2. Kapitel

Author's note: Was um Apoll und aller seiner Musen hat Schönberg verleitet, Javert ausgerechnet zu der Instrumental-Reprise von „Bring him home" nach Valjean suchen zu lassen?

Irgendetwas zwang Javert beinahe magisch zurück zur Barrikade, nachdem sie gefallen war. Seine Schritte hatten ihn heim geführt, nachdem er dem Tod, von dem er sicher gewesen war, daß er kommen würde, auf so unglaubliche Weise entkommen war. Es war keine bewußte Entscheidung gewesen, hierher zurückzukommen, eher ein Automatismus, der ihn zwang, nach Hause zu gehen, um sich dieser albernen Verkleidung zu entledigen und wieder seine Uniform anzuziehen.

Er war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihn auf seine Instinkte zurückgeworfen, und sein stärkster Instinkt war nun einmal der des Jägers. Es war dieser Instinkt, der ihn zurück zur Barrikade zog.

Es lag ein widerlicher Geruch in der Luft, der Gestand von Schießpulver mischte sich mit demjenigen von Blut. Der vom Regen aufgeweichten Straßenstaub bildete eine undefinierbare Mischung mit einer Masse, über deren Konsistenz man lieber nicht zweimal nachdachte.

Javert kletterte über die Reste der Barrikade und begann, sich näher umzusehen. Keiner der Verteidiger der Stellung gab ein Lebenszeichen von sich. Teilweise hingen die Leichen kopfüber zwischen den Teilen, aus denen die Sperre errichtet worden war, teilweise lagen die Toten in grotesk verdrehtem Zustand darum herum.

Es war der Anblick dieser mehrerer Dutzend Leichen, der in Javert plötzlich eine fieberhafte Aktivität erweckte. Er begann, die Toten zu untersuchen, ihre Köpfe anzuheben, um ihre Gesichter sehen zu können. Er mußte einfach diese Gewißheit haben. Einige erkannte er; während er die Studenten beobachtet hatte, war es schließlich Teil seiner Aufgabe gewesen, sie im Auge zu behalten und möglichst viel über sie zu erfahren. Hier war der Kerl mit dem Polentick, Feuilly, dort der Hypochonder Joly. Der Körper von Combeferre hatte sich mit dem Fuß in der Barrikade verfangen und hing sehr unnatürlich kopfüber nach unten. Lesgle, Coufreyrac, Bahorel, nach und nach gelang es Javert, sämtliche Leichen zu identifizieren, die um die Barrikade herumlagen. Sogar diesen lästigen Straßenbengel, der ihn verraten hatte, fand er.

Was er nicht fand, war das, wonach er eigentlich suchte. Keine der Leichen hatte leuchtend weißes Haar, keine trug ein Brandmal auf der Brust.

Javert war nicht sicher – er, der doch immer sicher war! – weswegen er es eigentlich so wichtig fand, nach Valjeans Leiche zu suchen, wo die Jagd doch vorbei war. Entweder war 24601 gestorben oder von hier entkommen, und dann wußte er, wo er ihn suchen mußte.

Trotzdem suchte Javert weiter. Er wußte nicht, was er mehr fürchtete: Valjeans Leiche zu finden, oder sie nicht zu finden. Allein die Vorstellung, daß die nächste Leiche, die er umdrehte, die ihm so vertrauten Gesichtszüge offenbaren würde, legte sich wie eine kalte Hand um den Stein, der sein Herz war.

Er wollte Valjean nicht tot sehen, das war ihm zum ersten Mal bewußt, das hatte er nie gewollt. Zur Strecke gebracht, dorthin transportiert, wohin er gehörte, ja, aber niemals tot.

Und wenn er keine Leiche fand, dann verlangte die Pflicht von Javert, zur Rue Plumet zu gehen, um eine Verhaftung vorzunehmen. Aber wie konnte er das, nach dem, was Valjean vor wenigen Stunden in einem seiner selbstzerstörerischen Anfälle von Märtyrertum getan hatte?

Warum hatte dieser verdammte Dieb nur seine Adresse nennen müssen? Ansonsten hätte Javert einfach glauben können, Valjean sei erneut in dem großen, unübersichtlichen Moloch, der Paris war, untergetaucht.

Weil er will, daß du zu ihm kommst, beantwortete Javert seine Frage selbst und zwang sich dazu, lieber nicht darüber nachzudenken, warum Valjean so etwas wollen sollte.

Ihm dort in seinem Haus gegenüberzutreten, nach allem, was vor wenigen Stunden geschehen war? Nachdem er in Montreuil von sich gewiesen hatte, ein Spitzel zu sein, aber genau bei der Tätigkeit eines Spitzels, denn etwas anderes war sein Aufenthalt auf den Barrikaden nicht gewesen, von Valjean gesehen worden zu sein? Auch so ein quälender Gedanke, der fortgeschoben werden mußte.

Inzwischen hatte Javert die letzten vor der Barrikade liegenden Körper untersucht; es gab dann nur noch eine Möglichkeit, wo sich Valjeans Leiche befinden konnte, wenn er denn tot war.

Javert holte noch einmal tief Atem und betrat die Taverne, die er durchaus nicht zwingend hatte wiedersehen müssen. Die Vorbehalte betrafen gar nicht so sehr seine Gefangenschaft, sondern die Umstände seiner Freilassung.

Die Tische und Stühle lagen wild durcheinander, es roch neben der von draußen bekannten Mischung aus Pulverdampf und Blut zudem noch nach Wein. Es fanden sich hier drinnen nur zwei Leichen, die dicht zusammen an einer Wand lagen. Offenbar waren sie an die Wand gestellt worden. Bei näherem Hinsehen stellte Javert fest, daß es sich um den Anführer der Studenten Enjolras handelte. Der andere Mann war der ewig betrunkene Grantaire. Sie mußten gemeinsam Seite an Seite gestorben sein, und nun im Tod lagen sie in einer friedlichen Umarmung wie ein Liebespaar, das sie womöglich auch gewesen waren.

Diese Vertrautheit erinnerte Javert an Träume, die ihn gequält hatte, die er hatte ignorieren wollen und nicht können…

Mühsam riß er sich von dem Anblick los und wappnete sich innerlich dagegen, was er noch im Hinterzimmer der Taverne vorfinden würde. Erleichtert stellte er fest, daß dieses leer war.

Aber wo war Valjean dann? Wie war es möglich gewesen, dem Ende des Aufstandes zu entkommen?

Und ehe er wußte, was geschah, hatten Javerts Lippen ein kurzes, lautloses Dankgebet geformt, daß er Valjeans Leiche nicht gefunden hatte, auch wenn er einem Besuch in der Rue Plumet nicht gerade mit Begeisterung entgegen sah.

Als Javert die Taverne verließ, fühlte er zum ersten Mal in seinem Leben Dankbarkeit dafür, daß Valjean dieses Talent entwickelt hatte, immer und überall herauszukommen.

Dann fiel sein Blick auf den Zugang zur Kanalisation. Mit einem triumphierenden Lächeln schob er seine Gedanken der vergangenen Augenblicke beiseite und gab sich wieder vollauf seinem Jagdinstinkt hin.

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