobio, Kenma, und Kuroo die neue Wohnung auszusuchen. Das war aber nicht die einzige Front, an der Tobio aktiv wurde. Er erklärte sich bereit für die Assoziation zu arbeiten, und arbeitete mit Kenma an Sportvidoes. Und er erklärte sich sogar bereit die Wohnung zu verlassen, und war bei Shouyous Spielen anwesend, wenn diese in Toyko stattfanden.
Bei diesen Gelegenheiten fanden sich auch immer wieder mal alte Freunde und Bekannte von ihm ein, die ebenfalls gekommen waren um sich das Match anzusehen. Shouyou war dann immer zugleich erfreut als auch besorgt, wenn er Tobio mit ehemaligen Spielern aus Nekoma oder Fukurodani sprechen sah, oder gar mit Teamkollegen aus dem Nationalteam oder jemanden aus Karasuno.
Aber es stellte sich heraus, dass er sich keine Sorgen machen musste. Tobio kam damit zurecht. Das wurde ihm klar, als er Tobio dabei ertappte wie dieser mit Ennoshita-san über seine Physiotherapie sprach, und dieser später an diesem Tag immer noch einen guten Tag und keinen schlechten zu haben schien.
Die Saison endete für die Adlers schneller als erhofft, aber zugleich gab das Shouyou mehr Zeit um sich mit Tobio zu befassen. Dieser wiederum fragte ihn nun endlich, ob er zu Dr. Nakamura mitkommen wollte. Shouyou stimmte zu, auch wenn er nicht wusste, was ihn erwarten würde.
Dr. Nakamura stellte sich als sehr angenehme Gesprächspartnerin heraus, die alle immer ausreden ließ, genau zuhörte, und kein Urteil zu fällen schien.
„Das ist Shouyou, mein Ehemann", stellte Tobio ihn seiner Therapeutin vor.
Dr. Nakamura nickte Shouyou zu, der etwas verlegen bemerkte: „Ehm, hallo. Es freut mich, dass ich hier sein kann."
„Tobio hat mir schon einiges von Ihnen erzählt, Hinata-san", erwiderte Dr. Nakamura, „Setzen Sie sich."
Shouyou nahm ein wenig nervös auf einem freien Stuhl neben Tobio Platz. „Er hat also von mir gesprochen, ja?", wiederholte er, und fragte sich, ob das etwas Gutes war oder nicht.
„Erst in letzter Zeit, aber ja. Er hat mir erzählt wie bemüht Sie sind, und wie verlässlich", erklärte Dr. Nakamura, „Er hat mir gesagt, dass er sich immer auf Sie verlassen kann."
Das hört sich aber so gar nicht nach mir an, dachte Shouyou, als er diese schmeichelhafte Beschreibung hörte.
„Ich tue mein Bestes, sicher", räumte er ein, „Aber ich … bin nicht sicher, ob ich wirklich alles tue, was ich tun kann." Er warf einen verunsicherten Blick in Tobios Richtung.
Dr. Nakamura blickte ihn geduldig an. „Ach? Und wieso denken Sie das?", wollte sie wissen.
„Ehm nun … ich war in der Vergangenheit nicht immer für Tobio da, wenn er mich gebraucht hat, und habe oft meine eigenen Bedürfnisse wichtiger genommen als seine. Ich wollte nie der Typ Mann sein, der sich selbst verliert, nur weil er seinen Partner gefallen möchte. Und ich wollte immer alles haben: meine Karriere und meine Liebe. Und ich bin mir nicht sicher, ob sich das wirklich geändert hat", erklärte Shouyou errötend und kratzte sich am Kopf, „Ich meine, ich gebe mir Mühe, aber … Ich war viel unterwegs, wegen Volleyball - ich spiele immer noch in der Liga, wissen Sie."
Dr. Nakamura nickte. „Und wieso genau glauben Sie, dass es etwas Schlechtes wäre, wenn Sie immer noch Volleyballs spielen und auch auf ihre eigene Karriere und Bedürfnisse Rücksicht nehmen, Hinata-san? Hat Tobio Ihnen gesagt, dass er sich vernachlässigt fühlt? Hat er von Ihnen verlangt mit dem Volleyball aufzuhören?", erkundigte sie sich.
Shouyou warf einen flüchtigen Blick auf Tobio. „Nein", gab er zu, „Das hat er nicht, aber … ich bin eben trotzdem nicht sicher, ob es richtig ist … ihn so viel alleine zu lassen…"
Dr. Nakamura nickte, als würde ihr diese Aussage mehr sagen als ihm. „Denken Sie, er kommt alleine nicht zurecht?", hakte sie nach.
„Nein, natürlich nicht!", schoss Shouyou sofort zurück, „Ich weiß, dass er alleine zurecht kommt. Ich habe eben nur das Gefühl, dass ich bei ihm sein sollte, weil…."
Er verstummte einen Moment und bemerkte, dass Tobio ihn einen neugierigen Blick zuwarf. Dann gab er es einfach zu: „… weil ich Angst davor habe, dass etwas passieren könnte, wenn ich nicht da bin. Weil ich nicht da war, als er Unfall passiert ist, und ich erst so spät davon erfahren habe. Und wenn ich da gewesen wäre, dann wäre vielleicht…."
„Baka!", fuhr Tobio ihn an, „Denkst du wirklich, dass du irgendetwas hättest tun können um den Unfall zu verhindern?! Dass nichts von all dem passiert wäre, wenn du dabei gewesen wärst? Was genau hättest du getan um es zu verhindern?! Was hättest du tun können?!"
Shouyou traten Tränen in die Augen. „Ich weiß es nicht, aber ich hätte da sein sollen", murmelte er stur.
„Du hättest nichts tun können!", schnappte Tobio, dann fügte er sanfter hinzu, „Sei kein Idiot, Shouyou, was mir passiert ist, ist nicht deine Schuld, okay? Wie kannst du das nur denken…."
„Wenn ich dich nicht verlassen hätte….", setzte Shouyou erneut an, doch Tobio schüttelte nur den Kopf. „Wenn ich mich auf ein Match konzentriere, dann lenkt mich nichts ab, das weißt du", erwiderte er ernst, „Es gibt viele Dinge in meinem Leben, auf die du Einfluss hattest, aber auf diese eine Sache hattest du keinen Einfluss, okay? … Natürlich hätte ich es vorgezogen, wenn du gleich an meiner Seite gewesen wärst. Weil ich dich immer an meiner Seite haben will. Aber du bist gekommen, als ich dich gebraucht habe. Und nur darauf kommt es an."
Shouyou nickte. „Okay", meinte er leise, „Es tut mir leid."
„Ihre Gefühle müssen Ihnen nicht leid tun, Hinata-san", meinte Dr. Nakamura, „Deswegen sind wir hier: Um über Gefühle zu sprechen, um darüber zu sprechen wie es Ihnen beiden geht und was Sie beide belastet. Wenn etwas Schlimmes passiert, dann ist es nur normal, dass sich diejenigen, die davon nur indirekt betroffen sind, Was wäre wenn-Fragen stellen. Und Schuldgefühle empfinden, weil sie diejenigen sind, die davon gekommen sind. Solche Empfindungen sind normal, aber sie sind auch irrational. Und es ist wichtig beides anzuerkennen - dass es normal, aber auch irrational ist - und sich dem zu stellen, was man empfindet, denn nur dann kann man darüber hinweg kommen."
Shouyou begann zu sehen warum Tobio Dr. Nakamura so zu schätzen gelernt hatte. „Ich will nicht überbesorgt sein", gab er zu, „Aber ich befürchte, ich bin es trotzdem."
„Aber jetzt haben Sie sich und uns eingestanden warum Sie es sind, Hinata-san", erwiderte Dr. Nakamura, „Und das ist der erste Schritt, den Sie gebraucht haben, um Ihre Ängste besiegen zu können."
Und wie sich herausstellte, sollte sie damit recht behalten.
A/N: Ein oder zwei Kapitel werden wohl noch kommmen, man sehen wie viel Raum ich für alles, was noch geplant ist, brauchen werde.
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